L 1 KR 75/16 ZVW

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 28 KR 1936/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 75/16 ZVW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte oder die Beigeladene die Kosten für verschiedene nicht verschreibungspflichtige Medikamente zu übernehmen hat.

Die 1963 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als Bezieherin von Arbeitslosengeld II, welches sie von der Beigeladenen erhält, pflichtversichert. Im Mai 2013 beantragte sie die Kostenerstattung sowie die künftige Kostenübernahme für folgende nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, die ihr von den Ärzten Dr. N1, Dr. N. und Dr. H. verordnet wurden: Nasensalbe C.Ol.Pini Tub, Nasenspray Cromo-CT, Linola Fettcreme, Thymiverian-Lösung, Aspirin, Iberogast, Buscopan, Sinupret forte, Bepanthen Augensalbe, Salbe Unguentum emulsificans aquosum sowie Indische Flohsamenschalen.

Die Beklagte lehnte dies mit Bescheiden vom 22. Mai 2013 und 7. August 2013 ab und führte aus, dass eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel grundsätzlich ausscheide. Den Widerspruch der Klägerin wies sie durch Widerspruchsbescheid vom 26. September 2013 zurück.

Im Rahmen des Klagverfahrens hat das Sozialgericht die Klägerin aufgefordert, ärztliche Verordnungen der streitigen Medikamente vorzulegen sowie unter Vorlage von Belegen die entstandenen Kosten mitzuteilen. Die Klägerin hat daraufhin Kopien von Belegen eingereicht, die den Zeitraum von März 2010 bis Februar 2014 umfassen und von der Klägerin in diesem Zeitraum aufgewendete Kosten in Höhe von 162,55 EUR dokumentieren. Geltend gemacht hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 10. März 2014 insgesamt 133,01 EUR, wobei die diesbezügliche Aufstellung nicht lückenlos durch Belege dokumentiert ist. Mit Gerichtsbescheid vom 18. Dezember 2014 – der Klägerin zugestellt am 20. Dezember 2014 – hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

Auf die am 19. Januar 2015 erhobene Berufung hin hat das Landessozialgericht die Berufung durch Urteil vom 14. Oktober 2015 zurückgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, gemäß § 12 Abs. 2 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (AM-RL) in der Fassung vom 18.12.2008/22.01.2009 (BAnz 2009 Nr. 49a) sei die Verordnung von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ausnahmsweise zulässig, wenn diese bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten. Eine Krankheit sei schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich sei oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige (§ 12 Abs. 3 AM-RL). Ein Arzneimittel gelte als Therapiestandard, wenn der therapeutische Nutzen zur Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche (§ 12 Abs. 4 AM-RL). Schwerwiegende Erkrankungen und Standardtherapeutika zu deren Behandlung seien in der Anlage I zur AM-RL (OTC-Übersicht) abschließend aufgeführt.

Von den hier streitgegenständlichen Arzneimitteln seien in der OTC-Übersicht lediglich Aspirin (Acetylsalicylsäure) sowie die Flohsamenschalen aufgeführt. Acetylsalicylsäure sei nach Ziffer 2 und 3 der OTC-Liste lediglich als Thrombozyten-Aggregationshemmer bei gesicherter koronarer Herzkrankheit und in der Nachsorge von Herzinfarkt, Schlagfall und arteriellen Eingriffen sowie zur Behandlung schwerer und schwerster Schmerzen in Co-Medikation mit Opioiden verordnungsfähig. Eine derartige Indikation bestehe bei der Klägerin nicht. Flohsamenschalen seien nach Ziffer 18 der OTC-Liste nur zur unterstützenden Quellmittel-Behandlung bei Morbus Crohn, Kurzdarmsyndrom und HIV-assoziierter Diarrhoen verordnungsfähig. Auch derartige Erkrankungen seien bei der Klägerin weder dargelegt noch nachgewiesen.

Die übrigen streitgegenständlichen Arzneimittel seien in der OTC-Übersicht nicht aufgeführt. Sie stellten auch keine Standardtherapeutika zur Behandlung von schwerwiegenden Erkrankungen dar. Vielmehr handele es sich im Wesentlichen um Arzneimittel zur Behandlung von Erkältungskrankheiten, leichteren Magen-/Darmbeschwerden und Salben bei Hautproblemen.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bestünden nicht. Als Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Kostenerstattung für die Vergangenheit komme ausschließlich § 13 Abs. 3, 2. Alt. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Betracht. Hiernach seien die Kosten einer notwendigen, selbst beschafften Leistung zu erstatten, soweit die die Krankenkasse diese zu Unrecht abgelehnt hat. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, da die Beklagte die Leistungen – wie ausgeführt – nicht zu Unrecht abgelehnt habe.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hin hat das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil aufgehoben, den Rechtsstreit zurückverwiesen und zur Begründung ausgeführt, das Gericht habe es versäumt, das Jobcenter dem Verfahren beizuladen, welches als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierfür sei es nicht erforderlich, dass es für das LSG als erkennendes Gericht bereits feststehe, dass der Beklagte nicht leistungspflichtig sei; vielmehr genüge die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungsverpflichteten. Es könne bei den aufgewandten und noch aufzuwendenden Kosten für von der Klägerin sich selbst verschaffte bzw. zukünftig sich selbst verschaffende nicht verschreibungspflichtige Rezeptur- und Fertigarzneimittel und für das Nahrungsergänzungsmittel "indische Flohsamenschalen" zu Mehrbedarfsleistungen kommen. Ein im Einzelfall seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichender unabweisbarer Bedarf komme bei Leistungen in Betracht, die zur Sicherung des zu gewährenden menschenwürdigen Existenzminimums notwendig, aber verfassungskonform kein Leistungsgegenstand der GKV seien. Im Hinblick auf das Nahrungsergänzungsmittel "indische Flohsamenschalen" komme ebenfalls ein Anspruch der Klägerin gegen den Grundsicherungsträger zur Sicherung des Existenzminimums nach § 21 Abs. 5 SGB II in Betracht. Hiernach werde für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt.

Der Senat auf die Zurückverweisung hin das Jobcenter team.arbeit. h. dem Verfahren beigeladen und Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin eingeholt. Die Coloproktologin Dr. H. hat in ihrem Befundbericht vom 12. Oktober 2016 u.a. ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine Kontinenzstörung und eine Entleerungsstörung des Dickdarms. Da sie aufgrund einer Schließmuskelminderfunktion sehr weiche Stühle nicht gut halten könne, böten Flohsamenschalen als Zelluloseträger und Wasserspeicher die Möglichkeit, die Stuhlbeschaffenheit zu normalisieren. U.a. Bepanthen diene der Behandlung eines Analekzems. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. N. hat in ihrem Befundbericht vom 28. September 2016 ausgeführt, der Klägerin einmalig im März 2010, 20 Stück Sinupret Forte auf einem "grünen Rezept" verordnet zu haben. Andere Rezeptierungen hinsichtlich der aufgeführten Medikamente seien nicht nachvollziehbar. Es ergebe sich aus den Unterlagen, dass die Klägerin im November 2013 eine Zeit lang Aspirin und Buscopan eingenommen habe, möglicherweise selbständig.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 18. Dezember 2014 sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. Mai 2013 und 7. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die von Dr. N1, Dr. N. und Dr. H. verordneten nicht verschreibungspflichtigen Medikamente zu erstatten, sowie künftige Kosten zu übernehmen, hilfsweise, die Bescheide des Beigeladenen vom 7. Juni 2015 und vom 21. Dezember 2015 aufzuheben und den Beigeladenen zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die von Dr. N1, Dr. N. und Dr. H. verordneten nicht verschreibungspflichtigen Medikamente zu erstatten, sowie künftige Kosten zu übernehmen.

Die Beklagte und der Beigeladene beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 19. Oktober 2017 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen

Entscheidungsgründe:

Die Berichterstatterin konnte zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern an Stelle des Senats entscheiden, da das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden hat und der Senat ihr durch Beschluss vom 20. Juli 2017 die Berufung übertragen hat (§ 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist indes unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage gegen die Beklagte zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen, da die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtmäßig sind. Die Klägerin kann die Kostenerstattung sowie die künftige Kostenübernahme für die ihr verordneten, aber nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel von der Beklagten nicht verlangen. Diesbezüglich wird in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen, weil die Berufung aus den Gründen des Urteils des Landessozialgerichts vom 14. Oktober 2015 zurückgewiesen wird. Auch der Beigeladene ist zur Leistung eines Mehrbedarfs wegen eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarfs nach § 21 Abs. 6 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nicht verpflichtet. Werden Aufwendungen für eine medizinisch notwendige Behandlung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, kann zwar grundsätzlich ein Anspruch auf eine Mehrbedarfsleistung nach dieser Vorschrift entstehen. Auch ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen dies zu erfolgen hat, bisher noch nicht abschließend geklärt. Jedoch scheidet eine Leistungsgewährung jedenfalls unter anderem dann aus, wenn der Leistungsberechtigte wegen der Erkrankungen keine Kosten geltend macht, die über das hinausgehen, was für die übrigen Kosten für Gesundheitspflege im Regelbedarf vorgesehen ist (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 6/13 R –, BSGE 115, 77-86, SozR 4-4200 § 21 Nr. 16, Rn. 22 m.w.N.). So ist es auch hier. Die von der Klägerin über einen Zeitraum von vier Jahren geltend gemachten Kosten betragen insgesamt nicht mehr als 162,55 EUR, im Monatsdurchschnitt also 3,39 EUR und bleiben damit weit hinter dem für Gesundheitspflege im Regelsatz vorgesehene Betrag von 15 EUR (Stand: 2013) zurück. Darüber hinaus lässt sich für mehrere Medikamente (Aspirin, Buscopan) keine Notwendigkeit eines medizinischen Bedarfes feststellen, weil keiner der von der Klägerin benannten Ärzte angibt, dieses auf Privatrezept verordnet oder auch nur zur Behandlung einer Erkrankung als notwendig erachtet zu haben. Soweit nach § 21 Abs. 5 SGB II die Gewährung eines angemessenen Mehrbedarfs bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, vorgesehen ist, hat die Klägerin gleichfalls keinen Anspruch gegen den Beigeladenen auf Gewährung eines Mehrbedarfs im Hinblick auf das Nahrungsergänzungsmittel "Flohsamenschalen". Denn dieses dient ausweislich des Befundberichts der Dr. H. lediglich zur Normalisierung der Beschaffenheit des Stuhlgangs, ohne dass jedoch eine Krankheit dokumentiert ist, die zu einer sehr weichen Stuhlkonsistenz oder zu häufigen Durchfällen führen würde. Dokumentiert ist lediglich eine Entleerungsstörung im Sinne einer Kontinenzstörung bei Schließmuskelminderfunktion, dieses bei im Übrigen offensichtlich regelgerechter Darmfunktion. Eine Normalisierung der Stuhlbeschaffenheit ist unter diesen Voraussetzungen, was als allgemeinkundig erachtet wird, mittels ballaststoffreicher Vollwerternährung ohne übermäßigen Fett- und Fleischkonsum und ohne übermäßiger Aufnahme zuckerhaltiger Lebensmittel bei ausreichender Flüssigkeitszufuhr zu erreichen. Die Ernährung mit einer sogenannten "Vollkost" unterfällt indes nicht § 21 Abs. 5 SGB II, da es sich nicht um eine Krankenkost handelt, auf die die Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt (BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 – B 4 AS 100/10 R –, SozR 4-4200 § 21 Nr. 12, Rn. 25). Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Revision gegen das Urteil war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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