L 7 AS 2299/17 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 13 AS 1520/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 2299/17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 09.11.2017 geändert. Der Klägerin wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin T, L, beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt Prozesskostenhilfe für ein auf die Bewilligung von existenzsichernden Leistungen gerichtetes Klageverfahren.

Die am 00.00.1963 geborene Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie lebt seit Januar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin ist verheiratet, lebt aber von ihrem Ehemann, der in Bulgarien wohnt, getrennt. Sie ist derzeit obdachlos und erreichbar über den "N Selbsthilfe U eV (N eV)" in L1. Von Mai 2015 bis zum 30.09.2015 war die Klägerin als Reinigungskraft bei der Fa. Q GmbH beschäftigt. Ab 03.09.2015 war die Klägerin befristet bei der Fa. B Gebäude- und I-Service GmbH 15 Wochenstunden tätig. Das zunächst bis zum 02.03.2016 befristete Arbeitsverhältnis wurde im April 2016 in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt. Vom 20.06.2016 bis zum 26.07.2016 hatte die Klägerin Urlaub. Vom 27.07.2016 bis zum 31.07.2016 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom 11.07.2016 kündigte die Fa. B per Einwurf-Einschreiben das Arbeitsverhältnis zum 31.07.2016. Auf Anfrage der Bevollmächtigten der Klägerin übersandte die Fa. B das Kündigungsschreiben erneut am 08.12.2016. Eine Lohnzahlung erfolgt seit August 2016 nicht mehr.

Der Beklagte bewilligte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von November 2015 bis Februar 2017. Am 17.01.2017 beantragte die Klägerin die Weiterbewilligung der Leistungen. Mit Bescheid vom 19.01.2017 lehnte der Beklagte den Antrag ab, da die Klägerin weder über einen fortbestehenden Arbeitnehmerstatus noch über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU verfüge. Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, die Kündigung vom 11.07.2016 nicht erhalten zu haben. Erst mit der Übersendung an die Bevollmächtigte im Dezember 2016 sei die Kündigung wirksam geworden. Daher habe sie länger als 12 Monate in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, weshalb ihr der Arbeitnehmerstatus gem. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU erhalten bleibe.

Mit Bescheid vom 23.03.2017 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin sei lediglich vom 03.09.2015 bis zum 31.07.2016 ununterbrochen und somit nicht mehr als 12 Monate Arbeitnehmerin gewesen. Sie sei daher gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 18.04.2017 Klage erhoben und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Sie hat ergänzend zu ihrem Vorbringen im Widerspruchsverfahren geltend gemacht, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei verfassungswidrig. Im Hinblick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren seien Leistungen jedenfalls in Anwendung von § 41a Abs. 7 SGB II zu zahlen. Hilfsweise hat sie beantragt, die Stadt L beizuladen und zu verpflichten, ihr "Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des 3. Kapitels SGB XII zu gewähren".

Einen Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung von Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 29.03.2017 abgelehnt. Mit Beschluss vom 21.06.2017 (L 12 AS 807/17 B ER) hat das LSG Nordrhein-Westfalen die Beschwerde der Klägerin zurückgewiesen.

Mit Beschluss vom 09.11.2017 hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die Klägerin unterfalle dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Sie habe nur vom 03.09.2015 bis zum 31.07.2016, also weniger als 12 Monate, in einem Arbeitsverhältnis gestanden, weshalb die Arbeitnehmereigenschaft im streitigen Zeitraum nicht als fortbestehend anzusehen sei. Das Arbeitsverhältnis zur Fa. B sei wirksam zum 31.07.2016 beendet worden. Anderweitige Aufenthaltsrechte seien weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin vom 29.11.2017.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren, weil sie die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt und die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg iSd §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 ZPO bietet.

Ein Rechtsschutzbegehren hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen Rechtsfrage abhängt (BVerfG Beschlüsse vom 14.02.2017 - 1 BvR 2507/16, vom 04.05.2015 - 1 BvR 2096/13 und vom 09.10.2014 - 1 BvR 83/12; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 03.08.2015 - L 19 AS 1284/15 B; ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 15.02.2016 - L 7 AS 1681/15 B). Prozesskostenhilfe ist auch zu bewilligen, wenn in der Hauptsache eine Beweisaufnahme erforderlich ist und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen wird (Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl., § 73a Rn. 9 mwN).

Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg in diesem Sinne. Ob die Klägerin die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllt (insbesondere hilfebedürftig ist) und ob sie dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterliegt, ist fraglich und bedarf weiterer Überprüfung im Hauptsacheverfahren.

Der Leistungsausschluss greift nicht, wenn die Klägerin über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU verfügt. Zwar ist die Klägerin seit August 2017 keine Arbeitnehmerin mehr. Da die Klägerin nach dem 31.07.2016 keine tatsächliche Beschäftigung mehr ausgeübt hat, entfiel ihre Arbeitnehmereigenschaft zu diesem Zeitpunkt, ungeachtet eines evtl. fortbestehenden Rechtsverhältnisses zum Arbeitgeber. Insoweit schließt der Senat sich den Ausführungen des 12. Senats im Beschluss vom 21.06.2017 (L 12 AS 807/17 B ER) an.

Das Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin bleibt jedoch gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Nach Aktenlage war die Klägerin mehr als ein Jahr als Arbeitnehmerin tätig, da sie von Mai 2015 bis Juli 2016 in einem Arbeitsverhältnis stand. Der Umstand, dass sie innerhalb dieses Zeitraum den Arbeitgeber gewechselt hat, ist unbeachtlich. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU setzt keine ununterbrochene Tätigkeit von mehr als einem Jahr voraus. Selbst durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Tätigkeiten können das gesetzliche Erfordernis erfüllen. Dies folgt aus einer an Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte des FreizügG/EU ausgerichteten Gesetzesauslegung (ausführlich hierzu BSG Urteil vom 13.07.2017 - B 4 AS 17/16 R mwN). Die weiteren Voraussetzungen von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU sind nicht im Verfahren über die Prozesskostenhilfe abschließend zu prüfen.

Davon unabhängig stellt die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit den Vorgaben des BVerfG an die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, eine schwierige Rechtsfrage dar, die nicht abschließend in Verfahren über die Prozesskostenhilfe zu beantworten ist. Auf die Vorlage des SG Mainz (Beschluss vom 18.04.2016 - S 3 AS 149/16) ist ein Verfahren vor dem BVerfG (1 BvL 4/16) anhängig, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. I, 857) mit Art. 1 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist. Das BVerfG hat sich zu dieser Frage noch nicht abschließend geäußert (vgl. BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 04.10.2016 - 1 BvR 2778/13). Es hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt, dass die entscheidungserheblichen Rechtsfragen zu einem Anspruch auf existenzsichernde Leistungen für nicht erwerbstätige, nicht ausreisepflichtige ausländische Staatsangehörige nach Normen des SGB II und SGB XII schwierig und ungeklärt sind (BVerfG Beschluss vom 14.02.2017 - 1 BvR 2507/16). Dies gilt namentlich, nachdem durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen nach dem SGB II und in der Sozialhilfe vom 22.12.2016 (BGBl I, 3155) ab 29.12.2016 eine Neuregelung u.a. dahingehend erfolgt ist, dass Ausländer, für die der Leistungsausschluss gilt, keine Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung). Damit wollte der Gesetzgeber ausdrücklich und in Abwendung von der bis dahin geltenden Rechtsprechung des BSG klarstellen, dass "den ausgeschlossenen Personen weder ein Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 zusteht noch dass ihnen Leistungen im Ermessenswege gewährt werden" (BT-Drucks. 18/10211, 16). Die Gesetzeslage hat sich damit gegenüber der Rechtslage, die dem Vorlagebeschluss des SG Mainz zugrunde lag, zu Lasten der betroffene Personen noch verschärft, so dass die Rechtslage nicht im Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung als geklärt angesehen werden kann (ausführlich zur verfassungsrechtlichen Diskussion Frings/Janda/Kessler/Steffen, Sozialrecht für Zuwanderer, 2. Aufl. Rn. 359 ff).

Dem kann nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, dass durch die Neuregelung in § 23 Abs. 3 Satz 3 ff SGB XII für hilfebedürftige Ausländer ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach dem SGB XII begründet wurde, der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II evtl. begegnet (bejahend u.a. LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 01.08.2017 - L 6 AS 575/17 B ER und vom 16.03.2017 - L 19 AS 190/17 B ER; LSG Hessen Beschluss vom 20.06.2017 - L 4 SO 70/17 B ER; verneinend SG Speyer Beschluss vom 17.08.2017 - S 16 AS 908/17 ER). Diese Annahme dürfte - unabhängig davon, dass noch keine abschließende verfassungsgerichtliche Beurteilung erfolgt ist - mindestens voraussetzen, dass ein den Vorgaben des BVerfG entsprechender Anspruch auf anderweitige Leistungen nach dem SGB XII besteht. Diese Frage muss im anhängigen Klageverfahren geklärt werden. Zwar ist dem Sozialgericht dahingehend Recht zu geben, dass Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 ff SGB XII gegenüber dem von der Klägerin primären begehrten Arbeitslosengeld II ein aliud darstellen dürften (LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 05.04.2017 - L 9 SO 83/17 B und vom 16.03.2017 - L 19 AS 190/17 B ER; Bayerisches LSG Beschluss vom 24.04.2017 - L 8 SO 77/17 B ER). Eine Verurteilung des Trägers der Sozialhilfe nach § 75 Abs. 5 SGG setzt jedoch nicht voraus, dass es sich bei den geltend gemachten Ansprüchen um ein "Minus" gegenüber dem Hauptanspruch handelt, sondern dass die Ansprüche in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen (Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, 12. Aufl., § 75 Rn. 12 mwN). Dies dürfte bei einem Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw. alternativ einem Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 ff SGB XII bei Eingreifen eines Leistungsausschlusses der Fall sein.

Prozessuale Hindernisse stehen einer Beiladung des Sozialhilfeträgers und dessen Verurteilung nicht entgegen. Allerdings hat die Klägerin ausdrücklich nur Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII beantragt, wozu Leistungen nach § 23 SGB XII, die dem Zweiten Kapitel zugeordnet sind, nicht gehören. Dies ist jedoch bei interessengerechter Interpretation des Klagebegehrens nicht dahingehend zu verstehen, dass die Klägerin anderweitige existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII, die ihr evtl. zustehen, nicht geltend machen will. Sie ist insoweit ggfs. auf eine Präzisierung der Antragstellung hinzuweisen (§ 106 Abs. 1 SGG). Die Verurteilung des Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 SGG setzt die Durchführung eines Vorverfahrens nicht voraus (Fock, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. § 75 Rn 22; Gall in JurisPK SGG § 75 Rn. 194).

Ob nach Beiladung des Sozialhilfeträgers ein Anspruch nach § 23 Abs. 3 Satz 3 ff SGB XII besteht, ist nicht im Verfahren über die Prozesskostenhilfe abschließend zu prüfen. Der Senat weist darauf hin, dass nach neuerer obergerichtlicher Rechtsprechung (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 20.06.2017 - L 15 SO 104/17 B ER) jedenfalls fraglich ist, ob die Anwendung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in jedem Fall eine Ausreiseabsicht des Hilfebedürftigen voraussetzt. Nach Auffassung des Senats dürfte eine Ausreiseabsicht jedenfalls dann nicht erforderlich sein, wenn individuelle, in der Person des Betroffenen liegende Gründe eine sofortige Rückkehr in das Herkunftsland unzumutbar erscheinen lassen. Allenfalls dann dürfte die Annahme, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen verfassungsrechtlichen Einwänden begegnet, bedenkenfrei sei. Auch insoweit ist der Sachverhalt weiter aufklärungsbedürftig.

Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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