L 19 AS 1131/17 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 1558/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1131/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 09.06.2017 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zu 1) vorläufig ab dem 31.05.2017 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30.09.2017, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 186,00 Euro monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 1) in beiden Rechtszügen.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Die Antragsteller sind polnische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 2) (geboren am 00.00.2008), 3) (geboren am 00.00.2008) und 4) (geboren am 00.00.2016) sind Kinder der am 00.00.1975 geborenen Antragstellerin zu 1). Die Antragsteller zu 2) und zu 3) besuchen die Grundschule.

Die Antragstellerin zu 1) reiste am 20.06.2014 gemeinsam mit den Antragstellern zu 2) und 3) sowie ihrem damaligen Lebensgefährten Herrn X (Herr W.) in die Bundesrepublik ein. Herr W. ist leiblicher Vater des Antragstellers zu 4), nicht der Antragssteller zu 2) und zu 3).

Die Antragstellerin zu 1) war in der Zeit vom 08.10.2014 bis 20.01.2015 bei der Q GmbH und in der Zeit vom 04.03.2015 bis 13.09.2015 bei der G GmbH & Co KG sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Herr W. war in der Zeit vom 02.05.2014 bis 15.11.2014 bei der L-Montage GmbH sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Nach einer betriebsbedingten Kündigung nahm er ab dem 16.11.2014 bis zum 02.03.2017 eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei der Industriemontagen O GmbH auf. Zuletzt sah der Arbeitsvertrag eine 40-Stunden-Woche zu einem Stundenlohn von 10 Euro vor. Er beendete das Arbeitsverhältnis mit einem Aufhebungsvertrag, da seinem Wunsch auf eine der Arbeitsleistung angemessene Bezahlung seitens des Arbeitgebers nicht entsprochen wurde. Derzeit erhält Herr W. Arbeitslosengeld und für die Zeit vom 12.06. bis 04.12.2017 Leistungen für die Teilnahme an einer Weiterbildung seitens der Bundesagentur für Arbeit.

Die Antragsteller zu 1) bis zu 3) sowie Herr W. beantragten erstmals am 05.01.2015 Leistungen nach dem SGB II, die ihnen unter Anrechnung des jeweiligen Einkommens auch gewährt wurden. Nach der Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses der Antragstellerin zu 1) bei der G GmbH & Co KG zum 13.09.2015 und der Trennung von Herrn W., der am 10.09.2015 aus der gemeinsamen Wohnung auszog, beantragte die Antragstellerin zu 1) Leistungen nach dem SGB II, die ihr teilweise gewährt wurden.

In der Zeit vom 23.04. bis 31.10.2016 war die Antragstellerin zu 1) bei der D GmbH in einem befristeten Arbeitsverhältnis beschäftigt. Der Arbeitsvertrag sah einen Stundenlohn von 8,50 Euro, maximal 450 Euro, vor. Wegen der Schwangerschaft hatte die Antragstellerin ab dem 09.05.2016 ein Beschäftigungsverbot. Am 14.11.2016 wurde der Antragsteller zu 4) geboren. Die Antragstellerin zu 1) bezieht monatlich Elterngeld i.H.v. 150,00 Euro und Kindergeld i.H.v. insgesamt 582,00 Euro. Für die Antragssteller zu 2) und zu 3) erhält die Antragstellerin zu 1) jeweils 105,00 Euro monatlich Unterhaltsvorschuss von der polnischen Unterhaltsvorschusskasse sowie für den Antragsteller zu 4) Unterhalt i.H.v. 100,00 Euro monatlich von Herrn W.

Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 16.03.2017 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 22.03.2017 den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II i.H.v. 925,00 EUR für den Zeitraum 01.04. bis 30.04.2017. In dem Bescheid wies er darauf hin, der Leistungsanspruch nach § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU sei auf den 30.04.2017 begrenzt, da ein Aufenthaltsrecht wegen der Befristung des Arbeitsverhältnisses bei der D GmbH zum 31.10.2016 nur bis April 2017 reiche. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Nach einem Anruf am 25.04.2017 der Antragstellerin zu 1) erläuterte der Antragsgegner mit Schreiben vom 25.04.2017 erneut, weshalb ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II über den 30.04.2017 nicht in Betracht komme. Mit Bescheid vom 26.04.2017 setzte der Antragsgegner die Leistungen endgültig fest.

Am 27.04.2017 sprach die Antragstellerin zu 1) bei dem Antragsgegner vor und fragte nochmals nach, weshalb ihr ab Mai 2017 keine Leistungen mehr ausgezahlt würden.

Am 15.05.2017 legte die Antragstellerin zu 1) gegen das Schreiben vom 25.04.2017 Widerspruch ein. Dieser Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23.05.2017 als unzulässig zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin zu 1) am 31.05.2017 Klage erhoben. Das Verfahren wird unter dem Aktenzeichen S 5 AS 1603/17 geführt.

Gleichzeitig haben die Antragsteller den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt mit dem Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen ab dem Tag der Antragstellung beim Sozialgericht, längstens bis zum 30.09.2017 vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 928,83 Euro zu bewilligen.

Mit Beschluss vom 09.06.2017 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab dem Tag der Antragstellung bei Gericht (31.05.2017) komme mangels eines streitigen Rechtsverhältnisses nicht in Betracht. Der Antragsgegner habe den Antragstellern auf die Weiterbewilligungsanträge vom 27.01.2017, 08.02.2017, 22.02.2017 und 16.03.2017 mit Bescheid vom 23.03.2017 vorläufig gemäß § 41a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.04. bis 30.04.2017 in Höhe von 928,83 Euro gewährt. Zugleich habe er die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.05.2017 abgelehnt. Der Bescheid enthalte den ausdrücklichen Hinweis, dass die Bewilligung der Leistungen auf dem 30.04.2017 begrenzt sei, da die Antragstellerin zu 1) gemäß § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU in Verbindung mit § 7 SGB II nach unfreiwilliger Arbeitslosigkeit im Anschluss an eine Beschäftigung von weniger als einem Jahr lediglich 6 Monate Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Dann habe der Antragsgegner mit Änderungsbescheid vom 26.04.2017 den Bescheid vom 23.03.2017 aufgehoben und die Leistungen für April 2017 endgültig in Höhe von 925,26 Euro festgesetzt. Sogleich habe er damit die Leistungsgewährung für die Zeit ab dem 01.05.2017 endgültig abgelehnt. Die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass sie gegen die endgültige Festsetzung vom 26.04.2017 innerhalb der Widerspruchsfrist Widerspruch eingelegt hätten. Auch der am 31.05.2017 anhängig gemachte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ersetze den fehlenden Widerspruch nicht. Der Bescheid vom 26.04.2017 sei auch nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen das Schreiben des Antragsgegners vom 25.04.2017 geworden. Hierbei handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Der Änderungsbescheid vom 26.04.2017 sei damit bestandskräftig und gemäß § 77 SGG für die Beteiligten bindend geworden.

Gegen den am 12.06.2017 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 12.06.2017 Beschwerde eingelegt. Es könne dahinstehen, ob das Schreiben vom 25.04.2017 eine selbstständige Regelung hinsichtlich der Leistungsgewährung ab Mai enthalte. Jedenfalls habe die Antragstellerin zu 1) durch ihre persönlichen Vorsprachen nochmals bekräftigt, dass sie Leistungen ab Mai 2017 begehre. Dieser Antrag sei bisher noch nicht beschieden. Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen die mit Antrag beim Sozialgericht Gelsenkirchen vom 31.05.2017 beantragten Leistungen vorläufig im Wege der einstweiligen Anordnung zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Der Antragsgegner hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.

Die zulässige Beschwerde ist nur im tenorierten Umfang begründet. Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Bedarfe nach § 22 SGB II (A). Die Antragsteller zu 2) bis zu 4) haben keinen Anordnungsanspruch betreffend die Bewilligung von Sozialgeld in Form der Regelbedarfe glaubhaft gemacht (B). Die Antragstellerin zu 1) hat einen Anspruch auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Alg II in Form des Regelbedarfs nach § 20 SGB II (C).

Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R und Beschluss vom 08.08.2001 -B 9 V 23/01 B).

A) Hinsichtlich der Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung im Sinne von § 22 SGB II fehlte es an der Glaubhaftmachung einer akuten Gefährdung der Unterbringung der Antragsteller. Schutzgut der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung im Sinne von § 22 SGB II ist die Deckung des elementaren Bedarfes, eine Unterkunft zu haben. Der Anordnungsgrund bei der einstweiligen Zuerkennung von unterkunftsbezogenen Grundsicherungsleistungen nach § 86b Abs. 2 SGG ergibt sich demzufolge weder aus der Vermeidung von Mietschulden/Mehrkosten noch aus dem Risiko einer im Zeitablauf schwieriger werdenden Abwendung eines Wohnungsverlustes, sondern aus der konkret und zeitnah drohenden Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit (vgl. hierzu etwa Beschlüsse des Senats vom 22.06.2016 - L 19 A 721/16 B ER und vom 05.05.2014 - L 19 AS 632/14 B ER m.w.N.).

Ein Anordnungsgrund ist damit im Regelfall erst bei Nachweis der Rechtshängigkeit einer Räumungsklage gegeben. Selbst eine fristlose Kündigung reicht für die Bejahung der Eilbedürftigkeit regelmäßig nicht aus (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 02.09.2015 - L 19 AS 1382/15 B ER m.w.N.). Dies ist im Hinblick auf den gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismus zur Abwendung eines drohenden Wohnungsverlustes wegen Mietrückständen auch verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30.07.2007 - 1 BvR 535/07 unter Hinweis auf § 22 Abs. 5 S. 1 und 2, Abs. 6 SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung, seither § 22 Abs. 9 SGB II; vgl. auch §§ 543 Abs. 1, 2 S. 1 Nr. 3, 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB). Solche Umstände sind von den Antragstellern weder vorgetragen worden noch aus den Akten ersichtlich.

B) Die Antragssteller zu 2) bis zu 4) haben einen Anordnungsanspruch auf Sozialgeld in Form des Regelbedarfs nach §§ 19 Abs. 1 S. 2, 23 Nr. 1 SGB II nicht glaubhaft gemacht.

Die Antragssteller zu 2) bis zu 4) sind nicht hilfebedürftig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II. Ihre monatlichen Regelbedarfe i.H.v. 291,00 Euro bzw. 237,00 Euro sind durch das nach § 11 Abs. 1 S.1 und 5 SGB II bei ihnen zu berücksichtigende Einkommen gedeckt. Bei den Antragstellern zu 2) und zu 3) ist jeweils Einkommen i.H.v. insgesamt 297,00 Euro (105,00 Euro Unterhaltsvorschuss + 192,00 Euro Kindergeld) und beim Antragsteller zu 4) ein Einkommen i.H.v. insgesamt 298,00 Euro (100,00 Euro Unterhalt + 198,00 Euro Kindergeld) zu berücksichtigen.

C) Die Antragstellerin zu 1) hat sowohl einen Anordnungsanspruch (1) als auch einen Anordnungsgrund (2) für die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Alg II in Form des Regelbedarfs nach § 20 SGB II i.H.v. 186,00 Euro monatlich glaubhaft gemacht.

1) Der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs steht nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 26.04.2017 bzw. eine fehlende Antragstellung nach § 37 Abs. 1 S. 1 SGB II für die Zeit ab dem 01.05.2017 entgegen. Die Antragstellerin zu 1) hat am 27.04.2017 bei dem Antragsgegner persönlich vorgesprochen, so dass von einer erneuten Antragstellung auf Leistungen ab Mai 2017 auszugehen ist. Dieser Antrag ist bisher von dem Antragsgegner noch nicht beschieden worden.

Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S.1 SGB II sind gegeben (a). Die Antragstellerin zu 1) ist nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (b).

a) Die Antragstellerin zu 1) hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist auch hilfebedürftig im Sinne von §§ 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 SGB II. Ihren monatlichen Regelbedarf i.H.v. 409,00 Euro nach § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II wird nur teilweise durch das zu berücksichtigende Einkommen i.H.v. 223,00 Euro (150,00 Euro Elterngeld + 73,00 Euro überschießendes Kindergeld) gedeckt. Im Hauptsacheverfahren geschützte Freibeträge nach § 11b SGB II finden im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich keine Berücksichtigung, vielmehr müssen sie zur Deckung des aktuellen Bedarfes regelmäßig ausgeschöpft werden (Beschluss des Senats vom 13.04.2017 - L 19 AS 111/17 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17.04.2015 - L 4 AS 137/15 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.07.2015 - L 13 AS 205/15 B ER). Die Antragstellerin zu 1) hat glaubhaft versichert, sonst keine Einkünfte zu haben.

b) Die Antragstellerin zu 1) wird vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht erfasst.

Dabei kann dahinstehen, ob der Leistungsauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 c) SGB II gegen europäischen Gemeinschaftsrecht verstößt (bejahend LSG NRW, Beschluss vom 12.07.2017 - L 12 AS 596/17 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.02.2017 - L 6 AS 11/17 B ER; verneinend LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.03.2017 - L 2 AS 127/17 B ER) und im Hinblick auf dessen Unvereinbarkeit mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV i.V.m. Art. 4 VO 883/2004/EG, Art. 7 VO 492/11/EU Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege der einstweiligen Anordnung zu gewähren sind (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 - 2 BvR 2013/16).

Denn schon der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 a) SGB II erfasst die Antragstellerin zu 1) nicht, weil sie ein (materielles) Aufenthaltsrecht hat.

Diese Ausschlussregelung erfordert eine fiktive Prüfung des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum bestehende Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU, welches die Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern in nationales Recht umsetzt, darüber hinaus, ob ein Aufenthaltsrecht nach den gemäß § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU im Wege eines Günstigkeitsvergleichs anwendbaren Regelungen des AufenthG (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R -, BSGE 113, 60) besteht.

Zwar kann sich die Antragstellerin zu 1) nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU berufen. Die Voraussetzungen der Aufenthaltsrechte aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU liegen nicht vor. Die Antragstellerin zu 1) übt seit der Beendigung des vom 23.04.2016 bis 31.10.2016 befristeten Beschäftigungsverhältnisses bei der D GmbH keine (abhängige oder selbständige) Tätigkeit aus (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FreizügG/EU) und hält sich nicht zu dem Zwecke auf, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 FreizügG/EU). Sie verfügt nicht über ausreichende Existenzmittel, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU) und ist auch nicht einem freizügigkeitsberechtigten Familienmitglied nachgezogen (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m § 3 FreizügG/EU). Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht liegen für die am 20.06.2014 in die BRD eingereiste Antragstellerin zu 1) ebenfalls nicht vor (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU).

Die Antragstellerin zu 1) kann sich über den 30.04.2017 hinaus auch nicht auf ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht nach Beschäftigungsaufgabe gem. § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 oder S. 2 FreizügG/EU berufen. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das Recht zum Aufenthalt als Arbeitnehmer bei unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr unberührt. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, weil die letzte Beschäftigung der Antragstellerin zu 1) lediglich vom 23.04.2016 bis 31.10.2016, mithin nur ca. sechs Monate und nicht mehr als ein Jahr, dauerte. Die Beschäftigungsdauer von einem Jahr wird auch nicht unter Berücksichtigung der vorherigen Beschäftigungsverhältnisse der Antragstellerin zu 1) erreicht, da diese Tätigkeiten jeweils durch Zeiträume unterbrochen waren, die länger als zwei Wochen dauerten (vgl. zur Aufrechterhaltung des Freizügigkeitsrechts durch unterbrochene Tätigkeiten BSG, Terminbericht Nr. 30/17 Ziffer 2 zu B 4 AS 17/16 R). Nach § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU bleibt das Recht zum Aufenthalt als Arbeitnehmer bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Diese Frist endete - wie der Antragsgegner zutreffend festgestellt hat - am 30.04.2017.

Ein Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin zu 1) über diesen Zeitpunkt hinaus folgt auch nicht aus ihrer Schwangerschaft und der Geburt des Antragstellers zu 4) am 14.11.2016. Die Rechtsprechung des EuGH, wonach eine Unionsbürgerin bei durch eine Schwangerschaft bedingter Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit ihre Arbeitnehmereigenschaft nicht verliert, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet (EuGH, Urteil vom 19.06.2014 - C-507/12 -, juris Rn. 44), begründet keinen über den 30.04.2017 hinausgehenden Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin zu 1).

Schon nicht erkennbar ist, dass die Antragstellerin zu 1) ihren Arbeitsplatz "aufgrund" ihrer Schwangerschaft verloren hat. Denn ihr Arbeitsverhältnis war - unabhängig von der Schwangerschaft - bis zum 31.10.2016 befristet. Selbst wenn der Antragstellerin zu 1) zum Zeitpunkt der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses eine Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen durch die Schwangerschaft nicht mehr zumutbar war, bliebe der Arbeitnehmerstatus unter Zugrundelegung der europarechtlichen Rechtsprechung nur erhalten, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufgenommen oder eine andere Beschäftigung gefunden hätte (EuGH, a.a.O., juris Rn 41; vgl. auch EuGH, Urteil vom 29.04. 2004 - C-482/01 -, juris Rn 50). Dies ist war bei der Antragstellerin zu 1) nicht - auch nicht unter Berücksichtigung der Mutterschutzfristen - der Fall (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.01.2017 - L 20 AS 2483/16 B ER).

Der Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin zu 1) bleibt schließlich auch nicht deswegen erhalten, weil diese im Anschluss an die Zeit des Mutterschutzes Elterngeld bezogen hat bzw. noch bezieht. Der Bezug von Elterngeld hat keine Auswirkungen auf die Arbeitnehmereigenschaft. Elterngeld wird unabhängig von einer zuvor bestehenden Erwerbstätigkeit allen Eltern gewährt, die nach der Geburt ihr Kind selbst betreuen und höchstens 30 Stunden in der Woche arbeiten (§ 1 Abs. 1 und 6 BEEG). Anders als die Vorschriften des Mutterschutzgesetzes, die eine Berufstätigkeit der Mutter vorübergehend verbieten, treffen die Vorschriften des BEEG insoweit keine einschränkenden Regelungen. Das Elterngeld soll es zwar einfacher machen, vorübergehend ganz oder teilweise auf eine Erwerbstätigkeit zu verzichten, um mehr Zeit für die Betreuung des Kindes zu haben und schafft einen Anreiz, die Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung eines Kindes vorübergehend zu unterbrechen (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2011 - B 10 EG 17/09 R -, juris Rn. 63), es setzt einen Verzicht auf eine Berufstätigkeit aber nicht voraus. Anders als die gesetzlich in § 2 Abs. 3 FreizügG/EU geregelten Fälle eines unfreiwilligen Verlustes des Arbeitsplatzes oder einer vorübergehenden krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit, stellt sich die Entscheidung, Elterngeld anstelle und nicht neben einer (Teilzeit)Berufstätigkeit zu beziehen, als freie Entscheidung dar und ist somit eher mit einer auf einer freien Entscheidung beruhenden Aufgabe des Arbeitsverhältnisses und damit Aufgabe der Arbeitnehmereigenschaft vergleichbar als mit den gesetzlich geregelten Fällen eines unfreiwilligen Verlustes der Erwerbstätigkeit (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., juris Rn. 27).

Jedoch steht der Antragstellerin zu 1) nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU. i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 AEUV zu.

Soweit Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern nach § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. den Vorschriften des AufenthG zu prüfen sind, ist es nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R -, BSGE 113, 60) unerheblich, ob dem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel nach dem AufenthG tatsächlich erteilt worden ist. Entscheidend ist vielmehr, ob ihm ein solcher Titel zu erteilen wäre. Nach § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU findet das AufenthG vorrangig vor dem FreizügG/EU Anwendung, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das FreizügG/EU (vgl. hierzu VGH Hessen, Urteil vom 16.11.2016 - 9 A 242/15). § 28 Abs. 1 AufenthG sieht vor, dass einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge - auch ohne Existenzsicherung i.S.v. § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG - eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG findet aufgrund des in Art. 18 AEUV statuierten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf minderjährige Unionsbürger und ihre Eltern Anwendung (vgl. Beschlüsse des Senats vom 30.11. 2015 - L 19 AS 1713/15 B ER, vom 20.01.2016 - L 19 AS 1824/15 B ER und vom 22.06.2016 - L 19 AS 924/16 B ER; Urteil des Senats vom 01.06.2015 - L 19 AS 1923/14; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2016 - L 25 AS 1331/16 B ER; Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 11 FreizügG/EU, Rn. 38f; a. A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2017 - L 31 AS 1000/17 B ER; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Stand Dezember 2013, § 11 FreizügG/EU Rn. 107).

Die Antragstellerin zu 1) übt das Sorgerecht für den Antragsteller zu 4) - einen minderjährigen Unionsbürger - aus. Aus dieser Rechtsstellung kann sie unter Berücksichtigung des in Art. 18 AEUV statuierten Inländergleichbehandlungsgebotes ein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG ableiten, wenn der Antragsteller zu 4) selbst ein materielles Aufenthaltsrecht hat. Dies ist der Fall, denn der. Antragsteller zu 4) hat ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Daher kann dahinstehen, ob dem Antragsteller zu 4) auch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger nach § 3 Abs. 2 Nr.1 FreizügG/EU zusteht.

Der Antragsteller zu 4) ist nach §§ 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1a, 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil sein im Bundesgebiet lebender Vater, der aufenthaltsberechtigter polnische Staatsangehörige W., ihm Unterhalt gewährt. Ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger gewährt einem Familienangehörigen Unterhalt, wenn er ihm tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 03.01.2017 - 8 PA 209/16 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom. 20.10.1993 - 11 C 1.93 -, BVerwGE 94, 239, 242 f. zu § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG; Nr. 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU - AVV FreizügG/EU - [GMBl. 2016, 86]; siehe auch LSG NRW, Beschluss vom 28.05.2015 - L 7 AS 372/15 B ER, L 7 AS373/15 B). Der Nachweis der Unterhaltsgewährung obliegt dem Familienangehörigen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.01.2007 - C-1/05).

Der Vater des Antragstellers zu 4), Herr W., kann sich trotz derzeit bestehender Arbeitslosigkeit auf das Freizügigkeitsrecht wegen Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU berufen, da er eine von der Bundesagentur für Arbeit finanzierte Weiterbildungsmaßnahme durchführt und somit nach fachlicher Einschätzung die begründete Aussicht künftiger erneuter Beschäftigung besteht.

Wegen der freiwilligen Arbeitsaufgabe des Herrn W. bei der Firma Industriemontagen O GmbH zu März 2017 besteht ein fortwirkender Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU dagegen nicht. Die Antragstellerin zu 1) hat auch gegenüber dem Antragsgegner belegt, dass Herr W. regelmäßig einen monatlichen Unterhalt für den Antragsteller zu 4) i.H.v. 100,00 Euro leistet. Dieser Betrag entspricht 42% des maßgeblichen Regelbedarfs von 237,00 Euro bzw. ca. 30% des Bedarfssatzes nach der Düsseldorfer Tabelle. Daher sind diese Unterhaltsleistungen auch von ihrem Umfang her geeignet, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts des Antragstellers zu 4) zu decken, und es liegt damit eine Unterhaltsgewährung i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU vor.

Die Leistungsauschlüsse des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 b) und c) SGB II sind nicht einschlägig, da die Antragstellerin zu 1) über ein anderes Aufenthaltsrecht als zur Arbeitssuche bzw. aus Art. 10 VO 492/11/EU verfügt.

2) Im Hinblick auf fehlende Eigenmittel zur Deckung des Regelbedarfs ist ein Anordnungsgrund gegeben.

Hinsichtlich der Dauer der Verpflichtung des Antragsgegners orientiert sich der Senat an der regelmäßigen Dauer einer vorläufigen Leistungsbewilligung von sechs Monaten (§ 41 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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