L 31 AS 1318/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 66 AS 7242/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 1318/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 2 Abs 2 und 3 FreizügG/EU schützt allein eine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt, die tatsächlich bestanden hat und nicht eine nicht in Vollzug gesetzte Vereinbarung.
Ist reisefähigen Inhaberinnen eines sog. "Schengentitels" bei Schwangerschaft oder nach der Geburt die Rückreise in das Ausstellerland nach der Verwaltungspraxis der Ausländerbehörde zumutbar, ist nicht ersichtlich, warum nicht auch reisefähige Unionsbürgerinnen in ihr Heimatland zurückkehren könnten.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 2017 aufgehoben. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Den Antragstellerinnen wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung der aus dem Rubrum ersichtlichen Rechtsanwältin K bewilligt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde (§ 172 Sozialgerichtsgesetz – SGG) des Beschwerdegegners ist begründet, da die Antragstellerinnen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) haben. Die Antragstellerin zu 1) kann ihr Aufenthaltsrecht lediglich aus dem Recht zur Arbeitssuche ableiten, mit dem sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II allerdings von Sozialleistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Der Antragstellerin zu 1) kommt weder der Status einer Arbeitnehmerin zu noch kann sie ein anderes Aufenthaltsrecht neben dem zur Arbeitssuche geltend machen.

In ihrem Antrag vom 27. Januar 2017 gab die 1994 geborene Antragstellerin an, im November 2015 erstmalig nach Deutschland eingereist zu sein. Sie sei rumänischer Staatsangehörigkeit. Weiter gab sie an, zunächst in der Bedarfsgemeinschaft ihres Vaters gelebt zu haben, die sie allerdings wegen ihres Alters habe verlassen müssen.

Unter dem 1. Dezember 2015 schloss sie einen Arbeitsvertrag als Reinigungskraft in einem Umfang von 20 Stunden monatlich. Nach ihren Angaben beendete sie das Arbeitsverhältnis im Juli 2016 (Kündigung vom 1. Juli 2016 zum 31. Juli 2016) und kehrte nach Rumänien zurück, um dort "nach Brauchtum" zu heiraten. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass der Mann bereits verheiratet gewesen sei.

Im Januar 2017 kehrte sie nach Berlin zurück und beantragte Leistungen nach dem SGB II.

Mit Bescheid vom 16. Februar 2017 blieb dem Antrag der Erfolg versagt, da die Antragstellerin zu 1) von Leistungen ausgeschlossen sei, weil sie ihr Aufenthaltsrecht nur aus dem Recht zur Arbeitssuche ableisten könne.

Im Widerspruchsschreiben vom 27. Februar 2017 machte sie geltend, dass sie krank und schwanger gewesen sei, als man ihr gekündigt habe. Sie legte das Kündigungsschreiben vom 1. Juli 2016 bei.

Dem Widerspruch blieb mit zurückweisendem Widerspruchsbescheid vom 11. April 2017 der Erfolg versagt. Zur Begründung führte der Antragsgegner unter anderem aus, dass die Antragstellerin zu 1) im Juli 2016 zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht schwanger gewesen sei. Es sei daher nicht von einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit auszugehen, so dass kein nachwirkender Schutz des Arbeitnehmerstatus bestehe.

Im März 2017 legte die Antragstellerin zu 1) im Rahmen einer Veränderungsmitteilung den Arbeitsvertrag vom 24. März 2017 als Reinigungskraft vor, nach welchem sie 9,25 Stunden in der Woche arbeiten sollte. Zur tatsächlichen Arbeitsleistung kam es entsprechend einer Verdienstbescheinigung vom 31. März 2017 nur in einem Umfang von 92,50 EUR. Die Kündigung erfolgte am 5. April 2017 zum 17. April 2017. Die Bundesagentur für Arbeit bescheinigte unfreiwillige Arbeitslosigkeit (Bescheinigung vom 10. Mai 2017).

Mit Bescheid vom 16. Mai 2017 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II erneut ab.

Am 13. Juni 2017 wurde die Antragstellerin zu 1) von ihrer Tochter, der Antragstellerin zu 2), entbunden.

Mit Beschluss vom 21. Juni 2017 hat das Sozialgericht Berlin den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellerinnen für den Zeitraum vom 6. Juni 2017 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. August 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 587,59 EUR für Juni 2017 und in Höhe von 793,24 EUR für Juli und August 2017 zu zahlen sowie die ab dem 8. Juli 2017 anfallenden Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 40,00 EUR täglich bis zum 31. August 2017, längstens für die Dauer des tatsächlichen Aufenthalts an das Erstaufnahmeheim T zu zahlen. Weiter verpflichtete es den Antragsgegner vorläufig die Kosten für die Erstausstattung bei Geburt in Höhe von 526,00 EUR zu zahlen.

Gegen den ihm am 21. Juni 2017 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 26. Juni 2017 Beschwerde eingelegt. Er macht geltend, dass zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausgeübt worden sein müsse. Hier sei davon auszugehen, dass die Antragstellerin zu 1) nur einmalig 9,25 Stunden gearbeitet habe, auch wenn der Arbeitsvertrag vom 24. März 2017 förmlich bis zum 17. April 2017 bestanden habe. Auf die von der Bundesagentur für Arbeit ausgestellte Bescheinigung vom 10. Mai 2017, dass unfreiwillige Arbeitslosigkeit bestätigt werden könne, komme es daher nicht an.

Die Antragstellerin zu 1) macht weiter geltend, dass sie sich auf einen Arbeitnehmerstatus berufen könne, da sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag inne gehabt habe. Im Übrigen könne sie sich auf ein weiteres Aufenthaltsrecht berufen, da davon auszugehen sei, dass die Ausländerbehörde in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem errechneten Entbindungstermin sowie drei Monate nach dem Tag der Entbindung regelmäßig eine Duldung erteile und Ausreisepflichten nicht vollzogen würden. Derzeit könne die Antragstellerin zu 1) wegen der Vorschriften des Mutterschutzes ohnehin nicht arbeiten.

Der Beschwerde des Antragsgegners war stattzugeben, da sich die Antragstellerin zu 1) nicht auf einen (nachwirkenden) Status als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 und 3 Freizügigkeitsgesetz/EU beziehen kann. Nach den Beschlüssen des Senats vom 18. März 2016, L 31 AS 248/16 B ER, vom 17. Februar 2015, L 31 AS 3100/14 B ER, zitiert nach juris und vom 19. September 2016, L 31 AS 2058/16 B ER reicht ein Umfang einer Tätigkeit von etwa einer Stunde täglich, bzw. sieben Stunden wöchentlich oder 20 Stunden monatlich nicht aus, um die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen. Eine solche Tätigkeit ist unwesentlich und untergeordnet. Sie vermittelt keinen schützenswerten Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt. Damit folgt weder aus dem Vertrag vom 1. Dezember 2015 noch aus dem vom 24. März 2017 die Arbeitnehmereigenschaft. Damit entfällt auch nachwirkender Schutz.

Dabei ist nach Auffassung des Senats auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen und nicht auf den nicht vollzogenen schriftlichen Arbeitsvertrag. Die Arbeiternehmereigenschaft setzt die Ausübung einer tatsächlichen Beschäftigung voraus. Der Abschluss eines Arbeitsvertrages, der nicht vollzogen worden ist – oder wie hier nur in einem geringen Umfang von insgesamt 9,25 Stunden – reicht nicht aus. § 2 Abs. 3 Satz 2 Freizügigkeitsgesetz/EU schützt allein eine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt, die tatsächlich bestanden hat, und nicht eine nicht in Vollzug gesetzte Vereinbarung. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob es sich nicht ohnehin um ein Scheinarbeitsverhältnis gehandelt hat.

Die Antragstellerin zu 1) kann sich auch nicht auf ein weiteres Aufenthaltsrecht neben dem zur Arbeitssuche berufen. Ob die Duldung überhaupt als materielles Aufenthaltsrecht im Sinne des Regelungszusammenhangs des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesehen werden kann, ist fraglich. Jedenfalls löst die Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz, auf die sich die Antragstellerin zu 1) berufen will, Leistungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 Asylbewerberleistungsgesetz aus. Für solche Leistungen ist der Antragsgegner aber nicht zuständig. Jedenfalls solange eine solche Duldung der Ausländerbehörde noch nicht erteilt ist, spricht aber alles dafür, dass einer reisefähigen Unionsbürgerin ebenso wie der Inhaberin eines Schengentitels die Rückreise in das Herkunftsland zumutbar ist (zur grundsätzlichen Zumutbarkeit einer Rückkehr: Beschluss des Senats vom 9.Juni 2016, L 31 AS 1158/ 16 B ER; Beschluss des Landessozialgerichts Mecklenburg vom 7. Juli 2016, L 9 SO 12/16 B ER, Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. April 2016, S 92 AS 359/16 ER, alle zitiert nach juris).

In den von der Antragstellerin zutreffend zitierten Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde zum Thema Ausreisepflicht, Schwangerschaft, Mutterschutz und Duldung ist zwar festgeschrieben, dass die Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung und damit auch eine Inhaftnahme drei Monate vor dem errechneten Entbindungstermin sowie drei Monate nach dem Tag der Entbindung regelmäßig entfalle. Nach den von der Antragstellerin zitierten "aktuellen Verfahrenshinweisen" gilt dies jedoch nicht, wenn eine medizinische Versorgung in einem anderen Schengen-Staat erfolgen kann. Eine Duldungserteilung kommt danach in diesen Fällen nur in Betracht, wenn ein qualifiziertes ärztliches Attest die Reiseunfähigkeit nachprüfbar bestätigt. Damit steht fest, dass sich Ausländerinnen, die ihr Aufenthaltsrecht aus einem Schengen-Titel ableiten, der in einem anderen Land als Deutschland ausgestellt wurde, bei Reisefähigkeit darauf verweisen lassen müssen, dorthin zurückzukehren.

Zu dem hier angesprochenen Personenkreis, bei dem es sich nur um Ausländerinnen aus Drittstaaten handeln kann, die nicht zur EU oder zu den Vertragsstaaten des Schengenabkommens gehören und deshalb einen Aufenthaltstitel nach dem Schengenabkommen benötigen, um im Schengenraum frei reisen zu können, gehört die Antragstellerin zu 1) ohnehin nicht, da sie als EU-Ausländerin und Unionsbürgerin nach § 2 Abs. 4 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU weder zur Einreise noch zum Aufenthalt in Deutschland eines Visums oder eines Aufenthaltstitels bedarf. Erst recht benötigt sie keinen Schengentitel, um in ihr Heimatland Rumänien zurückkehren zu können. Es ist darauf hinzuweisen, dass der "Schengenraum" und die EU weder geografisch noch von den Mitgliedsstaaten her identisch sind. Mitgliedsstaaten der EU wie zum Beispiel Rumänien gehören nicht zu den Staaten des Schengenabkommens, während einige EFTA-Staaten nicht Mitglied der EU, wohl aber Vertragspartner des Schengenabkommens sind. Die Einzelheiten sind jederzeit auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes abzurufen.

Ist reisefähigen Inhaberinnen eines Schengentitels die Rückreise in das Ausstellerland zumutbar, ist nicht ersichtlich, warum nicht auch reisefähige Unionsbürgerinnen in ihr Heimatland zurückkehren könnten. Ob eine solche Ausreiseverpflichtung durchgesetzt würde, ist eine andere Frage.

Da die Antragstellerinnen somit im Rahmen der Selbsthilfe auf das in Rumänien bestehende Sozialleistungssystem verwiesen werden können, besteht kein Anspruch nach dem SGB II.

Da davon auszugehen ist, dass im EU-Mitgliedsstaat Rumänien im Grundsatz ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet ist, kommt es auf die von den Antragstellerinnen zitierten Ansprüche aus Artikel 26 der UN-Kinderrechtskonvention nicht an.

Sollten die Antragstellerinnen zu 1) und 2) aus eigenen Mitteln nicht in der Lage sein, nach Rumänien zurückzukehren, so wären bestimmte Überbrückungshilfen beim Träger der SGB XII-Leistungen zu beantragen, nicht aber beim Antragsgegner.

Eine Beiladung des SGB XII-Trägers kommt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach Auffassung des Senats nicht in Betracht, da die Antragstellerinnen sich mit möglichen Ansprüchen zunächst an die Behörde zu wenden haben, bevor einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht werden kann. Insoweit würde eine Beiladung auch nicht der Beschleunigung des Verfahrens dienen, da zunächst die Befassung des SGB XII-Trägers mit den Anträgen abgewartet werden müsste.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG.

Den Antragstellerinnen war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da die Erfolgsaussicht nach § 119 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) wegen der zusprechenden Entscheidung erster Instanz nicht zu prüfen war. Die Bedürftigkeit ist unstreitig (§ 73a SGG i. V. m. § 114 ff ZPO).

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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