S 13 AS 133/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 13 AS 133/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 134/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 30/15 R
Datum
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2012 wird aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Absenkungsbescheides vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2012, mit dem für den Zeitraum 01.12.2011 bis 29.02.2012 ein vollständiger Wegfall des Arbeitslosengeldes II festgestellt wurde.

Der Kläger stand jedenfalls in den Jahren 2010 und 2011 im Bezug von Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II bei der Beklagten.

Unter dem 17.06.2011 unterzeichnete der Kläger eine Eingliederungsvereinbarung. Es wurde vereinbart, dass er monatlich zehn Eigenbewerbungen zu erbringen habe und diese unaufgefordert jeweils am 16. eines jeden Monats unaufgefordert vorzulegen habe. Eine Regelung über die Erstattung für Kosten der Bewerbungen enthielt die Vereinbarung nicht. In der Rechtsmittelbelehrung wurde darauf hingewiesen, dass bei der nächsten Pflichtverletzung (Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung) der vollständige Wegfall der Leistungen nach dem SGB II drohe. Für den Zeitraum 17.09.2011 bis 16.10.2011 kam der Kläger dieser Vereinbarung nicht nach.

Mit Schreiben vom 20.10.2011 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Absenkung der Leistungen nach dem SGB II an. Die Höhe der Absenkung lässt sich aus der Anhörung nicht entnehmen.

Unter dem 21.10.2011 stellte der Kläger einen Weiterbewilligungsantrag bei der Beklagten.

Der Kläger äußerte sich unter dem 10.11.2011 wie folgt zur beabsichtigten Absenkung: Da er keinen Computer habe, müsse er ins Internet Café, hierfür benötige er erst einmal Geld für eine Fahrkarte. Seine Mutter läge im Krankenhaus, und er habe sich sehr um deren Angelegenheiten kümmern müssen. Er habe 10 Bewerbungen abgegeben, diese seien von der Beklagten jedoch nicht angenommen worden, da sie zu spät gewesen seien (Bl. 375 d. VA). Im persönlichen Gespräch wurde er auf den vollständigen Wegfall der Leistungen aufgrund wiederholter Pflichtverletzungen hingewiesen.

Mit Bescheid vom 22.11.2011 senkte die Beklagte die Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.12.2011 bis 29.02.2012 vollständig ab. Auf die Gewährung von ergänzenden Sachleistungen in Form von Gutscheinen in Höhe von monatlich 167,00 Euro wurde hingewiesen (Bl. 378 d. VA).

Mit Bescheid vom 08.12.2011 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.12.2011 bis 31.05.2012. Im Zeitraum 01.12. bis 29.02.2012 kam es aufgrund der eingetretenen Absenkung der Leistungen zu keiner Auszahlung. Die Beklagte nahm für Dezember 2011 einen Bedarf in Höhe von 514,00 Euro und für die übrige Zeit einen Bedarf in Höhe von monatlich 191,00 Euro an.

Mit Schreiben vom 09.12.2011, eingegangen am 15.12.2011, legte der Bevollmächtigte des Klägers Widerspruch gegen den Absenkungsbescheid vom 22.11.2011 ein, der Bescheid sei aufzuheben, da der Kläger die geforderten Bewerbungen vorgelegt habe.

Mit Bescheid vom 09.01.2012 wurde der Widerspruch des Klägers als unbegründet zurückgewiesen, weil der Kläger seiner Verpflichtung aus der Eingliederungsvereinbarung vom 17.06.2011 nicht nachgekommen sei. Der Kläger habe am 10.11.2011 weniger als zehn Bewerbungen abgeben wollen, die alle nach dem 16.10. bzw. 21.10.2011 datiert gewesen seien.

Der Kläger erhob am 10.02.2012 Klage zum Sozialgericht Kassel.

Bewerbungsunterlagen seien vorgelegt worden, und durch die Erkrankung seiner Mutter sei der Kläger überdies an Bewerbungen gehindert gewesen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2012 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Zu Unrecht hat die Beklagte den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengeldes II des Klägers für den Zeitraum 01.12.2011 bis 29.02.2012 festgestellt.

Nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB II (i.d.F. v. 13.05.2011, im folgenden a.F.) verletzten erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Absatz 1 Satz 6 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen.

Nach § 31a SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt. Erklären sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte nachträglich bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann der zuständige Träger die Minderung der Leistungen nach Satz 3 ab diesem Zeitpunkt auf 60 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs begrenzen.

Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB II a.F. i.V.m. § 31 a SGB II liegen nicht vor. Es fehlt bereits an einer Pflichtenverletzung. Grundvoraussetzungen für eine Pflichtenverletzung im Sinne des § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB II a.F. ist die Existenz einer wirksamen Eingliederungsvereinbarung. Eine Absenkung nach § 31a SGB II kommt nur in Betracht, wenn eine wirksame und nicht nichtige Eingliederungsvereinbarung vorliegt (Berlit in LPK-SGB II, § 31 Rn. 18f, 5. Auflage 2013). Insoweit ist eine inzidente Prüfung der abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung vorzunehmen.

Die Beklagte stützt den Bescheid vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2012 auf die Eingliederungsvereinbarung vom 17.06.2011.

Nach der Auffassung der Kammer ist diese Eingliederungsvereinbarung jedenfalls im Hinblick auf den vereinbarten Nachweis von monatlich 10 Eigenbemühungen nichtig.

Die Kammer erachtet eine Vereinbarung über Eigenbemühungen als nichtig, wenn ein entsprechender Verwaltungsakt rechtswidrig wäre (so auch Berlit in LPK-SGB II, § 15 Rn. 33, 5. Auflage 2013). Ein Verwaltungsakt erweist sich dann als rechtswidrig, wenn dem Leistungsempfänger Pflichten auferlegt werden, die ihm nicht zumutbar sind. Dies ist der Fall, wenn kostenträchtige Maßnahmen von dem Leistungsempfänger verlangt werden, ohne dass konkrete Regelungen zur Übernahme dieser Kosten durch den Träger getroffen wurden (Berlit in LPK-SGB II, § 15 Rn. 29, 5. Auflage 2013).

Bei den Kosten für die Erstellung und den Versand von Bewerbungsunterlagen sowie den Reisekosten zu Vorstellungsgesprächen folgt aus der Möglichkeit der Kostenübernahme (§ 16 Abs. 1 i. V. m. §§ 44 ff., 63 SGB III; Anordnung über Leistungen an Arbeitnehmer zur Unterstützung der Beratung und Vermittlung), dass ihre (vollständige) Bestreitung aus der Regelleistung regelmäßig unzumutbar ist (Berlit in LPK-SGB II, § 2 Rn. 27, 5. Auflage 2013; Bieback in Gagel, SGB II / SGB III, § 2 Rn 21, 51. Ergänzungslieferung 2014, so auch im Ergebnis: LSG NRW, Beschluss vom 16.11.2012 – L 19 AS 2098/12 B ER und 21.06.2012 – L 19 AS 1045/12 B ER, L 19 AS 1046/12 B ER). Dies gilt insbesondere für die Fälle, wie im vorliegenden Verfahren, in denen die nächste Pflichtverletzung zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen nach dem SGB II für einen Zeitraum von drei Monaten führt. In diesem Zeitraum hat der Leistungsempfänger unstreitig kein Bargeld zur Verfügung, um Bewerbungen anzufertigen und zu versenden. Es kann ihm auch nicht aufgegeben werden, für einen solchen Fall einen Vorrat an Briefmarken und Druckerpapier o.ä. anzulegen, zumal ein eigener PC nebst Drucker nicht gezwungener Maßen zur Verfügung steht. In solchen Fällen kann es durch die fehlende Übernahmeregelung zu weiteren Pflichtverstößen in Folgezeiträumen kommen. Die Kostenübernahme ist auch unter dem Gesichtspunkt der hohen Anzahl an monatlichen Bewerbungen zu regeln. Bei der von der Beklagten üblicherweise erstatteten Pauschale von 5 Euro pro Bewerbung und maximal 260,00 Euro pro Jahr, können zehn Bewerbungen pro Monat nicht von der Beklagten erstattet werden. Dann muss für ihn jedoch klar erkennbar sein, dass er jedenfalls einen Teil der anfallenden Kosten erstattet bekommt.

Dem steht auch nicht entgegen, dass Leistungen nach § 16 SGB II i.V.m. § 44ff SGB III erst nach deren Anfall erstattet werden. Die erstatteten Leistungen für den vorherigen Monat können im Monat der vollständigen Absenkung zur Finanzierung der Bewerbungen verwendet werden. Einer tatsächlichen Regelung der Übernahme der Kosten bedurfte es auch deshalb, weil es sich um eine Ermessensleistung der Beklagten handelt. Bei fehlenden Regelungen zur Übernahme kann diese – freilich innerhalb des ihr zustehenden Ermessens – eine Kostenübernahme auch ablehnen.

Aus den vorliegenden Verwaltungsakten ergibt sich auch nicht, dass der Kläger Kenntnis von der Übernahmefähigkeit dieser Kosten gehabt hätte. Es findet sich kein entsprechender Antrag in den Verwaltungsakten. In den vorliegenden Eingliederungsvereinbarungen findet sich letztmalig im Jahr 2007 ein Hinweis auf eine mögliche Übernahme von Kosten, allerdings nur unter der allgemeinen Beschreibung von "Unterstützung von Bewerbungsbemühungen durch finanzielle Leistungen (UBV) nach Maßgabe des § 46 SGB III, nach vorherigem gesonderten Antrag". Ein solcher pauschaler Hinweis ohne konkrete Angabe zum Umfang der Unterstützung oder welche Bewerbungsbemühungen unterstützt werden, ist nicht geeignet, vier Jahre später die Beklagte von der Pflicht zur Regelung über die Kostenübernahme zu entbinden. Zumal die gesetzlichen Regelungen des SGB III in der darauf folgenden Zeit eine Neuordnung erfuhren.

Die Beklagte hat die Leistungsanträge des Klägers auch nicht nach dem Meistbegünstigungsprinzip dahingehend ausgelegt, dass dieser auch Leistungen nach § 16 SGB II i.V.m. § 44ff SGB III beantragt hat, eine entsprechende Bewilligung oder Ablehnung von der Kostenübernahme für Bewerbungen und/oder Bewerbungsgesprächen findet sich in den Verwaltungsakten nicht. Letztlich werden von der Beklagten nur nach gesondertem Antrag Bewerbungskosten übernommen (vgl. Eingliederungsvereinbarung aus dem Jahr 2007).

Nach alledem war der Klage statt zu geben.

Die Kostenentscheidung folgt § 193 SGG und der Entscheidung in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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