L 4 SO 79/17 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 27 SO 38/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 79/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. Mai 2017 verurteilt, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 29. März 2017 bis 30. Juni 2017 Überbrückungsleistungen zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Hälfte seiner zur zweckgerichteten Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab Antragstellung unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin B., B-Straße, B-Stadt, bewilligt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der diese beantragt hat,

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. Mai 2017 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,

ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang erfolgreich.

Die Beschwerde hat Erfolg, soweit das erstinstanzliche Gericht die Antragsgegnerin zur Zahlung von Leistungen, die über die nach § 23 Abs. 3 S. 3 bis 6 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe (SGB XII) zu gewährenden Überbrückungsleistungen hinausgehen, verurteilt hat. Denn nachdem der Antragsteller sein Begehren mit Schriftsatz vom 12. Juni 2017 auf die Erbringung von Überbrückungsleistungen für den Zeitraum vom 29. März bis 30. Juni 2017 beschränkt hat, gibt es für eine über diesen Umfang hinausgehende Verpflichtung der Antragsgegnerin keine Grundlage mehr.

Im Übrigen ist die Beschwerde zwar zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden, aber unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgesetzbuch (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12. Mai 2005, NVwZ 2005, 927, und vom 15. Januar 2007, 1 BvR 2971/06, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des HLSG, bspw. Beschluss vom 29. Januar 2008, L 9 AS 421/07 ER m.w.N., juris). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rdnr. 29a).

Hiervon ausgehend waren die Anforderungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erfüllt.

Der Anspruch des Antragstellers, der bulgarischer Staatsangehöriger ist, auf Gewährung von Überbrückungsleistungen für den ersten Monat des streitgegenständlichen Zeitraums folgt bereits aus § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII. Der Antragsteller gehört zu dem in § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII definierten Personenkreis.

Der Antragsteller erfüllt auch die weiteren Anspruchsvoraussetzungen für die von ihm begehrten Leistungen. Dass er seit dem Inkrafttreten der Vorschrift am 29. Dezember 2016 bereits Überbrückungsleistungen erhalten hat, ist nicht ersichtlich. Weitere Bedingungen für den Erhalt bestehen grundsätzlich nicht. Insbesondere steht dem Sozialhilfeträger schon nach dem Wortlaut der Norm weder ein Ermessen hinsichtlich der Dauer der Leistungserbringung zu noch ist diese davon abhängig, dass der Hilfebedürftige seine Bereitschaft zur Ausreise erklärt. Es kommt an dieser Stelle auch nicht streitentscheidend darauf an, ob ein Antrag, der spezifisch auf die Gewährung von Leistungen nach dem 3. oder 4. Kapitel des SGB XII gerichtet ist, immer als Minus die Forderung nach der Zahlung von Überbrückungsleistungen mit umfasst. Denn einen solchen auf bestimmte Leistungen gerichteten Antrag hat der Antragsteller im vorliegenden Eilverfahren gar nicht gestellt, sondern allgemein "Leistungen nach dem SGB XII" verlangt. Damit hat er hilfsweise zugleich die Erbringung von Überbrückungsleistungen begehrt, da auch diese Leistungen im SGB XII geregelt sind. Dieses Begehren ergibt sich im Übrigen auch aus dem Vortrag im Widerspruchsverfahren.

Aufgrund der gesundheitlichen Situation des Antragstellers sind die Überbrückungsleistungen ausnahmsweise nicht auf einen Monat begrenzt.

Gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII sind Leistungsberechtigten nach Satz 3, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 zu gewähren; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.

Die gesundheitliche Situation des Antragstellers erfordert eine Erbringung von Überbrückungsleistungen für mehr als einen Monat. Dem Antragsteller wurde im September 2015 wegen einer Tumorerkrankung der Kehlkopf entfernt. Seit dieser Operation hat er ein Tracheostoma, d.h. eine operativ angelegte Öffnung der Luftröhre nach außen. Nach der ärztlichen Bescheinigung des Universitätsklinikums Frankfurt Goethe Universität vom 24. Mai 2017 befindet er sich dort derzeit in der ambulanten Tumornachsorge, in deren Rahmen regelmäßig endoskopische und sonographische Untersuchungen durchgeführt werden. Der Senat geht derzeit davon aus, dass eine solche Nachsorge medizinisch zwingend erforderlich ist, um ein mögliches Tumorrezidiv rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Bei dem Antragsteller dürfte nämlich die Gefahr einer bösartigen Tumor(neu)bildung erheblich erhöht sein, unabhängig davon, ob das 2015 entfernte Geschwulst schon bösartig war (in diesem Sinne das Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. med. F. vom 20. April 2016, Bl. 32 der Behördenakte) oder es sich nur um eine unmittelbare Krebsvorstufe handelte ("hochgradige Dysplasie", vgl. den Arztbrief des Universitätsklinikums Frankfurt vom 25. September 2015, Bl. 4 der Behördenakte sowie die amtsärztliche Stellungnahme der Dr. G. vom 6. November 2015).

Damit der Antragsteller in die Lage versetzt wird, sich die nach jetzigem Stand erforderliche Nachsorge in Bulgarien auch tatsächlich zu beschaffen, bedarf es weiterer Abklärungen, was eine Verlängerung der Übergangsleistungen bis jedenfalls Ende Juni 2017 rechtfertigt. Nach den seitens der Antragsgegnerin vorgelegten Unterlagen der Europäischen Kommission (Bl. 58 bis 62 der Gerichtsakte) bleibt unklar, ob der Antragsteller im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien trotz der dortigen Pflichtversicherung (vgl. Bl. 58 der Gerichtsakte) auch ohne Beitragszahlung – entsprechende Beiträge könnte er wohl nicht erbringen - Krankenversicherungsschutz erhielte. Denn nach den Angaben in dem überreichten Informationsblatt (s. Bl. 58 der Gerichtsakte) kann von den allgemeinen Leistungen der Gesundheitsversorgung nur Gebrauch machen, wer "ununterbrochenen Versicherungsschutz" aufweist, welcher nur vorliegt, wenn innerhalb von 36 Monaten weniger als drei Beiträge unbezahlt sind. Könnte der Antragsteller sich nicht in Bulgarien krankenversichern, würde ihm, abgesehen von hier nicht einschlägigen besonderen Leistungen, nur medizinische Nothilfe gewährt (s. Bl. 60 der Gerichtsakte). Die hier gebotenen Nachsorgeuntersuchungen dürften keine solchen Nothilfeleistungen darstellen.

Die Antragsgegnerin wird daher im weiteren Verfahren zu klären haben, ob der Antragsteller im Fall der Rückkehr nach Bulgarien dort krankenversichert wäre. Dem Senat ist im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens aus Zeitgründen eine weitere diesbezügliche Aufklärung nicht möglich. Könnte der Antragsteller in Bulgarien mit zumutbaren Bemühungen Mitglied der dortigen Krankenversicherung werden und in diesem Rahmen deren reguläre Leistungen in Anspruch nehmen, hätte er nach den derzeit vorhandenen Informationen wohl auch grundsätzlich die Möglichkeit, medizinisch notwendige Nachsorgeuntersuchungen zu erhalten. Eine besondere Härte würde die Ausreise dann voraussichtlich nicht mehr darstellen.

Der Anordnungsgrund folgt daraus, dass es sich um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums handelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Auch die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren lagen vor.

Gemäß § 73a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ist einem Beteiligten auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Anforderungen sind vorliegend erfüllt. Die hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung ergeben sich aus den vorgenannten Ausführungen. Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe waren ebenfalls gegeben. Die Bewilligung hatte, in Anbetracht der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers, wie sie sich aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 28. März 2017 ergeben, ratenfrei zu erfolgen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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