L 2 U 124/15

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 362/14
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 124/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 31/17 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Jede Unterbrechung des versicherten Arbeitsweges aus privaten Gründen bewirkt die Unterbrechung des Unfallversicherungsschutzes (wie BSG, Urteil vom 4. Juli 2013 – B 2 U 3/13 R –)
2. Zur Bestimmung der Motive der Unterbrechung des versicherten Arbeitswegen ist auf die kleinste vom Versicherten ausgehende Handlungseinheit abzustellen (wie BSG, Urteil vom 4. Juni 2013 – B 2 U 12/12 R – und Urteil vom 17. Dezember 2015 – B 2 U 8/14 R -)
3. Ereignet sich ein Wegeunfall nach der Unterbrechung des Arbeitsweges und vor dessen Wiederaufnahme besteht für dieses Unfallereignis kein Unfallversicherungsschutz.
I. Auf die Berufung der Beklagten und Berufungsklägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 29. Oktober 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Arbeitsunfall im Sinne von § 8 SGB Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), den die Klägerin am 18. März 2014 gegen 14.30 Uhr nach dem Ende ihrer Arbeitszeit auf dem Weg von ihrer Arbeitsstätte, der Knappschafts-Kurklinik , nach Hause erlitten hat.

Die Klägerin fuhr mit ihrem Pkw aus dem Klinikgelände und bog nach rechts auf die Straße "Z " ein, ohne – insoweit zwischen den Beteiligten unstreitig – hierbei den Weg zu ihrem Wohnort zu verlassen. Etwa 5 – 10 m nach dieser Abzweigung hielt sie an der rechten Fahrbahnseite an, um einen Privatbrief in den dort befindlichen Briefkasten zu werfen. Beim Aussteigen aus dem Fahrzeug stürzte die Klägerin, wobei sich die rechte Hand noch am Lenkrad befand. Dabei rollte das Fahrzeug über ihren linken Fuß. D-Arzt Dr. Y diagnostizierte noch am Unfalltag u. a. eine knöcherne Läsion der Fußwurzel links.

Mit Bescheid vom 6. Mai 2014 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 18. März 2014 als Arbeitsunfall ab. Es bestünde kein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, so dass der Versicherungsschutz entfallen sei. Denn die Klägerin habe den versicherten Weg unterbrochen, um einen Brief in den Briefkasten zu werfen. Dabei habe es sich um eine ausschließlich private, eigenwirtschaftliche Tätigkeit ohne Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gehandelt. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. September 2014 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte die Beklagte u. a. an, dass der Versicherungsschutz unterbrochen werde, sobald Versicherte allein eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgten, die mit der versicherten Fortbewegung nicht übereinstimmten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei die kurzzeitige Unterbrechung bzw. eine geringfügige Unterbrechung des Weges als nicht mehr versichert anzusehen.

Am 29. Oktober 2014 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht mit dem Begehren erhoben, das Ereignis vom 18. März 2014 als Arbeitsunfall in Form eines Wegeunfalls anzuerkennen. Mit Gerichtsbescheid vom 10. Juni 2015 gab das Sozialgericht der Klage statt. Unfallversicherte Tätigkeiten seien auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (Wegeunfall). Die Klägerin habe den ihr obliegenden Beweis insbesondere dahingehend geführt, dass sie im Unfallzeitpunkt einer versicherten Tätigkeit nachgegangen sei. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII verlange einen inneren (sachlichen) Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit und der versicherten Tätigkeit, der so eng und gewichtig sein müsse, dass es gerechtfertigt sei, den Weg der versicherten Tätigkeit zuzuordnen. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin auf dem direkten Weg von der Arbeitsstätte zum Wohnhaus angehalten und aussteigen wollen, um einen Brief in den Briefkasten zu werfen. Dabei handele es sich um eine Unterbrechung des Arbeitsweges. Hinsichtlich des Versicherungsschutzes während der Unterbrechung sei zu unterscheiden, ob die Unterbrechung einer Verrichtung diene, die im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehe, oder ob sie wesentlich allein aus privaten Gründen erfolge. Im ersteren Fall bestehe Versicherungsschutz auch während der Unterbrechung. Das Gericht gehe davon aus, dass die Unterbrechung aus eigenwirtschaftlichen Gründen geschehen sei. Jedoch handele es sich nach Überzeugung des Gerichts lediglich um eine geringfügige Unterbrechung. Diene die Unterbrechung privaten Verrichtungen, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zwischen erheblichen und unerheblichen Unterbrechungen zu unterscheiden. Während einer privaten Zwecken dienenden, erheblichen Unterbrechung bestehe kein Unfallversicherungsschutz. Eine privaten Zwecken dienende, unerhebliche Unterbrechung, während der der Versicherungsschutz fortbestehe, liege vor, wenn die Unterbrechung zeitlich und räumlich nur ganz geringfügig sei und einer Verrichtung diene, die "im Vorbeigehen" und "ganz nebenher" sowie ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung erledigt werde. Die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes in diesen Fällen finde ihre Rechtfertigung darin, dass die in sachlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Verrichtung – das Zurücklegen des Weges – der wesentliche Grund dafür sei, dass der Versicherte in einer Situation sei, in der er dann ganz nebenher oder im Vorbeigehen die private Verrichtung ausübe. Aus diesen Gründen werde der Klage stattgegeben, zumal das Unfallereignis auch hinreichend wahrscheinlich, rechtlich wesentlich zu Gesundheitsstörungen geführt habe, z. B. zu einer vom D-Arzt festgestellten Läsion der Fußwurzel links.

Gegen den mittels Empfangsbekenntnis der Beklagten und Berufungsklägerin am 27. Juni 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat diese am 10. Juli 2015 Berufung eingelegt. Zur Begründung wird vorgetragen, man beziehe sich wie das Sozialgericht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, interpretiere sie aber unterschiedlich. Eine geringfügige Unterbrechung habe schon deshalb nicht vorgelegen, weil die mit ihr verbundene Tätigkeit eben nicht im Vorbeigehen habe erledigt werden können, vielmehr habe die Klägerin dazu aussteigen müssen. Entscheidend sei die Handlungstendenz zum Unfallzeitpunkt und die sei rein eigenwirtschaftlich gewesen.

Die Berufungsklägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 10. Juni 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Gerichtsbescheid sei richtig. Im Übrigen sei die Klägerin ja noch nicht einmal aus dem Auto ausgestiegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG)), hat Erfolg.

II.

Die zulässige Berufung ist begründet. Ein über die Unfallversicherung gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auszugleichender Wegeunfall als Arbeitsunfall liegt entgegen der Ansicht des Sozialgerichts und der Klägerin nicht vor. Der Gerichtsbescheid war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die vom Sozialgericht getroffene Unterscheidung nach der Geringfügigkeit der Wegeunterbrechung zu privaten Zwecken ist mit der Rechtsprechung des Bundesozialgericht, der sich der Senat anschließt, nicht zu vereinbaren. Das ergibt sich aus Folgenden: Das Bundessozialgericht hat bereits in seinem Urteil vom 9. Dezember 2003 – B 2 U 23/03 R – (BSGE 91, 293-301, SozR 4-2700 § 8 Nr. 3, RdNr. 16) unter Darstellung der Entwicklung seiner früheren Rechtsprechung zu Wegeunfällen mit privatem Einschlag festgestellt, dass die Übertragung der ursprünglich für Fußgänger entwickelten Kriterien auf andere Verkehrsteilnehmer ausdrücklich nicht mit Erwägungen zur Risikoabgrenzung, sondern mit der gewollten Gleichbehandlung von Kraftfahrern und Fußgängern begründet worden sei, hat gleichzeitig aber auch kritisiert, dass diese jahrzehntelange Rechtsprechung zu vielschichtigen Abgrenzungsproblemen und Wertungswidersprüchen geführt habe.

Mit seinem Urteil vom 2. Dezember 2008 – B 2 U 17/07 R – (SozR 4-2700 § 8 Nr. 28, RdNr.19) hat das Bundessozialgericht seine Rechtsprechung konkretisiert und zur Klarstellung darauf hingewiesen, dass zwischen der Unterbrechung eines bestimmten Verhaltens oder einer bestimmten Verrichtung auf der tatsächlichen Ebene und der rechtlichen Wertung und Auswirkung dieser tatsächlichen Unterbrechung auf der versicherungsrechtlichen Ebene zu unterscheiden sei. Werde der Weg zum oder vom Ort der Tätigkeit aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen, entfalle der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz. Dabei komme es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Versicherte lediglich seine Fortbewegung beende, um sich an Ort und Stelle einer anderen, nicht nur geringfügigen Tätigkeit zuzuwenden, oder ob er den eingeschlagenen Weg verlasse, um an anderer Stelle einer privaten Verrichtung nachzugehen und erst danach auf den ursprünglichen Weg zurückzukehren. Die räumliche Unterbrechung beginne spätestens dann, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum seines Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit verlasse, und ende mit dem Erreichen dieses Verkehrsraumes sowie der Wiederaufnahme der Fortbewegung in Richtung des ursprünglichen Ziels. Im vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall war der Versicherungsschutz demnach mit dem Verlassen der unmittelbar zur Arbeitsstätte führenden Straße durch Einbiegen auf den Parkplatz eines Supermarktes zum Kauf von Waren unterbrochen.

In seinem Urteil vom 4. Juli 2013 – B 2 U 3/13 R – (vgl. juris) gab das Bundessozialgericht seine Ansicht, nämlich dass der Versicherungsschutz solange erhalten bleibe, wie sich der Versicherte noch innerhalb des öffentlichen Verkehrsraums der für den Weg zu oder von der Arbeitsstätte benutzten Straße befinde, auf. Sobald ein Versicherter private/eigenwirtschaftliche Zwecke verfolge, die mit der versicherten Fortbewegung nicht übereinstimmten, werde der Versicherungsschutz unterbrochen, und zwar so lange, bis die Fortbewegung auf das ursprüngliche Ziel hin wieder aufgenommen werde. Dementsprechend hatte im vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall der Verletzte seine eigenwirtschaftliche Handlungstendenz – Abbiegen vom Arbeitsweg nach links in einen Hof zum Erdbeerkauf – bereits durch das vollständige Abbremsen und Warten auf den Gegenverkehr objektiv nach außen dokumentiert, auch wenn er im Unfallzeitpunkt noch nicht abgebogen gewesen war.

In zwei weiteren Urteilen hat das Bundessozialgericht seine Rechtsprechung zur Thematik des Wegeunfalls weiter konkretisiert und dabei entscheidend auf die Handlungstendenz des Versicherten zur Bestimmung des eigenwirtschaftlichen Handelns beim Wegeunfall und konkret auf die vom Versicherten ausgehende kleinste Handlungseinheit abgestellt (Urteil vom 4. Juni 2013 – B 2 U 12/12 R – und Urteil vom 17. Dezember 2015 – B 2 U 8/14 R –beide juris; letzteres insbesondere zu der dem Versicherten auch im Rahmen des versicherten Weges obliegenden Beweislast bei nicht aufklärbaren Umständen).

Überträgt man diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass eine Unterbrechung des versicherten Arbeitsweges vorgelegen hat. Erkennbar ist die private Zielrichtung an der Intention der Klägerin, einen Privatbrief in den Briefkasten zu werfen und dazu auszusteigen (kleinste Handlungseinheit). Der Unfall passierte als die Klägerin diese Unterbrechung noch nicht beendet und der Versicherungsschutz noch nicht wieder eingesetzt hatte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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