L 7 AS 513/16 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 32 AS 984/16 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 513/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Schlüssiges Konzept des Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge

1. Die VwV des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge vom 01.07.2013 in der Fassung der Fortschreibung vom 01.07.2014 zur Bestimmung der Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch genügt nicht den Anforderungen an ein "schlüssiges Konzept".
2. Der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in Gänze bildet keinen homogenen Lebens- und Wohnbereich ab.
3. Die Heranziehung von Wohnungsmarkttypen als örtlicher Vergleichsraum ist, da diese allein anhand mietpreisbildener Faktoren ermittelt werden, nicht möglich.
4. Die Stadt Pirna kann auf Grund ihrer Einwohnerzahl einen eigenen Vergleichsraum darstellen.
I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 12. Mai 2016 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Gestalt des durch die bislang bewilligten Leistungen nicht abgedeckten Bedarfs für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 105,44 EUR für die Zeit vom 01.03.2016 bis zum 31.01.2017.

Die Antragstellerin bezog vom Antragsgegner seit mehreren Jahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie wohnte seit Dezember 2011 in der Wohnung L-Straße in A ... Die Wohnung hatte eine Wohnfläche von 55,3 m². Seit November 2015 betrug die Gesamtmiete 441,69 EUR und setzt sich zusammen aus: 267,79 EUR Grundmiete, 106,30 EUR Betriebskostenvorauszahlungen und 67,60 EUR Vorauszahlung auf die Heizung.

Mit Schreiben vom 18.08.2015 forderte der Antragsgegner unter Bezugnahme auf die geltenden Maximalwerte im Landkreis Sächsische Schweiz – Osterzgebirge entsprechend der Verwaltungsvorschrift vom 08.07.2013 in der Fassung der Fortschreibung vom 01.07.2014 zur Bestimmung der Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (VwV Unterkunfts- und Heizungskosten) die Antragstellerin auf, die Kosten der Unterkunft zu senken und kündigte an, ab dem 01.03.2016 nur noch eine Bruttokaltmiete in Höhe von 268,65 EUR als angemessen anzuerkennen.

Mit Bescheid vom 11.01.2016 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin für den Zeitraum vom 01.02.2016 bis zum 31.01.2017 Leistungen nach dem SGB II. Ab März 2016 deckelte der Antragsgegner die Unterkunftskosten auf 268,65 EUR kalt und bewilligte ab diesem Zeitpunkt insgesamt 740,25 EUR monatlich. Anrechenbares Einkommen oder Vermögen war nicht vorhanden. Gegen diesen Bewilligungsbescheid erhob die Antragstellerin Widerspruch. Eine Entscheidung über den Widerspruch steht noch aus.

Am 01.03.2016 hat die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung dahingehend beantragt, dass ihr im Bewilligungszeitraum ab dem 01.03.2016 die Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe erbracht werden. Mit Beschluss vom 12.05.2016 hat das Sozialgericht dem Antrag stattgegeben und die begehrte einstweilige Anordnung erlassen. Die Begrenzung der monatlichen Unterkunftskosten auf die vom Antragsgegner als angemessen erachteten 268,50 EUR sei rechtswidrig, insbesondere könne die entsprechende Angemessenheitsgrenze nicht der VwV Unterhalts- und Heizkosten für den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge entnommen werden. Die zugrundeliegende Vergleichsraumbildung entspreche nicht den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept. Dieser Mangel lasse sich jedenfalls im Rahmen eines Eilverfahrens nicht beheben. Daher sei hilfsweise auf die Tabellenwerte nach § 12 Abs. 1 WoGG zurückzugreifen, so dass vorläufig die von der Antragstellerin zu zahlende Bruttokaltmiete in voller Höhe zu übernehmen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss des Sozialgerichts vom 12.05.2016 verwiesen. Der Beschluss wurde dem Antragsgegner am 17.05.2016 zugestellt, nachdem er zuvor bereits am 12.05.2016 per Fax übersandt wurde.

Am 12.05.2016 hat der Antragsgegner Beschwerde eingelegt. Der Beschluss sei fehlerhaft tenoriert. Streitgegenstand sei der Bescheid vom 11.01.2016. Zudem sei der Beschluss rechtswidrig, da die Folgenabwägung unzutreffend vorgenommen worden sei. Die Kosten der Unterkunft seien unangemessen, die Beschwerdegegnerin lebe in einer unangemessen großen Wohnung. Die von ihr genutzte Wohnung sei mit 55,3 m² für einen Ein-Personen-Haushalt unangemessen, da die Richtwerte der VwV Wohnflächenhöchstgrenze bei 45 m² lägen. Die unangemessen hohen Aufwendungen für die Unterkunft seien ausschließlich auf die unangemessen große Wohnung zurückzuführen. Das Kostensenkungsverfahren sei nicht angegriffen worden. Der Antragsgegner habe einen den Vorgaben der Rechtsprechung entsprechenden Vergleichsraum gebildet. Nach der Rechtsprechung des BSG sei ein räumlicher Vergleichsraum in abstrakt angemessener Art und Weise festzulegen, in welchem die angemessene Bruttokaltmiete definiert werden könne. Hierbei sei sicherzustellen, dass ausreichend große Räume der Wohnbebauung umfasst seien. Bei der Festlegung des Vergleichsraumes handele es sich um eine politische Feststellung, die gerichtlich nicht zur Überprüfung stehe. Es sei daher nicht zu beanstanden, den Vergleichsraum in den Grenzen der Gebietskörperschaft im Ganzen zu bilden. In der Begründung der Sächsischen Staatsregierung zum Sächsischen Verwaltungsneuordnungsgesetz vom 29.01.2008 sei die Einräumigkeit der Verwaltung ein wesentliches Kriterium für die Neubildung der Landkreise gewesen. Zuständigkeiten für Verwaltungsräume sollten sich nicht überschneiden. Um eine transparente, für Bürger und Unternehmen durchschaubare Verwaltungsstruktur zu schaffen, seien Aufgaben und Verantwortungsbereiche für Behörden, sonstige öffentliche Einrichtungen und Gerichte, soweit wie möglich nach dem Prinzip der Einheit von PIanungs-, Entscheidungs-, Vollzugs- und Kontrollräumen gestaltet worden. Nach diesem Grundsatz sei auch das Kreisrecht zu entwickeln. Dem Prinzip der Einräumigkeit folgend, könne es für eine Gebietskörperschaft bei der Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft nur einen Vergleichsraum geben. Die Untergliederung der Gebietskörperschaft in mehrere Vergleichsräume würde zu Überschneidungen führen. Eine politische Gemeinde darf aber der Rechtsprechung des BSG folgend nur einem Vergleichsraum zugeordnet sein. Würde man den Vergleichsraum unterhalb der Kreisgrenze bilden, widerspräche dies dem Prinzip der Einräumigkeit der Verwaltung. Die politischen Gemeindegrenzen seien fließend, sie liegen oftmals parallel zur Straße, also linke Straßenseite Y ..., die rechte A ... Um eine derartige Zergliederung der Vergleichsräume auszuschließen mit dem Ziel, einen nach mathematisch-statistischen Grundsätzen ermittelten Mietoberwert (Angemessenheitsgrenze) ermitteln zu können, seien großflächige Gebiete mit latenten Strukturunterschieden, die nicht den Charakter einer kreisfreien Stadt und eines Oberzentrums haben, in Wohnungsmarkttypen zu differenzieren. Nur die Bildung von Wohnungsmarkttypen unterhalb des Vergleichsraumes könne den hohen Anforderungen an ein schlüssiges Konzept gerecht werden. Die Zusammenfassung von Gebieten von gleicher oder ähnlicher Wohnungsmarkt- und Mietpreisstruktur werde von der Firma Analyse & Konzepte als Wohnungsmarkttypisierung bezeichnet und werde mit dem wissenschaftlich gebräuchlichen Verfahren der Clusteranalyse durchgeführt. Dieses Verfahren fasse diejenigen Gemeinden des Vergleichsraumes zusammen, die sich strukturell am ähnlichsten sind, unabhängig von ihrer räumlichen Lage im Kreis, also im Vergleichsraum. Der Wohnungsmarkttyp stelle somit eine Differenzierung der Angebotsstruktur innerhalb eines Vergleichsraumes dar. Bei der Bestimmung der Wohnungsmarkttypen handele es sich um einen weiteren eigenständigen Analyseschritt, der nach den Bestimmungen des Vergleichsraumes vorgenommen werde. An die Clusteranalyse könnten demzufolge nicht die gleichen Anforderungen wie zur Bestimmung des Vergleichsraumes gestellt werden. Das Sozialgericht habe hier in unzulässiger Rechtsauslegung eine Vermengung der Begriffe Vergleichsraum und Wohnungsmarkttyp vorgenommen und sei dann zu falschen rechtlichen Schlüssen gekommen. Die Methode, unterhalb eines Vergleichsraumes, der die Grenzen eines Landkreises umfasse, Wohnungsmarkttypen zu bilden, sei vom Thüringer Landessozialgericht in seiner Entscheidung vom 08.07.2015 - L 4 AS 718/14 bestätigt worden. Die Behauptung des Sozialgerichts die Kreise Gotha und Sächsische Schweiz-Osterzgebirge seien nicht vergleichbar, sei willkürlich. Im Landkreis Gotha lebten 2014 135.381 Einwohner. Die straßengebundenen Verkehrsträger Bus und Thüringer Waldbahn erbrachten im Jahr im Stadt- und Regionalverkehr 5.086.225 Fahrplankilometer. Je Einwohner betrage der Erschließungskomfort 37,57 Fahrplankilometer. Dem gegenüber hätten im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge im Jahr 2006 259.725 Einwohner gelebt. Es seien 10.726.000 FahrplankiIometer erbracht worden. Je Einwohner habe der Erschließungskomfort hier 41,33 Fahrplankilometer je Einwohner betragen und damit die Erschließungsqualität des Kreises Gotha übertroffen. Auch durchschneide die Elbe den Landkreis keineswegs. lm Landkreis seien drei Straßenbrücken gelegen. Anderenorts kann die Elbe mittels Fähre gequert werden. Die Fährverbindungen seien 16 bis 20 Stunden am Tag geöffnet. Gleiches gelte für die Autobahn. Der Landkreis Gotha werde von der BAB 4 durchquert und habe fünf Anschlussstellen im Kreisgebiet. Der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge werde von der Bundesautobahn (BAB) 17 durchquert und habe vier Anschlussstellen sowie die Grenzübergangsstelle Breitenau. Wie im Landkreis Gotha befände sich unmittelbar anliegend ein Flughafen. Weiter habe auch das Sozialgericht Augsburg in seiner Entscheidung vom 24.11.2015 - S 8 AS 984/15 hinsichtlich des Landkreises Günzburg die Bildung von Wohnungsmarkttypen durch Clusteranalyse bestätigt. Soweit das Gericht Zweifel im Hinblick auf die Größe bzw. der Zugehörigkeit am Vergleichsraum hege, hätte es einen eigenen Vergleichsraum bilden müssen. Das habe es in rechtswidriger Weise unterlassen und den Beschwerdeführer pauschal zur Vorlage von "Daten" aufgefordert. Hilfsweise werde vorgetragen, dass eine sicherere Erkenntnisquelle als die Wohngeldtabelle vorliege, denn A ... verfüge über einen Mietspiegel. Der Basismietwert bis 50 m² liege je nach Baujahr des Wohngebäudes zwischen 4,86 EUR und 5,53 EUR. Demzufolge sei eine dem SGB-II-Leistungsbezieher zumutbare Wohnung im unteren Segment mit 248,85 EUR angemessen. Die von Analyse & Konzepte ermittelte Angemessenheitsgrenze liege mit 268,65 EUR über diesem Basismietwert und sei daher nicht zu beanstanden.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 12.05.2016 aufzuheben und den Antrag abzuweisen.

Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht der Antragstellerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis 31.01.2017 vorläufig höhere Leistungen nach dem SGB II zugesprochen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst auf die ausführlichen und richtigen Gründe in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

Auch nach Auffassung des Senats steht die Vergleichsraumbildung für den gesamten Landkreis Sächsische Schweiz – Osterzgebirge als einen einheitlichen Vergleichsraum nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG. Nach der Rechtsprechung des BSG muss es sich bei einem örtlichen Vergleichsraum um einen ausreichend großen Raum der Wohnbebauung handeln, der aufgrund seiner räumlichen Nähe, seiner Infrastruktur und insbesondere seiner verkehrstechnischen Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Vergleichsraum bildet (BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 R, Rn. 18 ff.; Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R, Rn. 16). Der örtliche Vergleichsraum ist nach der Rechtsprechung des BSG in erster Linie der Wohnort des Leistungsberechtigten. Das BSG hatte bisher nicht nur für große Städte, sondern auch beispielsweise für die kreisangehörige Stadt H. einen eigenen Vergleichsraum angenommen (BSG, Urteil vom 16.05.2012 – B 14 AS 109/11 R, Rn. 5 und 24). Lediglich kleinere Gemeinden unter 10.000 Einwohnern hat das BSG als zu klein erachtet, um einen eigenen Mietwohnungsmarkt abbilden zu können (Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R). In der Literatur wird eine Mindestzahl von 10.000 Einwohnern für einen eigenen örtlichen Vergleichsraum entsprechend § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 des Wohngeldgesetzes (WoGG) gefordert (vgl. Lauterbach, Anm. zum BSG-Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R, SGB 2016 S. 529 ff.).

Dem genügt das Konzept des Antragsgegners nicht. Der Antragsgegner selbst führt aus, dass der Landkreis über unterschiedliche Strukturen der Wohnbebauung verfügt. So bringt er selbst das Beispiel, dass der Übergang von der Stadt A ... zur Stadt Y ..., die nicht zum Kreisgebiet des Antragsgegners zählt, fließend ist. Der Landkreis, den es in dieser Form ohnehin erst seit dem 01.08.2008 gibt, umfasst sowohl Gebiete mit städtischer Struktur als auch Gebiete mit ländlicher Bebauung, welche schon wegen ihrer räumlichen Entfernung keine einheitliche, gewachsene homogene Struktur bilden können. Die Heranziehung von Wohnungsmarkttypen als örtlicher Vergleichsraum kommt nicht in Betracht, da die Zuordnung der kreisangehörigen Städte und Gemeinden des Landkreises zu den Wohnungsmarkttypen auf der Basis mietpreisbildender Faktoren wie Bevölkerungsentwicklung, Bevölkerungsdichte, Siedlungsstruktur, Pro-Kopf-Einkommen und Tourismus erfolgt. Die räumliche Nähe und die infrastrukturelle Verbundenheit, die nach der Rechtsprechung des BSG von maßgeblicher Bedeutung ist, spielt hierbei keine Rolle.

In der Stadt A ..., in welcher die Antragstellerin lebt, leben mehr als 10.000 Einwohner. Sie kommt deswegen als eigener örtlicher Vergleichsraum in Betracht (vgl. für die Stadt Grimma das Urteil des Senats vom 01.06.2017 – L 7 AS 917/14, juris). In welcher Höhe dort dann aufgrund der dem Antragsgegner zur Verfügung stehenden Daten die Kosten der Unterkunft tatsächlich als angemessen erachtet werden, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben und rechtfertigt hier im Rahmen der Folgenabwägung die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG entsprechend.

Die Entscheidung ist unanfechtbar.

Dr. Anders Lang Czarnecki
Rechtskraft
Aus
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