L 26 AS 24/18 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
26
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 99 AS 13195/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 26 AS 24/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 2017 abgeändert. Der Beigeladene wird verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig Überbrückungsleistungen für die Zeit ab der Zustellung dieses Beschlusses an ihn für längstens einen Monat in Höhe eines Gesamtbetrags von 516,48 Euro für den vollen Monat, sonst anteilig, zu zahlen und die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen im Beschwerdeverfahren. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung erster Instanz. Den Antragstellerinnen wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten gewährt.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerinnen, mit der sie unter sachgerechter Auslegung ihres Vorbringens die Verpflichtung des Antragsgegners, wahlweise des Beigeladenen, zur Gewährung vorläufiger Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bzw. nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) begehren, ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 596/05 –).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind den hilfebedürftigen Antragstellerinnen bulgarischer Staatsangehörigkeit (zur Staatsangehörigkeit der Antragstellerin zu 2. siehe unten) nur Überbrückungsleistungen nach Maßgabe von § 23 Abs. 3 Sätze 3 und 5 SGB XII wie aus dem Tenor ersichtlich ab Zustellung des Beschlusses an den Beigeladenen zuzusprechen. Ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ist nicht glaubhaft gemacht.

Es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 1. als erwerbsfähige Leistungsberechtigte nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB II gehört. Sie und somit auch ihre 2016 und 2009 geborenen Töchter, die Antragstellerinnen zu 2. und 3., unterfallen dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der ab dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung. Die Antragstellerin zu 1. hat glaubhaft gemacht, sich seit dem 18. Dezember 2014 in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Dieses Datum wird als Einzugsdatum in der Auskunft des Landesamts für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten des Landes B angegeben. Die Meldebehörde bescheinigt ihr auch einen ununterbrochenen Aufenthalt in B.

Die Antragstellerin zu 1. ist während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nach ihren Angaben zunächst einer etwas mehr als dreimonatigen Tätigkeit als Reinigungskraft und anschließend einer etwa viermonatigen selbständigen Tätigkeit nachgegangen. Sie könnte sich daher allenfalls auf das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a Gesetz über die Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) berufen. Der Senat sieht wie das Sozialgericht, auf dessen Ausführungen der Senat insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG), keine Anhaltspunkte dafür, dass ein anderes Aufenthaltsrecht als zur Arbeitsuche (§ 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU) vorliegen könnte. Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen, mit dem ein Aufenthaltsrecht wegen Familienzusammenführung geltend gemacht wird, ist lediglich ergänzend, ohne dass es im Ergebnis darauf ankommt, auszuführen, dass die Einreise der Antragstellerin zu 1. im Dezember 2014 – unter Berücksichtigung einer regelmäßig neunmonatigen Schwangerschaft - nicht zum Zweck des Zusammenlebens mit dem in der Bundesrepublik lebenden Vater der Antragstellerin zu 2., dem türkischen Staatsangehörigen I H M(im Folgenden: IHM), erfolgt sein kann, denn diese ist erst am 23. Juli 2016 geboren. Entscheidend ist, dass nach dem eigenen Vorbringen der Antragstellerin zu 1. kein familiäres Zusammenleben mit IHM mehr besteht, denn dieser ist mittlerweile aus der Wohnung, in der er, so sein Vortrag gegenüber dem Antragsgegner unter dem 26. Juni 2017, nur als Untermieter lebte, zu einem nicht näher mitgeteilten Zeitpunkt ausgezogen. Das pauschale Vorbringen der Antragstellerin zu 1., IHM besuche die Antragstellerin zu 2. einmal in der Woche und unterstütze sie finanziell, vermag die Behauptung eines familiären Zusammenlebens der getrennt lebenden Eltern nicht glaubhaft zu machen. Ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerinnen kann auch nicht gemäß Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 aus dem behaupteten Schulbesuch der Antragstellerin zu 3. in der Bundesrepublik abgeleitet werden. Es kann dahin stehen, ob der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II in der ab dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung verfassungsrechtlich bedenklich ist. Maßgebend ist vielmehr, dass die Antragstellerin zu 3. zu einem Zeitpunkt in die Bundesrepublik eingereist ist, zu dem ihre Mutter, die Antragstellerin zu 1., schon lange nicht mehr beschäftigt war und deshalb kein Aufenthaltsrecht hatte. Schließlich lässt sich ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1. nicht damit begründen, dass die Antragstellerin zu 2. die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben könnte, denn gemäß § 4 Abs. 3 Staatsangehörigkeitsgesetz setzt dies u. a. ein unbefristetes Aufenthaltsrecht eines Elternteils voraus. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht erfüllt, denn das Aufenthaltsrecht des IHM ist bis zum 10. März 2018 befristet.

Eine Verpflichtung des Beigeladenen zur Gewährung vorläufiger Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII scheidet ebenfalls aus. Die Antragstellerinnen können gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII aus den oben genannten Gründen keine Leistungen nach § 23 Abs. 1 oder nach dem vierten Kapitel des SGB XII beanspruchen. Der Senat ist von der Verfassungswidrigkeit der Leistungsausschlüsse gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a und b SGB II bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII insbesondere im Hinblick auf die vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, Überbrückungsleistungen oder Leistungen im Härtefall, § 23 Abs. 3 Satz 3 und 6 SGB XII, in Anspruch zu nehmen, nicht überzeugt (so auch Beschlüsse des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 24. April 2017 – L 8 SO 77/17 B ER –, LSG Nordrhein-Westfalen vom 16. März 2017 – L 19 AS 190/17 B ER –, LSG Berlin-Brandenburg vom 13. Februar 2017 – L 23 SO 30/17 B ER –, Hessisches LSG vom 20. Juni 2017 – L 4 SO 70/17 B ER –; jeweils zitiert nach juris). Er sieht außerdem keinen Verstoß gegen Europarecht. Die Leistungsausschlüsse lassen sich vielmehr europarechtlich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 11. November 2015 – C-333/13 – und 3. Dezember 2015 – C-67/14 – stützen, mit denen der Gerichtshof den Leistungsausschluss für Staatsangehörige eines anderen Mitgliedsstaats für zulässig erachtet hat, die, wie die Antragstellerin zu 1., keinerlei Verbindung zum Arbeitsmarkt haben oder noch nicht einmal auf Arbeitsuche sind (vgl. Korte in LPK – SGB II, 6. A. 2017, § 7 RdNrn. 27 und 30).

Damit bleiben die Antragstellerinnen aber nicht sich selbst überlassen. Der Gesetzgeber hat in § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen geschaffen, der ohne weitere Vorbedingungen (kein Antragserfordernis) und ohne dem Sozialhilfeträger einen Ermessensspielraum einzuräumen jedem hilfebedürftigen Ausländer, der - wie die Antragstellerinnen - dem Leistungsausschluss unterfällt, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren eingeschränkte Hilfen gewährt. Diese in § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII näher ausgestalteten Überbrückungsleistungen können im Einzelfall, für dessen Vorliegen der Senat hier aber keine Anhaltspunkte hat, sowohl für eine längere Zeit als auch in abweichender Höhe erbracht werden (§ 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII).

Während des einmonatigen Zeitraums sind den Antragstellerinnen ab Zustellung dieses Beschlusses bei dem Beigeladenen Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege nach § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 1 SGB XII zu gewähren. Zur Bestimmung der Leistungshöhe orientiert sich der Senat an § 5 Abs. 1 und § 6 Abs. 1 des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG).

Danach betragen, bezogen auf die Antragstellerin zu 1., die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben der Einpersonenhaushalte der danach einschlägigen Abteilungen 1 und 2 137,66 Euro und der Abteilung 6 15,- Euro, insgesamt 152,66 Euro für den vollen Monat, sonst entsprechend anteilig. Außerdem sind ihr kopfteilige Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von 176,33 Euro, ausgehend von einer Monatsmiete von 529,- Euro, sowie zur Deckung eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung, 30 Abs. 7 SGB XII, in Höhe von 9,41 Euro zu zahlen.

Die Antragstellerin zu 2. kann nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 RBEG 87,16 Euro (Abteilungen 1 und 2: 79,95 Euro + Abteilung 6: 7,21 Euro) und Leistungen zur Deckung der kopfteiligen Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von 176,33 Euro sowie zur Deckung eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung in Höhe von 1,90 Euro beanspruchen. Auf den Gesamtanspruch von 265,39 Euro ist das Kindergeld in Höhe von 194,- Euro bedarfsmindernd anzurechnen. Es bleibt ein individueller Anspruch in Höhe von 71,39 Euro für den vollen Monat.

Der Anspruch der Antragstellerin zu 3. setzt sich zusammen aus einem Sozialgeld von 120,84 Euro (Abteilungen 1 und 2: 113,77 Euro + Abteilung 6: 7,07 Euro), Leistungen zur Deckung der kopfteiligen Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von 176,33 Euro sowie zur Deckung eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung in Höhe von 3,49 Euro. Nach Abzug des Kindergelds von dem Gesamtbetrag von 300,66 Euro verbleibt ein ungedeckter Bedarf von 106,66 Euro.

Außerdem wird der Beigeladene dem Grunde nach verpflichtet, den Antragstellerinnen ab Zustellung dieses Beschlusses für einen Monat die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen (§ 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 3 SGB XII) zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog und trägt dem Ergebnis in der Sache Rechnung.

Den Antragstellerinnen wird gemäß § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Festsetzung von Monatsraten und aus dem Vermögen zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten bewilligt, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung auch nur anteilig aufzubringen, und ihre Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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