L 8 KR 255/17 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 1 KR 163/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 255/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 22. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers mit dem Antrag, den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 22. Mai 2017 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, seine Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zur Inhalation zu genehmigen, ist in der Sache nicht begründet.

Wegen des Sachverhalts und der rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass der vorliegend allein in Betracht kommenden Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), insbesondere dem Erfordernis des Vorliegens und der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes, wird auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angegriffenen Beschluss Bezug genommen, die von den Beteiligten auch nicht infrage gestellt worden sind.

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auch im Beschwerdeverfahren nicht gegeben.

Gem. § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Gem. § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Verordnet die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Leistung nach Satz 1 im Rahmen der Versorgung nach § 37b SGB V, ist über den Antrag auf Genehmigung nach Satz 2 abweichend von § 13 Absatz 3a Satz 1 innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 31 Abs. 6 Satz 3 SGB V). Vorliegend ist nicht glaubhaft gemacht, dass diese Voraussetzungen zugunsten des Antragstellers erfüllt sind.

Voraussetzung für einen Anspruch nach § 31 Abs. 6 SGB V ist zunächst das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. Das Gesetz definiert den Begriff der "schwerwiegenden Erkrankung" nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum sog. "off-label-use" ist von einer schwerwiegenden Erkrankung dann auszugehen, wenn sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Allerdings kann nicht jede Art von Erkrankung den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Als Beispiele für eine schwerwiegende Erkrankung sind in der Rechtsprechung genannt worden: schwere Verlaufsform der Neurodermitis (BSG, Urteil vom 6. März 2012 – B 1 KR 24/10 R –, juris Rn. 24), fortgeschrittene Bronchialkarzinome und Tumore der Thoraxorgane (BSG, Urteil vom 13. Oktober 2010 – B 6 KA 48/09 R –, juris Rn. 17), metastasierende Karzinome der Eileiter (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 B 6 KA 6/09 R –, juris Rn. 47), sekundäre pulmonale Hypertonie bei CREST-Syndrom im Stadium IV (BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 1/06 R –, juris Rn 17), Restless-Legs-Syndrom mit massiven Schlafstörungen und daraus resultierenden erheblichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen (BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 14/06 R –, juris Rn.11), Myoadenylate-Deaminase-Mangel mit belastungsabhängigen, muskelkaterähnlichen Schmerzen, schmerzhaften Muskelversteifungen und (sehr selten) Untergang von Muskelgewebe (BSG, Urteil vom 4. April 2006 – B 1 KR 12/04 R –, juris Rn. 31) und Multiple Sklerose (BSG, Urteil vom 19. März 2002 – B 1 KR 37/00 R –, juris Rn. 28). Diese Aspekte sind auch bei der Auslegung des entsprechenden Begriffs in § 31 Abs. 6 SGB V zu berücksichtigen (so zutreffend SG Wiesbaden, Beschluss vom 21. August 2017, S 21 KR 225/17 ER).

Das Vorliegen einer derartigen schwerwiegenden Erkrankung ist bei dem Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Nach dem Befundbericht des Arztes Dr. C., bei dem sich der Antragsteller – verbunden mit dem Wunsch nach einem Cannabis-Rezept – erstmals am 6. Oktober 2016 vorstellte, leidet dieser "unter starken chronischen Schmerzen seit 1990". Als dafür verantwortliche Leiden benennt Dr. C. Cervicalsyndrom, Epicondylitis humeri radialis, LWS-Syndrom, Periarthropathia humeroscapularis, Thorakalsyndrom und chronische Polyneuropathie. Bei diesen Diagnosen handelt es sich jedoch durchweg, wie insbesondere in der wiederholten Verwendung des Begriffs "Syndrom" zum Ausdruck kommt, um wenig aussagekräftige Beschreibungen für Schmerzen und Beschwerden an einzelnen Gelenken bzw. Abschnitten des Bewegungsapparats, wie sie in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Konkrete Befunde und Unterlagen, welche ein hieraus resultierendes schwerwiegendes und – wie der Antragsteller vorträgt – über viele Jahre anhaltendes Krankheitsbild an den betroffenen Wirbelsäulenabschnitten und Gelenken mit schweren Schmerzen belegen und nachvollziehbar machen würden, z.B. in Form von erheblichen degenerativen Veränderungen oder Bandscheibenvorfällen, Schädigungen der Nerven, Muskeln oder Sehnen etc., sind von Dr. C. aber trotz ausdrücklicher Anforderung des Senats nicht vorgelegt worden. Ebenso wenig ist aus dem vorgelegten Ausdruck seiner Patientenkarteikarte zu entnehmen, wann und wie diese Diagnosen, die allesamt das orthopädische Fachgebiet betreffen und damit nicht in die fachliche Kompetenz von Dr. C. als Internist fallen, gesichert worden sind. Eine orthopädische Mitbehandlung wird nicht mitgeteilt. Dr. C. teilt zwar eine "Schmerzlokalisation und ausbreitung" im Schmergrad 9 -10 an den genannten Gelenken und Wirbelsäulenabschnitten mit, lässt aber offen, wie dies festgestellt worden ist, insbesondere ob dies also allein auf den Eigenangaben des Antragstellers beruht oder durch objektive Befunde gestützt wird.

Darüber hinaus ist vorliegend nicht glaubhaft gemacht, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. a SGB V) oder im Einzelfall nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V). Mit diesen Regelungen soll nach dem Willen des Gesetzgebers den Versicherten ermöglicht werden, bei Versagen etablierter Behandlungsmethoden einen Therapieversuch mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu unternehmen (BT-Drs. 18/8965, S. 24). Die Formulierung des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V macht deutlich, dass ein Leistungsanspruch nicht nur dann besteht, wenn eine allgemein anerkannte Behandlungsmethode nicht vorhanden ist, sondern bereits dann, wenn bei abstrakter Betrachtung zwar eine Standardbehandlung existiert, diese aber nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung bei Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen sowie unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht/Nolte, § 31 SGB V Rn. 75c-75g). Für den Fall der Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie im Hinblick auf die Nebenwirkungen und den Krankheitszustand ist eine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin/des behandelnden Vertragsarzt erforderlich, welche zwingend den hier vorzunehmenden Abwägungsprozess erkennen lassen muss. Erforderlich ist eine Folgenabwägung dahingehend, womit im Falle der schulmedizinischen Standardbehandlung zu rechnen sein wird und wie sich dies konkret auf die versicherte Person auswirkt. Die Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls mit in die Abwägung einfließen (SG Wiesbaden, Beschluss vom 21. August 2017, S 21 KR 225/17 B ER).

In Bezug auf diese Voraussetzungen genügen die Atteste und der Befundbericht von Dr. C. nicht den Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer fehlenden allgemein anerkannten Behandlungsoption. Ein dem allgemeinen Standard entsprechendes Behandlungskonzept zur Therapie der von dem Antragsteller beklagten Wirbelsäulen- und Gelenkschmerzen lässt sich aus seinen Behandlungsunterlagen nicht ausreichend erkennen. Die Ausführungen von Dr. C. beschränken sich wiederkehrend und in allgemeiner Form darauf, dass wegen der geklagten chronischen Schmerzen und nach Ausschöpfung anderweitiger medikamentöser Therapie der Einsatz von Cannabis indiziert wäre. Im Hinblick auf die angegebenen Grunderkrankungen wäre aber zunächst eine intensive orthopädische Therapie unter Einsatz entsprechender Heil -und Hilfsmittel zu erwarten. Zwar behauptet Dr. C., die medikamentöse, physikalische, Bewegungstherapie und Krankengymnastik seien ausgeschöpft. Dies ist aber jedenfalls hinsichtlich der Verordnung von physikalischer Therapie/Bewegungstherapie unzutreffend, denn Dr. C. hat, wie sich aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Leistungsverzeichnis ergibt, solche Maßnahmen seit Beginn der Behandlung im Oktober 2016 überhaupt nicht verordnet. Bei einer schweren chronischen Schmerzkrankheit, die auf Schädigungen der Gelenke und der Wirbelsäule beruht wäre zudem zu erwarten, dass eine Mitbehandlung bei einem Orthopäden und/oder einem Schmertherapeuten erfolgt, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Dr. C. teil lediglich mit, es sei die Vorstellung in einer Schmerzklink "vorgesehen".

Unabhängig hiervon sind aber auch die Ausführungen von Dr. C. zur Notwendigkeit einer Schmerztherapie mit Cannabis wegen des Fehlens einer medikamentösen Behandlungsalternative nicht nachvollziehbar. In seinem Befundbericht vom 18. September 2017 gibt er an, unter dem Einsatz von Opioiden seien bei dem Antragsteller erhebliche Nebenwirkungen aufgetreten, weshalb diese abgesetzt worden wären und auch zukünftig nicht mehr verwendet werden könnten. Aus dem gleichzeitig vorgelegten Medikamentenplan vom 18. September 2017 ergibt sich jedoch, dass dem Antragsteller aktuell Fentanyl – ein Opioid – zur Anwendung alle drei Tage verordnet ist. Nach dem Ausdruck aus der Patientenkarteikarte wird dieses Medikament seit April 2017 laufend verordnet.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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