L 8 KR 366/17 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 21 KR 225/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 366/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. August 2017 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers mit dem Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. August 2017 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig eine Versorgung mit Cannabis-Blüten "Penelope" und/oder Sativex und/oder Dronabinol zu gewähren,

hat in der Sache keinen Erfolg.

Wegen des Sachverhalts und der rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass der vorliegend allein in Betracht kommenden Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), insbesondere dem Erfordernis des Vorliegens und der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes, wird auf die zutreffenden Darlegungen des Sozialgerichts in dem angegriffenen Beschluss Bezug genommen, die von den Beteiligten auch nicht infrage gestellt werden.

Soweit der Antragsteller mit der Beschwerde den Antrag auf Versorgung mit Cannabis-Blüten "Penelope" weiterverfolgt, ist die Beschwerde unbegründet. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs abgelehnt, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V nicht glaubhaft gemacht sind.

Gem. § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Verordnet die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Leistung nach Satz 1 im Rahmen der Versorgung nach § 37b SGB V, ist über den Antrag auf Genehmigung nach Satz 2 abweichend von § 13 Absatz 3a Satz 1 innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 31 Abs. 6 Satz 2 und 3 SGB V).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Hierbei lässt es der Senat dahinstehen, ob dem Sozialgericht darin zu folgen ist, dass bei dem Antragsteller bereits keine schwerwiegende Erkrankung vorliegt. Der behandelnde Internist Dr. C. und der Schmerztherapeut Prof. Dr. D. stellen eine Fibromyalgie in den Vordergrund und erblicken darin eine schwerwiegende Erkrankung. Der Bericht der Fachklinik für Geriatrie und Orthopädie vom 13. Juni 2017 über eine stationäre Behandlung des Antragstellers vom 1. – 10. Juni 2017 diagnostiziert daneben eine ausgedehnte schmerzhafte Funktionsstörung im Wirbelsäulenbereich bei bestehender Osteochondrose und Spondylarthrosen in mehreren lumbalen Segmenten, eine rezidivierende depressive Störung und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren; es wird eine erhebliche Schmerzchronifizierung festgestellt. Allerdings konnte dort bereits im Rahmen der zehntägigen Behandlung mit intensiven physiotherapeutischen und physikalischen Anwendungen, medizinischer Trainingstherapie und infiltrativer Schmerztherapie eine mittelgradige Reduktion des Rückenschmerzes erreicht werden. Dies kann als Indiz gewertet werden, dass die Krankheiten des Antragstellers gut therapeutisch beeinflussbar sind, was gegen eine schwerwiegende Erkrankung sprechen würde.

Der Senat kann dies offenlassen, weil nicht glaubhaft gemacht ist, dass für die Behandlung der Krankheiten des Antragstellers eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. a SGB V) oder im Einzelfall nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V). Die insoweit zu beachtenden Maßstäbe hat das Sozialgericht zutreffend dargelegt: Den Versicherten soll ermöglicht werden, bei Versagen etablierter Behandlungsmethoden einen Therapieversuch mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu unternehmen (vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-Drs. 18/8965, S. 24). Ein Leistungsanspruch besteht nicht nur, wenn eine allgemein anerkannte Behandlungsmethode nicht vorhanden ist, sondern bereits dann, wenn bei abstrakter Betrachtung zwar eine Standardbehandlung existiert, diese aber nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung bei Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen sowie unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann. Für den Fall der Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie im Hinblick auf die Nebenwirkungen und den Krankheitszustand ist eine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin/des behandelnden Vertragsarztes erforderlich, welche zwingend den hier vorzunehmenden Abwägungsprozess erkennen lassen muss (so zutreffend SG Wiesbaden aaO).

Hierzu hat das Sozialgericht zu Recht ausgeführt, dass auf der Grundlage der ärztlichen Cannabisverordnung von Prof. Dr. D. vom 24. März 2017 und seiner ergänzenden Auskünfte im Befundbericht vom 14. August 2017 diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Prof. Dr. D. hat den Antragsteller vornehmlich im Hinblick auf die diagnostizierte Fibromyalgie behandelt. In seinem Befundbericht äußert er sich hinsichtlich eines positiven Effekts von Cannaboiden zur Behandlung der Fibromyalgie aber sehr zurückhaltend; er verweist darauf, dass in klinischen Studien bisher kein positiver Effekt von Cannaboiden bei der Behandlung der Fibromyalgie nachgewiesen werden konnte und dies dem Antragsteller so auch mitgeteilt wurde. Die Behandlung mit Cannabis sei als Therapieversuch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass in einer Metaanalyse 2016 nachgewiesen worden sei, dass unter dieser Therapie zumindest keine wesentlichen Nebenwirkungen eingetreten seien. Zusätzlich zu der laufenden Behandlung (Infusionstherapie, Procain, Natriumhydrogencarbonat, Palexia und Physiotherapie) benennt Prof. Dr. D. als sinnvolle Therapieoption die Verordnung eines Seratonin-Wiederaufnahmehemmers, die jedoch "insbesondere beim jungen Mann mit zahlreichen unerwünschten Wirkungen, wie Libidoverlust und Gewichtszunahme verbunden sein kann". Damit legt Prof. Dr. D. jedoch offen, dass seine Cannabis-Verordnung nicht wegen des Fehlens einer Standardtherapie erfolgte, sondern – wie auch aus dem Eintrag in seiner Patientendokumentation vom 8. März 2017 zum Ausdruck kommt ("Patient will Cannabis") – auf Wunsch des Antragstellers als experimenteller Therapieversuch, wobei gegen die übliche und anerkannte Therapie mit einem Seratonin-Wiederaufnahmehemmer nur die möglichen Nebenwirkungen dieser Behandlung sprachen. Bei nur möglichen – also nicht aufgrund individueller Umstände konkret zu erwartenden und aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar bewerteten – Nebenwirkungen eines Medikaments kann aber nicht davon gesprochen werden, dass eine anerkannte Standardtherapie iSv § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V "nicht zur Anwendung kommen kann".

Ein Versagen der etablierten Behandlungsmethoden, welche den Einsatz von Cannaboiden rechtfertigen würde, kann aber auch vor dem Hintergrund der Ergebnisse der stationären Behandlung des Antragstellers im Otto-Fricke-Krankenhaus Wiesbaden Zentrum für Geriatrie und Orthopädie – in der Zeit vom 1. – 10. Juni 2017 nicht angenommen werden. Im Rahmen der hier durchgeführten multimodalen Schmerztherapie unter Einschluss verschiedenster therapeutischer Maßnahmen (u.a. balneophysikalische und physiotherapeutische Maßnahmen, Gang- und Rückenschulung, Rücken- und Entspannungstherapie, lumbale Facettenblockaden, epidurale Sakralblockade) einschließlich einer Höherdosierung der Schmerzmedikation konnte nach dem Entlassungsbericht eine schrittweise Besserung der Schmerzsymptomatik erzielt werden; zum Entlassungszeitpunkt beschreibt die Klinik eine mittelgradige Reduktion des Rückenschmerzes. Die Notwendigkeit einer Cannabistherapie wird im Entlassungsbericht nicht angesprochen, vielmehr wird empfohlen, die physiotherapeutischen Maßnahmen als auch die angepasste Schmerzmedikation unverändert fortzuführen; zugleich wird die Empfehlung für die Einleitung einer ambulanten Psychotherapie gegeben. Insoweit ist der Einwand des Beschwerdeführers, solche Maßnahmen seien in der Vergangenheit bereits "ergebnislos" durchgeführt worden, vor dem Hintergrund der erkennbaren Besserung seines Gesundheitszustandes im Rahmen der stationären Behandlung nicht nachvollziehbar. Eine multimodale Behandlung, wie sie im Otto-Fricke-Krankenhaus bei dem Antragsteller durchgeführt wurde, wird im Übrigen von der Deutschen Gesellschaft für Fibromyalgie auch für die Behandlung dieser Krankheit empfohlen (http://www.fibromyalgie-fms.de/fibromyalgie/therapie/).

Gemäß § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 SGB V muss schließlich eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen. Auch diese Voraussetzung hat das Sozialgericht zu Recht verneint. Denn erforderlich ist insoweit die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf spürbar positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome. Diese Formulierung ist weit gefasst, allerdings ist allgemein anerkannt, dass die entsprechende Prognose, auf Indizien gestützt, zu begründen ist (BVerfGE 115, 25 ff, juris Rn. 66; eingehend BSG, Urteil vom 13. Oktober 2010 - B 6 KA 48/09, juris Rn. 23 ff). Eine solche auf Indizien gestützte Begründung, dass durch den Einsatz von medizinischen Cannabisblüten der Krankheitsverlauf des Antragstellers spürbar positiv beeinflusst werden kann, legt Prof. Dr. D. nicht dar, vielmehr verweist er selbst auf klinische Studien, in denen bislang kein positiver Effekt von Cannaboiden zur Behandlung der Fibromyalgie nachgewiesen werden konnte. Soweit der Antragsteller die Studienlage anders bewertet und meint, auch die vorliegenden unkontrollierten Studien seien für eine positive Prognose des Einsatzes von Cannabis ausreichend, ist es nicht Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, solchen Fragen im Einzelnen nachzugehen. Festzuhalten bleibt, dass Prof. Dr. D., auf dessen Therapiehoheit sich der Antragsteller beruft, keine begründete positive Einschätzung des Einsatzes von Cannaboiden vornimmt.

Soweit der Antragsteller im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens seinen Antrag auf eine Versorgung mit Sativex und/oder Dronabinol erweitert hat, ist dies als unzulässig zurückzuweisen. Bei Sativex und Dronabinol handelt es sich um andere cannabishaltige Medikamente, für die seitens der behandelnden Ärzte des Antragstellers bisher weder der nach § 31 Abs. 6 S. 2 SGB V erforderliche Genehmigungsantrag bei der Antragsgegnerin gestellt noch bezüglich derer eine entsprechende Sachprüfung im Verwaltungsverfahren durchgeführt wurde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ist aus den vorstehenden Gründen wegen fehlender Erfolgsaussicht der Beschwerde abzulehnen (§§ 73a SGG, 114 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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