L 18 AS 2172/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 179 AS 12866/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 2172/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 2017 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Antragsgegner einstweilen zur Leistungsgewährung für den 8. Oktober 2017 und über den 31. Dezember 2017 hinaus verpflichtet hat. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners, über die nach Eingang der ergänzenden Äußerung des Antragsgegners vom 8. November 2017 zu befinden war, ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen war sie zurückzuweisen.

Es fehlt für den (auch) im Beschwerdeverfahren streitigen Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis 31. März 2018 schon an einem Anordnungsgrund für die vom Sozialgericht (SG) auch insoweit getroffene gerichtliche Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Insoweit sind mit einem Abwarten der Hauptsacheentscheidung keine nicht mehr rückgängig zu machenden Nachteile für die Antragstellerin verbunden, weil diese nach ihrem Vorbringen im Beschwerdeverfahren ab Januar 2018 wöchentlich Einkommen iHv 240,- EUR aus einer regelmäßigen Tätigkeit als Kinderbetreuerin (Familie Nordmann) erzielen wird. Ihr Bedarf ist daher gedeckt, zumal der vorrangige Einsatz auch nicht anrechenbaren Einkommens nach einer zusprechenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren ausgeglichen werden kann. Soweit das SG Leistungen (auch) für den 8. Oktober 2017 zugesprochen hat, was im Hinblick auf die Gründe des Beschlusses irrtümlich erfolgt sein dürfte, war der Beschluss ebenfalls aufzuheben. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, den Antragsgegner zur vorläufigen Leistungsgewährung bereits vor Stellung des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes am 9. Oktober 2017 zu verpflichten.

Im Übrigen ist die Entscheidung des SG indes zu bestätigen. Für den Zeitraum vom 9. Oktober bis zum 31. Dezember 2017 ist die vom SG getroffene Anordnung im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Es bedarf dabei keiner abschließenden Beurteilung, ob einem Anspruch der Antragstellerin auf die ausgeworfenen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) entgegensteht, dass sich deren Aufenthaltsrecht ggfs (nur) aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und daher der – insoweit wohl auch nach dem seit 29. Dezember 2016 geltenden Recht wirksame (vgl zur alten Rechtslage Bundessozialgericht - BSG -, Urteile vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 59/13 R ua – juris; vgl auch seine Rspr bekräftigend BSG, Urteil vom 30. August 2017 - B 14 AS 31/16 R -) - Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr 2b SGB II in der seither geltenden Fassung ggfs zum Tragen käme. Hierzu bedarf es weiterer, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren untunlicher Ermittlungen zu einem Aufenthaltsrecht der Antragstellerin aufgrund ihrer selbständigen Tätigkeit. Umfang, Inhalt und Dauer der behaupteten Tätigkeit ebenso wie das daraus erzielte Entgelt bzw deren etwaige krankheitsbedingte Unterbrechung bedürfen der weiteren Klärung durch ergänzende Ermittlungen in der Hauptsache, gerade auch im Hinblick auf die mit der Beschwerdeschrift aufgeworfenen Fragen des Antragsgegners. Diese weitergehenden Ermittlungen müssen aber, da hier die Gewährung vorläufigen, aber effektiven und damit zeitnahen Rechtsschutzes (vgl Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) in Rede steht, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Ist schon danach im Wege der verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung eine Leistungsverpflichtung des Antragsgegners im tenorierten Umfang im Hinblick auf die mögliche Eigenschaft der Antragstellerin als selbständig Tätige auszusprechen, gälte der Vorbehalt des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2b SGB II - wie das BSG zur alten Rechtslage ebenfalls ausdrücklich klargestellt hat (vgl BSG aaO) - im Übrigen nicht für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII). In Ansehung der Rechtsprechung des BSG bestehen auch erhebliche Zweifel, ob der vom Gesetzgeber insoweit als Klarstellung gedachte (parallele) Leistungsausschluss in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII grundgesetzkonform ist. Das BSG hat in der zitierten Rspr, der das Beschwerdegericht folgt, unmissverständlich auf Grundlage der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einen Anspruch von Betroffenen, wie der Antragstellerin, auf Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dh unmittelbar kraft Verfassungsrechts, bekräftigt. Dies gilt unverändert auch in Ansehung der seit 29. Dezember 2016 erfolgten gesetzlichen Neuregelung, die sich ebenfalls am Grundgesetz messen lassen muss. Auch insoweit hat daher eine Folgenabwägung, und zwar im ausgeworfenen Umfang zugunsten der Antragstellerin, zu erfolgen.

Die Antragstellerin (die sich in der Bundesrepublik Deutschland erlaubt aufhält ‹vgl. Art. 10 VO ‹EU› 492/2011›) dürfte im Übrigen von den Leistungen des § 23 Abs. 1 SGB XII im Übrigen weder gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 3 SGB XII (die Antragstellerin kann sich auf Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens ‹Bundesgesetzblatt 1956 Teil II S. 563› berufen; der Vorbehalt, den die Bundesregierung am 19. Dezember 2011 gegen dieses Abkommen erklärt hat, bezieht sich nur auf die "im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch [ ] vorgesehen Leistungen" und auf die "in dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch [ ] vorgesehenen Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten" ‹Bundesgesetzblatt 2011 Teil II S. 144; Bundesgesetzblatt 2012 Teil 2012 S. 470›) noch gemäß § 21 Satz 1 SGB XII (durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 ‹Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 3155› hat der Gesetzgeber anerkannt, dass die in § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II "genannten erwerbsfähigen Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen dem Leistungssystem des SGB XII zugewiesen" sind ‹vgl. Bundestagsdrucksache 18/10211 S. 14›) ausgeschlossen sein.

Der Antragsgegner wäre zwar für die Erbringung von SGB XII-Leistungen nicht zuständig, zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerade bei Leistungen der Existenzsicherung ist vorliegend aber auf die Wertung des § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) zurückzugreifen. Danach sind, wenn zwischen mehreren Trägern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, vorläufige Leistungen vom unzuständigen Träger zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt. Dies rechtfertigt zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, der bei einer Beiladung und Äußerungsmöglichkeit des Sozialhilfeträgers allein aus zeitlichen Gründen letztlich nicht zu gewährleisten wäre, die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners. Dieser ist, sollte sich im Hauptsacheverfahren im Ergebnis ein SGB II-Leistungsausschluss und ein Anspruch nach dem SGB XII ergeben, dann insoweit auf einen Erstattungsanspruch gegenüber dem SGB XII-Träger zu verweisen, zumal er den Leistungsantrag augenscheinlich auch nicht weitergeleitet hat.

Die Höhe der ausgeworfenen Leistungen für den Zeitraum vom 9. Oktober 2017 bis 31. Dezember 2017 richtet sich nach den zutreffenden Berechnungen des SG.

Durch die Beschwerdeentscheidung hat sich der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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