L 18 AS 1813/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 24 AS 1504/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1813/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 4. August 2017 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2017 wird angeordnet. Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, den Rentenantrag vom 14. August 2017 zurückzunehmen und vorläufig von weiteren Antragstellungen abzusehen. Die Beschwerde wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen, dh soweit sie sich gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das erstinstanzliche Verfahren richtet, ist sie nicht begründet und war zurückzuweisen.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Bescheid vom 21. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2017 erhobenen und zulässigen isolierten Anfechtungsklage gemäß § § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG , die ohne weiteres auch die im Widerspruchsbescheid erneut enthaltene Aufforderung, nunmehr bis 31. Juli 2017 die Altersrente zu beantragen, umfasst, ist begründet. Der genannte Bescheid begegnet erheblichen rechtlichen Bedenken. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG waren zudem zur Beseitigung der bereits eingetretenen Vollziehungshandlungen die entsprechenden Anordnungen auszusprechen.

Ungeachtet dessen, dass hier auch zur Überzeugung des Beschwerdegerichts die tatbestandlichen Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) in der seit 1. Januar 2017 geltenden und hier anwendbaren Fassung vom 4. Oktober 2016 (BGBl 2016, 2210) nicht erfüllt sind und danach von einer Unbilligkeit der Rentenantragstellung insoweit nicht auszugehen wäre (vgl die insoweit zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss) mit der grundsätzlichen Folge, dass die Antragstellerin gemäß § 12a Satz 1 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bei Fehlen sonstiger atypischerGründe zur vorzeitigen Rentenantragstellung verpflichtet wäre, genügt die vom Antragsgegner getroffene Ermessensentscheidung über das "Ob" der Aufforderung zur Rentenantragstellung den Anforderungen an eine ermessensfehlerfreie Entscheidung nicht. Denn er hat dabei im Hinblick auf seine maßgebenden ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften den Anspruch der Antragstellerin auf Gleichbehandlung verletzt.

Die Ausübung von Ermessen nach näherer Maßgabe von ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften ist grundsätzlich nicht zu beanstanden (vgl BSGE 50, 33, 37 = SozR 2200 § 1237a Nr 11, BSG, Urteil vom 6. Dezember 2007 – B 14/7b AS 50/06 R = SozR 4-4200 § 59 Nr 1). Derartige Vorschriften haben zwar lediglich verwaltungsinterne Bedeutung ohne Verbindlichkeit für die Auslegung des zugrundeliegenden Gesetzes. Sie können allenfalls eine Selbstbindung der Verwaltung bewirken und einen Anspruch auf Gleichbehandlung begründen (vgl BSG aaO), dh soweit die Verwaltungsvorschriften den Hilfebedürftigen begünstigen und die Verwaltungspraxis dem folgt, bewirkt dies über Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eine Selbstbindung der Verwaltung, die ein Abweichen von den Vorgaben, soweit diese mit der gesetzlich erteilten Ermächtigung zur Ermessensausübung übereinstimmen, ohne sachlichen Grund nicht zulässt. Das Beschwerdegericht hat keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die zu § 12a SGB II und § 6 UnbilligkeitsV erlassenen fachlichen Anweisungen des Antragsgegners mit Zweck und gesetzlichen Grenzen der Ermächtigungsgrundlage in Einklang stehen, zumal § 6 Satz 2 UnbilligkeitsV keine starre 70 vH-Grenze statuiert ("insbesondere").

Danach sieht der Antragsgegner bei der zu treffenden Ermessensentscheidung von einer Aufforderung zur Rentenantragstellung ab, wenn die zu erwartende vorgezogene Altersrente nur knapp oberhalb des aktuellen Bedarfs (bis zu 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs) liegt. Bezogen auf § 6 UnbilligkeitsV bedeutet dies, dass der Antragsgegner sein Ermessen dahingehend gebunden hat, dass er von einer Aufforderung absieht, wenn ein Betrag iHv 70vH der zu erwartenden Regelaltersrente (hier brutto = 824,75 EUR, dh 577,33 EUR) niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf (hier 541,77 EUR) zzgl eines Zuschlags von bis zu 10vH des Regelbedarfs (hier 40,90 EUR zum Zeitpunkt der Aufforderung, dh insgesamt bis 582,67 EUR). Dies war hier indes – wie dargelegt – der Fall, so dass die Antragstellerin bei der anzustellenden Ermessensentscheidung eine Gleichbehandlung bei Anwendung der ermessenslenkenden Vorschriften geltend machen kann. Mangels Vorliegens atypischer Umstände hatte der Antragsgegner daher von einer Aufforderung zur Rentenantragstellung abzusehen. Soweit der Antragsgegner einwendet, er müsse nicht regelmäßig "nachrechnen", ob die Inanspruchnahme der Altersrente noch der erstellten Vergleichsberechnung entspreche, trifft dies schon deshalb nicht zu, weil maßgebender Zeitpunkt nur der der Entscheidung über die Unbilligkeit sein kann (vgl § 6 Satz 2 UnbilligkeitsV). Hiervon ausgehend sind indes die oben genannten Werte einschlägig, weil der höhere Gesamtbedarf iHv mtl 541,77 EUR vom Antragsgegner für die Zeit ab 1. Januar 2017 und damit auch für den Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit anerkannt worden ist, und zwar ungeachtet dessen, ob der Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2017 eine erneute Aufforderung zur Rentenantragstellung enthalten sollte.

Die Entscheidung über die Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Im Prozesskostenhilfe-Beschwerdeverfahren sind Kosten kraft Gesetzes nicht zu erstatten (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 4 Zivilprozessordnung).

Im Hinblick auf die getroffene Kostenentscheidung für das gesamte Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes war der Prozesskostenhilfeantrag für das Beschwerdeverfahren abzulehnen. Gleiches gilt im Ergebnis für das erstinstanzliche Verfahren, so dass die Beschwerde insoweit zurückzuweisen war.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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