S 52 AS 4382/17

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
52
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 52 AS 4382/17
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Länge der nach § 41a Abs 3 S 3 SGB II zu setzenden Frist bemisst sich nach den Einzelfallumständen. Eine Mindestfrist von 2 Monaten gilt nicht (Anschluss an Anschluss an SG Berlin vom 25.9.2017 - S 179 AS 6737/17, entgegen SG Augsburg vom 3.7.2017 - S 8 AS 400/17)

2. § 41a Abs 3 S 3 SGB II enthält keine Präklusionsvorschrift. Einkommensangaben der Leistungsberechtigten erst im Widerspruchsverfahren sind bei der endgültigen Festsetzung des Leistungsanspruchs zu berücksichtigen. (Anschluss an Anschluss an SG Berlin vom 25.9.2017 - S 179 AS 6737/17)

3. Ist der Leistungsbezieher zur Mitwirkung im Widerspruchsverfahren ausdrücklich bereit, muss das Jobcenter Gelegenheit zur Vorlage der Unterlagen geben. § 41a Abs 3 S 3 SGB II verdrängt nicht den Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X.

4. Die Zurückweisung von Originalunterlagen bei der Ermittlung von leistungserheblichen Tatsachen zur endgültigen Festsetzung ist unzulässig. Ein entsprechender Hinweis macht die Rechtsfolgenbelehrung nach § 41a Abs 3 S 3 SGB II fehlerhaft.

5. Die Nullfestsetzung nach § 41a Abs 3 S 4 SGB II ist eine spezielle Ausprägung der Versagung nach § 66 SGB I und ohne materiellrechtliche Wirkung. Durch Nachholung der Mitwirkungshandlung kann sie beseitigt werden. (entgegen SG Dortmund vom 08.1217 - S 58 AS 2170/17)
I. Die Bescheide vom 5.7.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.10.2017 werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über den endgültigen Leistungsanspruch des Klägers vom März 2016 bis August 2016 an den Beklagten zurückverwiesen. II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. III. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des endgültigen Leistungsanspruchs des Klägers im Zeitraum 01.03.2016 bis 31.08.2016 und einen Erstattungsbescheid des Beklagten über 4.422,24 EUR.

Der 1973 geborene, in Deutschland allein lebende, vermögenslose und erwerbsfähige Kläger war im streitbefangenen Zeitraum als Bauingenieur selbständig tätig. Er bezog ergänzend zu den Einkünften aus selbständiger Tätigkeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten.

Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 31.03.2016 vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 737,04 EUR (401,94 EUR Regebedarf und 335,10 EUR Bedarf für Unterkunft und Heizung). Der Beklagte prognostizierte ein monatliches Durchschnittseinkommen in Höhe von 102,58 EUR. Der Bescheid enthielt u.a. folgende Belehrung:

"Ich weise Sie darauf hin, dass Sie verpflichtet sind, bereits im laufenden Bewilligungszeitraum anzuzeigen, wenn sich leistungsrechtlich erhebliche Änderungen ergeben und entsprechende Nachweise vorzulegen."

Mit Schreiben vom 06.12.2016, zugestellt am 08.12.2016, forderte der Beklagte den Kläger auf, Unterlagen und Nachweise für eine abschließende Entscheidung über acht Bewilligungszeiträume, insgesamt über den Zeitraum 01.09.2012 bis 31.08.2016 bis zum 10.02.2017 vorzulegen. Dabei forderte der Beklagte in Kopie das unterschriebene Formular abschließende Angaben zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit (Anlage EKS) für die Zeiträume 01.03.2015 bis 31.08.2015, 01.09.2015 bis 29.02.2016 sowie 01.03.2016 bis 31.08.2016. Weiter forderte er in Kopie ungeschwärzte vollständige Auszüge sämtlicher privater und geschäftlicher Konten und führte aus, unter welchen Umständen er Schwärzungen der Sollbuchungen für zulässig hielt; zudem "alle nicht geschwärzten Ausgangsrechnungen in nicht geschwärzter Form" mit Nachweisen zum Zahlungseingang sowie weitere näher benannte Unterlagen zu Kfz- und Versicherungskosten, zu Telefon- und Reisekosten. Für die Zeiträume 01.09.2012 bis 28.02.2013, 01.03.2013 bis 31.08.2013, 01.09.2013 bis 28.02.2014, 01.03.2014 bis 31.08.2014 sowie 01.09.2014 bis 28.02.2015 forderte der Beklagte in Kopie alle Ausgangsrechnungen in nicht geschwärzter Form mit Nachweisen zum Zahlungseingang und ungeschwärzte vollständige Auszüge sämtlicher privater und geschäftlicher Konten.

Weiter enthielt das Schreiben vom 06.12.2016 u.a. folgende Passagen:

"Bitte beachten Sie, dass keine Originalbelege mehr entgegengenommen werden dürfen.

Gemäß § 3 Abs. 4 S. 1 ALG II-V ist für jeden Monat ist der Teil des Einkommens zu berücksichtigen, der sich bei der Teilung des Gesamteinkommens im Bewilligungszeitraum durch die Anzahl der Monate im Bewilligungszeitraum ergibt. Daraus folgt, dass sich Ihre Mitwirkungsverpflichtung auf alle Monate des Bewilligungszeitraums erstreckt. Daraus folgt weiter, dass bei einem Ausbleiben der Mitwirkung – auch für nur einzelne Monate – die Voraussetzungen für das Bestehen eines Leistungsanspruchs in den oben genannten Bewilligungszeiträumen insgesamt nicht geprüft werden können.

Bitte beachten Sie daher ganz besonders die nachfolgende Rechtsfolgenbelehrung:

Kommen Sie oder die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer Nachweispflicht * nicht, * nicht vollständig oder * nicht fristgemäß bis zum vorgenannten Termin nach, werde ich abschließend feststellen, dass ein Leistungsanspruch nicht bestanden hat und die vorläufigen Leistungen von Ihnen im vollen Umfang zurückzuerstatten sind."

Das Schreiben führt weiter aus, was der Kläger tun könne, wenn ihm die fristgemäße Vorlage der Unterlagen nicht möglich sei und schließt mit dem nochmaligen Hinweis:

"Bitte beachten Sie, dass grundsätzlich keine Originalunterlagen mehr entgegen genommen werden können."

Der Kläger legte ein Antwortschreiben vom 20.01.2017 an diesem Tag in einen Briefkasten des Postdienstleisters PostModern ein. Diese Schreiben befindet sich nicht in den Akten des Beklagten.

Mit Bescheiden vom 05.07.2017 setzte der Beklagte die Leistungen für den Kläger für die Leistungszeiträume 01.09.2012 bis 28.02.2013, 01.03.2013 bis 31.08.2013, 01.09.2013 bis 28.02.2014, 01.03.2014 bis 31.08.2014, 01.09.2014 bis 28.02.2015, 01.03.2015 bis 31.08.2015, 01.09.2015 bis 29.02.2016 sowie 01.03.2016 bis 31.08.2016 jeweils auf 0,00 EUR fest. Zugleich erließ er Erstattungsbescheide. Insgesamt fordert der Beklagte vom Kläger 31.105,84 EUR zurück. Für den Leistungszeitraum 01.03.2016 bis 31.08.2016 fordert der Beklagte 4.422,24 EUR zurück. Der Kläger wäre seiner Mitwirkungspflicht auf das Schreiben vom 06.12.2016 nicht nachgekommen.

Mit Schreiben vom 10.07.2017, beim Beklagten eingegangen am 11.07.2017, widersprach der Kläger für alle Leistungszeiträume. Er sei bisher immer der rechtzeitigen Abgabe der Anträge und Nachreichung fehlender Unterlagen nachgekommen. Zu seiner Entlastung lege er nochmals die Anschreiben bei: Schreiben vom 24.09.2014 (Anlage EKS abschließend für 01.09.2012 bis 28.02.2013, 01.03.2013 bis 31.08.2013, 01.09.2013 bis 28.02.2014), Schreiben vom 18.05.2015 (Anlage EKS abschließend für 01.03.2014 bis 31.08.2014, 01.09.2014 bis 28.02.2015) und Schreiben vom 20.01.2017 (Anlage EKS abschließend für 01.03.2015 bis 31.08.2015, 01.09.2015 bis 29.02.2016, 01.03.2016 bis 31.08.2016). Außerdem schrieb er:

"Ich biete Ihnen an, die fehlenden Anträge erneut zu zusenden."

Mit Widerspruchsbescheiden vom 02.10.2017 wies der Beklagte den Widerspruch (für jeden Leistungszeitraum gesondert) zurück. Eine Reaktion auf das Schreiben vom 06.12.2016 sei nicht erfolgt. Nach Aktenlage läge ein Schreiben vom 20.01.2017 nicht vor.

Hiergegen erhob der Kläger am 19.10.2017 Klage zum Sozialgericht (S 52 AS 4077/17). Die Einreichung erfolgte elektronisch (via EGVP) ohne qualifizierte elektronische Signatur. Mit unterschriebenen Anschreiben vom 01.11.2017, eingegangen bei Gericht am 02.11.2017, reichte der Kläger die Klage nochmals auf Papier ein. In seinem Widerspruch vom 10.07.2017 habe er auf seine Schreiben vom 24.09.2014, 18.05.2015 und 20.01.2017 verwiesen und angeboten, die Unterlagen erneut zuzusenden. Dies sei offensichtlich ignoriert worden. Er sei bereit, sämtliche Unterlagen nochmals einzureichen. Dies stelle für ihn einen nicht unerheblichen Aufwand dar.

Mit mehreren Schreiben, die beim Gericht am 20.12.2017 eingingen, reichte der Kläger sämtliche vom Beklagten geforderte Unterlagen bei Gericht ein. Die Unterlagen enthielten teilweise Schwärzungen. Am 11.01.2018 legte der Kläger die Unterlagen nochmals dem Gericht vor – nunmehr ohne Schwärzungen.

Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 05.07.17 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.10.17 aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung über den endgültigen Leistungsanspruch an den Beklagten zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Kläger hätte mit Schreiben vom 24.09.2014 und 18.05.2015 Unterlagen eingereicht. Diese hätten nicht ausgereicht. Der Kläger sei im Schreiben vom 06.12.2016 aufgefordert worden, die erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Er sei belehrt und eine angemessene Frist sei gesetzt worden. Ein Schreiben vom 20.01.2017 sei nicht beim Beklagten eingegangen. Es finde sich in keiner Akte. Im Widerspruchsverfahren seien die Unterlagen nicht erneut abgefordert worden, denn § 41a Abs. 3 SGB II gäbe nach endgültiger Festsetzung keinen Raum für die Nachholung. Eine neuerliche Einreichung im Widerspruchs- oder Klageverfahren vermöge die Entscheidung nicht zu ändern. § 41a Abs. 3 und 4 SGB II sperrten eine neuerliche Prüfung.

Mit Beschluss vom 06.11.2017 trennte das Gericht aus der Klage S 52 AS 4077/17 die Abrechnungszeiträume Nr. 2 bis 8 der Klageschrift ab. Anhängig waren demnach in den Verfahren die Leistungszeiträume wie folgt:

Klage Leistungszeitraum S 52 AS 4077/17 01.09.2012 bis 28.02.2013 S 52 AS 4376/17 01.03.2013 bis 31.08.2013 S 52 AS 4377/17 01.09.2013 bis 28.02.2014 S 52 AS 4378/17 01.03.2014 bis 31.08.2014 S 52 AS 4379/17 01.09.2014 bis 28.02.2015 S 52 AS 4380/17 01.03.2015 bis 31.08.2015 S 52 AS 4381/17 01.09.2015 bis 29.02.2016 S 52 AS 4382/17 01.03.2016 bis 31.08.2016

Das Gericht hat die Verfahren S 52 AS 4077/17, S 52 AS 4376/17, S 52 AS 4377/17, S 52 AS 4378/17, S 52 AS 4379/17, S 52 AS 4380/17, S 52 AS 4381/17, S 52 AS 4382/17 mit den Beteiligten am 11.1.2018 gemeinsam mündlich verhandelt, ohne dass die Verfahren förmlich verbunden gewesen wären. Auf das Protokoll vom 11.1.2018 und darin enthaltenen Erklärungen wird Bezug genommen. Das Gericht hat zudem die Leistungsakten des Beklagten angefordert und beigezogen, die beim Gericht am 20.12.2017 in Form von sieben Bänden Leistungsakten (brauner Aktendeckel), zwei Bänden nicht paginierten "S-Akten" (rosa Aktendeckel) und einem Band Ausdruck elektronische Akte eingingen, diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Auf diese sowie den Inhalt der Gerichtsakten, insbesondere die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten, wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

A. Die Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG zulässig und im Sinne der Zurückverweisung an den Beklagten begründet. Die Erhebung der Klage erfolgte insbesondere in der erforderlichen Form. Die elektronische Einreichung am 19.10.2017 entsprach mangels qualifizierter elektronischer Signatur nicht der erforderlichen Form, §§ 65a Abs. 1, 90 SGG; 2 Abs. 3 SächsEJustizVO jeweils in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung. Die am 02.11.2017 eingegangenen Schriftstücke entsprachen der erforderlichen Form und gingen innerhalb der Klagefrist des § 87 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 SGG ein. Die Festsetzung- und Erstattungsbescheide vom 05.07.17 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.10.17 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten.

B. Der Kläger erfüllte im streitbefangenen Zeitraum 01.03.2016 bis 31.08.2016 die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 19 Satz 1 SGB II für den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, denn er hatte das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, war erwerbsfähig und hielt sich gewöhnlich in Deutschland auf. Der vermögenslose Kläger war angesichts der in den vorläufigen Entscheidungen bemessenen Bedarfe und angesichts des von ihm im Klageverfahren vorgetragenen, nicht bedarfsdeckenden Einkommens auch hilfebedürftig, § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 3, § 9 Abs. 1 SGB II. Ausschlussgründe liegen nicht vor.

I. Nachdem der Beklagte bestandskräftig vorläufig bewilligt hatte, und das tatsächliche Einkommen des Klägers von der Prognose abwich, war der Leistungsanspruch endgültig festzusetzen, § 41a Abs. 3 S. 1 SGB II (mit Wirkung zum 1. August 2016 eingefügt mit dem "Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht" vom 26. Juli 2016, BGBl. I, S. 1824). Da der streitbefangene Leistungszeitraum bis 31.08.2016 lief und damit vor dem 1. August 2016 noch nicht beendet war, ist § 41a SGB II anzuwenden, § 80 Abs. 2 Nr. 2 SGB II.

Die Voraussetzungen für die vom Beklagten vorgenommene, endgültige Festsetzung des Leistungsanspruchs des Klägers auf null sind nicht erfüllt. Nach § 41a Abs. 3 SGB II setzen die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende den monatlichen Leistungsanspruch abschließend fest, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Die leistungsberechtigte Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen sind nach Ablauf des Bewilligungszeitraums verpflichtet, die von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen; die §§ 60, 61, 65 und 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer Nachweis- oder Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht, nicht vollständig oder trotz angemessener Fristsetzung und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht fristgemäß nach, setzen die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende den Leistungsanspruch für diejenigen Kalendermonate nur in der Höhe abschließend fest, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen wurden. Für die übrigen Kalendermonate wird festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand.

Die vom Beklagten dem Kläger gesetzte Frist ist angemessen. Die schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen dürfte den Anforderungen nicht mehr genügen. Allerdings hätte der Beklagte auf den Widerspruch des Klägers diesem Gelegenheit zur nochmaligen Vorlage der Unterlagen geben müssen, um den tatsächlichen endgültigen Leistungsanspruch des Klägers berechnen zu können bzw. ist mit der Vorlage der abgeforderten Unterlagen die Rechtsgrundlage für eine Nullfestsetzung nachträglich entfallen, denn eine Nachholung der Mitwirkungshandlung ist grundsätzlich möglich.

1. Die dem Kläger gesetzte Frist ist nach Auffassung der Kammer angemessen. Nach § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II ist den Leistungsberechtigten eine angemessene Frist zur Erklärung der abschließenden Angaben zu setzen. Der Beklagte hat dem Kläger mit Schreiben vom 06.12.2016 Frist bis zum 10.02.2017 gesetzt, was nach Zugang am 08.12.2016 einem Zeitraum von geringfügig mehr als zwei Monaten entspricht. Die Frist ist unter Berücksichtigung der individuellen Interessen des Leistungsberechtigten einerseits und dem Interesse der Behörde an einer fristgerechten Festsetzung andererseits nach den Einzelfallumständen zu bemessen. Zwar hat der Beklagte hier Unterlagen für vier Jahre angefordert, allerdings waren keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Frist für den Kläger zu kurz gewesen wäre, nachdem der Kläger vorgetragen hat, die Unterlagen am mit Schreiben vom 20.01.2017 versandt zu haben. Eine starre Zwei-Monats-Frist gibt das Gesetz nach Auffassung der Kammer nicht vor (anders mit Verweis auf den bis 31. Juli 2016 geltenden § 3 Abs. 6 der Alg II-V: SG Augsburg, Urteil vom 03. Juli 2017 – S 8 AS 400/17 –, Rn. 24, juris), sie wäre hier indessen eingehalten.

2. Die Kammer hat ihre Entscheidung tragend auf die erfolgte Nachholung der Mitwirkung gestützt. Gleichwohl dürfte die vom Beklagten vorgenommene Belehrung den gesetzlichen Anforderungen nicht mehr genügen. Nach § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II sind die Leistungsberechtigten schriftlich über die Rechtsfolgen einer nicht fristgerechten Einreichung von Angaben und Unterlagen zu belehren. Nach der Rechtsprechung des BSG sind Leistungsberechtigte über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung konkret, verständlich, richtig und vollständig zu belehren. Dabei kommt es auf den objektiven Erklärungswert der Belehrung an (zur Belehrung vor Erlass von Sanktionen vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2010 – B 14 AS 92/09 R –, juris), zutreffend SG Berlin, Urteil vom 25. September 2017 – S 179 AS 6737/17 –, juris, Rn. 66. Hier folgt die Belehrung des Beklagten in Teilen dem Wortlaut des Gesetzes. Der Beklagte hat die anspruchsvolle sprachliche Gestaltung des Gesetzgebers für den Rechtslaien verständlich gestaltet, indem er die Formen der Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit gesondert hervorgehoben dargestellt hat und unmissverständlich deutlich gemacht hat, dass bei fehlender Mitwirkung "die vorläufigen Leistungen im vollen Umfang zurückzuerstatten sind". Unrichtig dürfte die Belehrung – und Praxis des Beklagten – sein, Originale der abgeforderten Unterlagen zurückzuweisen. § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I benennt vorzulegende "Beweisurkunden". Hierauf ist die Obliegenheit dessen gerichtet, der Sozialleistungen beantragt oder erhält. Gemeint ist die Vorlage im Original (vgl. § 420 ZPO), andernfalls ist schon der Urkundenbegriff des § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I gar nicht erfüllt. Die vom Beklagten geforderte Überlassung einer Abschrift ist demgegenüber etwas anderes. Hierfür fehlt eine gesetzliche Grundlage. Wenn der Beklagte eine Abschrift der Urkunden im Verfahren benötigt, kann er diese Auslagen nicht auf den Kläger abwälzen, denn das Verfahren ist gebühren- und auslagenfrei, § 64 Abs. 1 S. 1 SGB X. Insbesondere bei Selbständigen sind typischerweise eine nicht unerhebliche Anzahl von Urkunden vorzulegen, erst recht wenn für vier Jahre abschließende Unterlagen abgefordert werden. Die Kosten für die Kopien sind daher nicht unerheblich. Aus der Fehlerhaftigkeit der Belehrung folgt die Rechtwidrigkeit der Nullfestsetzung, denn die Belehrung ist Tatbestandsvoraussetzung nach § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II, vgl. auch die Urteile des BSG zu Sanktionen, Urteil vom 18. Februar 2010 – B 14 AS 53/08 R –, juris, Rn. 18 ff = BSGE 105, 297-304; Urteil vom 15. Dezember 2010 – B 14 AS 92/09 R –, juris, Rn. 24.

3. Auf die weitere Voraussetzung des § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II für die Feststellung, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand, dass der Kläger seiner Nachweis- oder Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht oder nicht vollständig nachgekommen ist, kann sich der Beklagte nicht berufen, denn er hat dies vereitelt. Der Kläger hat vor der abschließenden Entscheidung im Sinne von § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II mitgeteilt, zur Vorlage der Unterlagen bereit zu sein. Für den Beklagten war ersichtlich, dass der Kläger davon ausging, dass er die Unterlagen mit Schreiben vom 20.01.2017 eingereicht hätte. Da der § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II ein Mitwirken "bis zur abschließenden Entscheidung" zulässt, muss der Beklagte dem Kläger diese Möglichkeit einräumen. Denn abschließenden Entscheidung im Sinne des § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II ist die Widerspruchsentscheidung.

An der Wahrhaftigkeit des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er habe am 20.01.2017 persönlich die Unterlagen in die Post, nämlich in einen Briefkasten des Unternehmens PostModern gegeben, hatte die Kammer keine Zweifel. Indessen konnte dem Kläger die Beweisführung des Zugangs beim Beklagten damit allein nicht gelingen. Der Kläger muss nicht die Aufgabe zu Post, sondern den Zugang beim Beklagten als für ihn günstige Tatsache beweisen. Ein fehlender Zugang beim Beklagten folgt nicht daraus, dass ein Schreiben des Klägers vom 20.01.2017 sich nicht in den Akten des Beklagten befand. Die Akten des Beklagten sind ungeeignet, den vollständigen Ablauf des Verfahrens nachzuweisen. Dies ergibt sich schon daraus, dass nicht abschließend aufzuklären war, welche Unterlagen in welche Akten (braune oder rosa Akten) geheftet werden. Zudem lässt die fehlende Paginierung der rosa Akten nicht nachvollziehen, wann welche Blätter dort eingeheftet und vielleicht wieder entnommen wurden. Die rosa Akten enthalten zwar Trennblätter für die Leistungszeiträume und dahinter offenbar die eingereichten Unterlagen ohne Posteingangsstempel (diese finden sich auf den zugehörigen Anschreiben in den braunen Akten). Allerdings finden sich in den rosa Akten auch andere Blätter, z.B. solche zu Antragsverfahren des Klägers bei Gericht, eine Abschrift des Gesellschaftsvertrages des Ingenieurbüros des Klägers. In der ersten Heftung des Bandes II der rosa Akten befindet sich eine Zweitschrift des Schreibens des Beklagten vom 06.12.2017 und die PZU im Original. In der zweiten Heftung liegen Unterlagen zum Leistungszeitraum März 2012 bis August 2012, in der dritten Heftung Unterlagen mit Eingangsstempel 02.02.2017. Sodann kommt die Hauptheftung mit Trennblättern für die Leistungszeiträume September 2010 bis Februar 2015. Nicht aufklären konnte die Kammer nach welchem System welche Blätter in welche Akte genommen werden. Auch die paginierten braunen Akten werden nicht chronologisch geführt, Schriftstücke werden dort in willkürlicher Reihenfolge eingeheftet, vgl. nur Band IV. Daher konnte die Kammer aus den Akten nichts zum Zugang ableiten. Allerdings gab es nach Darlegung der der Postläufe durch den Beklagten auch keine Anhaltspunkte, dass eingehende Schreiben nicht beim zuständigen Team landen würden oder abhanden gekommen wären. Ein Verlust auf dem Postweg war nicht ausgeschlossen. Es gibt keinen Erfahrungssatz, nach dem zur Post aufgegebene Unterlagen immer ihren Empfänger erreichen; gleich gar nicht für das Unternehmen PostModern, dessen für die sächsische Justiz erbrachte Dienstleistungen sich durchaus Kritik ausgesetzt sehen. Mithin fehlt ein Anschein für den Zugang. Die Tatsache ließ sich nicht aufklären. Da der Kläger für die ihm günstige Tatsache beweisbelastet war, hat die Kammer eine Beweislastentscheidung getroffen und konnte einen Zugang der Unterlagen beim Beklagten nicht feststellen.

Die Vorlage der Unterlagen erfolgte daher nicht in der vom Beklagten gesetzten Frist. Dem Beklagten war aber aus der Widerspruchsbegründung ersichtlich, dass der Kläger davon ausging, dass dem Beklagten die Unterlagen vorliegen. Die Kammer hält eine Vorlage bis zur Entscheidung des Beklagten über den Widerspruch auf Grund des Wortlautes des § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II ("bis zur abschließenden Entscheidung") für ausreichend.

Zur Frage, wie dieser Begriff in § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II auszulegen ist, führt das SG Berlin, Urteil vom 25. September 2017 – S 179 AS 6737/17 –, juris, Rn. 72 ff. aus: Bislang ungeklärt ist, welcher Zeitpunkt mit der Bezeichnung "bis zur abschließenden Entscheidung" im Sinne von § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II zu verstehen ist. Nach Auffassung der Kammer ist dies der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. [ ]

Der maßgebliche Zeitpunkt ist auch nicht die Bekanntgabe der Festsetzungsentscheidungen vom 28. März 2017 an den Kläger. Denn ein Verwaltungsakt des Beklagten ergeht in Gestalt des Widerspruchsbescheides, §§ 85, 95 SGG. Bei Erlass der Widerspruchsentscheidung hatte der Beklagte somit die Angaben des Klägers zu berücksichtigen.

Der Kläger war mit dem weiteren Vorbringen nicht ausgeschlossen. § 41a Abs. 3 SGB II regelt entgegen der Auffassung des Beklagten keine Präklusionsvorschrift. Der Ausschluss eines späteren Vorbringens ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck der Vorschrift. Für die Normierung einer Präklusion hätte der Gesetzgeber bestimmen müssen, dass ein weiteres Vorbringen nach Bekanntgabe der Festsetzungsentscheidung ausgeschlossen ist. Eine solche Regelung fehlt. Auch aus der Gesetzesbegründung folgt kein Anhaltspunkt für einen Willen, eine Ausschlussfrist zu regeln (vgl. BT-Drs. 18/ 8041, S. 51 ff). Zur Erreichung des Gesetzeszwecks ist eine Präklusion zulasten der Leistungsberechtigten nicht erforderlich. Zweck der Vorschrift ist eine Beschleunigung der Festsetzungsentscheidungen nach vorläufiger Bewilligung. Die Möglichkeit des Beklagten, bei fehlender Mitwirkung ohne Vornahme einer individuellen Schätzung ein Fehlen des Leistungsanspruchs feststellen und damit die erste Stufe des Verwaltungsverfahrens abschließen zu können, beschleunigt das Festsetzungsverfahren in ausreichendem Maße. Dass der Beklagte bei Nachholung der Mitwirkung im Widerspruchsverfahren gegebenenfalls in eine erneute Sachprüfung eintreten muss, entspricht dem Gedanken des Widerspruchverfahrens, in welchem die materielle und formelle Rechtmäßigkeit sowie die Zweckmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung nachzuprüfen ist.

Dem schließt sich die Kammer vollumfänglich an. § 41a Abs. 3 und 4 SGB II sperren eine neuerliche Prüfung nicht, dazu sogleich.

Wenn aber die Vorlage bis zu abschließenden Entscheidung möglich ist und der Beklagte weiß, dass der Kläger annimmt, seiner Obliegenheit nachgekommen zu sein, kann er nicht ohne neuerliche Anforderung entscheiden. Der Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X wird durch § 41a Abs. 3 und 4 SGB II nicht außer Kraft gesetzt.

Die Kammer hält es für unverhältnismäßig, wenn eine Mitwirkungshandlung des Klägers, die ohne dessen Wissen fehlschlägt (z.B. Verlust auf dem Postweg), die hier in Rede stehenden gravierenden Folgen haben sollte (in Summe 31.105,84 EUR Erstattungsforderungen), ohne, dass nur eine einzige Überprüfung der materiellen Rechtlage möglich sein sollte – in einem System in dem sonst zur Überprüfung ein Vorverfahren, ein bis zu dreizügiges Gerichtsverfahren und die Überprüfungsmöglichkeit nach § 44 SGB X zur Verfügung stehen. Daher wäre auch auf Basis der Rechtsauffassung des Beklagten eine rückwirkende Fristverlängerung nach § 26 Abs. 7 S. 2 SGB X und Abforderung der Unterlagen indiziert gewesen. (Nach den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit soll ein Antrag auf Wiedereinsetzung nach § 27 SGB X statthaft sein, Rn 41a.26, Stand 20.12.2017, der hier mit der Widerspruchseinlegung gestellt sein dürfte. Ein Verschulden des Klägers ist bei Verlust auf dem Postweg nicht ersichtlich. Im Übrigen streitet diese Weisung dafür, dass es sich nicht um eine materielle Ausschlussfrist handeln kann.)

4. Unabhängig von der Auslegung des Begriffs "bis zur abschließenden Entscheidung" in § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II ist bei Vorlage der angeforderten Unterlagen eine Sachentscheidung über den abschließenden monatlichen Leistungsanspruch zu treffen. Der Kläger hat die geforderten und erforderlichen Unterlagen jedenfalls in der mündlichen Verhandlung am 11.01.2018 vorgelegt. Der Beklagte muss daher über den tatsächlichen endgültigen Leistungsanspruch des Klägers entscheiden.

Die Kammer ist, wie gezeigt der Auffassung, dass § 41a Abs. 3 SGB II keine Präklusionsvorschrift regelt und der Ausschluss eines späteren Vorbringens sich weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt. Für die Normierung einer Präklusion hätte der Gesetzgeber bestimmen müssen, dass ein weiteres Vorbringen nach Bekanntgabe der Festsetzungsentscheidung ausgeschlossen ist, siehe oben das Zitat des Urteils des SG Berlin. Richtigerweise stellt die Regelung des § 41a Abs. 3 SGB II Sonderrecht zu den §§ 60 ff. SGB I dar, weil der Gesetzgeber meinte, eine nicht vorhandene Lücke schließen zu müssen, ausführlich Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 41a Rn 43 ff. Darauf deutet die Formulierung "Die leistungsberechtigte Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen sind auch nach Ablauf des Leistungsbezugs verpflichtet, alle vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende geforderten leistungserheblichen Tatsachen anzugeben. Die Mitwirkungspflichten bei Antragstellung und Leistungsbezug bleiben unberührt. Es wird klargestellt, dass einzelne Vorschriften des SGB I zur Mitwirkungspflicht und deren Grenzen zeitlich auch über den Leistungsbezug hinaus entsprechend gelten." in der Begründung des Regierungsentwurfs auf S. 53 BT-Drs 18/8041 hin. Tatsächlich galten die Mitwirkungsobliegenheiten nach den §§ 60 ff. SGB I aber bereits vor der Neuregelung in § 41a SGB II bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung, BSG, Urteil vom 10. November 1977 – 3 RK 44/75 –, juris = BSGE 45, 119-126; Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 41a Rn 42, 44.

Zu betonen ist, dass damit auch § 67 SGB I gilt und anwendbar bleibt. Aus der (überflüssigen) Normierung "die §§ 60, 61, 65 und 65a des Ersten Buches gelten entsprechend" in § 41a Abs. 3 S. 2 letzter HS SGB II lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten, weil schon die in Bezug genommen Normen vor der Regelung des § 41a SGB II direkt galten und weiterhin direkt gelten.

Da § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II eine gebundene Nullfestsetzung vorsieht, auch wenn der Leistungsträger weitere Ermittlungsoptionen hat und weil aus der Gesetzesbegründung nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber die Amtsermittlungspflicht für die abschließende Entscheidung in Gänze abschaffen wollte, geht die Kammer davon aus, dass der Gesetzgeber ein besonderes Druckmittel geschaffen hat, um die Mitwirkung der leistungsberechtigten Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu erreichen, so auch Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 41a Rn 49.

Daraus folgt, dass die Entscheidung nach § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II auch keine materiellrechtliche Wirkung hat, sondern eine spezielle Ausprägung der Versagung nach § 66 SGB I darstellt. Durch Nachholung der Mitwirkungshandlung kann sie beseitigt werden, Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 41a Rn 49 f., anders wohl Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 80 Rn 10, Stand: 16.08.2017 und Conradis in Münder, SGB II, 6. Auflage 2017, § 41a Rn. 12 jeweils ohne die Frage zu problematisieren, anders mit Verweis auf die fehlende Inbezugnahme auf § 67 SGB I in § 41a Abs. 3 Satz 2 SGB II SG Dortmund, Urteil vom 08. Dezember 2017 – S 58 AS 2170/17 –, juris, Rn. 30. Für die Behauptung, dass in der Überprüfung einer Nullfestsetzung nach § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II, sei es im Widerspruchsverfahren oder im Verfahren nach § 44 SGB X, nur die Voraussetzungen des § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II überprüft werden, fehlt ein tragendes Argument. Denn dieser Umstand unterscheidet die Nullfestsetzung nach § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II nicht von der Versagung oder Entziehung nach § 66 Abs. 1 SGB I, Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 41a Rn 51. Zudem berücksichtigt die Kammer, dass der Gesetzgeber mit § 44 SGB X eine Regelung getroffen hat, mit der sich das individuelle Interesse an einer materiell-rechtlich richtigen Entscheidung abweichend vom allgemeinen Verwaltungsrecht in zeitlichen Grenzen trotz Bestandskraft von Verwaltungsakten durchsetzen lässt. Dass der Gesetzgeber mit dem "Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht" vom 26. Juli 2016 und seinem § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II hiervon über die Maßgaben des § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II hinaus der Verwaltungsvereinfachung ohne weitere materiell-rechtliche Überprüfungsmöglichkeit Vorrang vor der materiell-rechtlichen Richtigkeit einräumen wollte, sieht die Kammer nicht.

Die Kammer verkennt nicht, dass in der Wissenschaft für die Gegenauffassung argumentiert wird. Nach Gagel/Kallert, 67. EL September 2017, SGB II § 41a Rn. 85 schaffen § 41a Abs. 3 S. 3 und 4 SGB II ein von §§ 66 f. SGB I abweichendes Regime von Rechtsfolgen bei einer Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten. Demnach hätte sich der Gesetzgeber jedoch erkennbar dafür entschieden, dass die Jobcenter bei unzureichender Mitwirkung trotz weiter ungeklärtem Sachverhalt eine Entscheidung in der Sache zu treffen hätten (aaO Rn. 86). Diese Auffassung führt zur verfassungsrechtlich problematischen Ergebnissen, denn nach dem Wortlaut von § 41a Abs. 3 S. 3 und 4 SGB II müssten Nullfestsetzungen auch erfolgen, wenn der Sachverhalt mit der geforderten Mitwirkung gar nicht abschließend aufgeklärt werden könnte oder die Mitwirkungsobliegenheit gar nicht den Adressaten der Nullfestsetzung trifft (sondern z.B. ein Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft oder gar ein jetzt ehemaliges Mitglied der Bedarfsgemeinschaft): Die Entscheidung nach § 41a Abs. 3 S. 3 und 4 SGB II mit materieller Wirkung müsste nach dieser Auffassung auch erfolgen, wenn der Beklagte noch gar nicht Ermittlungen nach § 60 Abs. 2 bis 4 SGB II vorgenommen oder abgeschlossen hat oder sogar bei positiver anderweiter Kenntnis der leistungserheblichen Tatsachen. Die zitierte Auffassung will dem für die Konstellation des § 60 Abs. 4 SGB II durch verfassungskonforme und enge Auslegung des § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II beikommen, Gagel/Kallert, 67. EL September 2017, SGB II § 41a Rn. 87. Die Gesetzesbegründung verweist auf die Amtsermittlung und Feststellung in der Höhe, "soweit dies ohne die Mitwirkung der Leistungsberechtigen möglich ist", BT-Drs 18/8041 S. 53, ohne dass dies im Gesetzeswortlaut seinen Niederschlag gefunden hätte; vgl. auch Formann SGb 2016, 615, 618 der dazu tendiert, ohne weitere Ermittlungen Ablehnung und damit Nullfestsetzung für richtig zu halten.

Die zitierte Auffassung verhält sich nicht dazu, wann welche Mitwirkungsobliegenheiten bestehen. Nach der hier vertretenen Auffassung gelten die Mitwirkungsobliegenheiten nach den §§ 60 ff. SGB I bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung – genauso: BSG, Urteil vom 10. November 1977 – 3 RK 44/75 –, juris = BSGE 45, 119-126; Kemper in Eichler/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 41a Rn 42, 44. Nach § 41a Abs. 3 S. 2 SGB II tritt die Mitwirkungsobliegenheit der leistungsberechtigten Person und der mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen "nach Ablauf des Bewilligungszeitraums" ein. Die zitierte Auffassung könnte ein Auslaufen der Mitwirkungsobliegenheiten nach den §§ 60 ff. SGB I nach Bestandskraft der vorläufigen Bewilligung oder mit Ablauf des Bewilligungszeitraums annehmen (oder ab Aufforderung durch das Jobcenter, so Formann SGb 2016, 615, 617). In der ersten Variante bliebe die Verpflichtung aus dem vorläufigen Bescheid, leistungserhebliche Änderungen anzuzeigen ohne Rechtsgrundlage (so z.B. Formann SGb 2016, 615, 617). Tritt im Leistungszeitraum ein Ereignis auf, in dessen Folge der Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf eintreten können, würde eine Mitwirkungsobliegenheit nach § 62 SGB I in allen Varianten zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen.

Die hier vertretene Auffassung vermeidet die Schwierigkeiten der Gegenauffassung.

Nachdem der Kläger die Unterlagen vorgelegt hatte, war kein Raum mehr für die Nullfestsetzung. Sie ist rechtswidrig.

II. Die Voraussetzungen der Erstattungsforderungen des Beklagten sind nicht erfüllt. Die Voraussetzungen nach § 41a Abs. 6 SGB II i.V.m. § 50 Abs.1 S. 1 SGB X sind nicht erfüllt. Danach sind die aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen auf die abschließend festgestellten Leistungen anzurechnen und sind zu Unrecht erbrachte Leistungen zu erstatten. Wie vorstehend ausgeführt, sind die abschließend festgestellten Leistungen zu Unrecht mit einem Betrag von jeweils 0,00 EUR festgestellt, so dass die Grundlage für eine vollständige Rückforderung fehlt. Ob die Erstattungsforderungen gegebenenfalls teilweise berechtigt sind, konnte die Kammer offenlassen, da zurückverwiesen wurde.

III. Die Kammer hat die angegriffenen Entscheidungen des Beklagten gemäß § 131 Abs. 5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung an den Beklagten zurückverwiesen. Nach § 131 Abs. 5 SGG kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Dies gilt nach Satz 2 auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs. 4 SGG.

Die Voraussetzungen sind erfüllt. Für die Feststellung des endgültigen Leistungsanspruchs des Klägers im streitbefangenen Leistungszeitraum ist eine weitere Sachaufklärung erforderlich. Die vom Kläger eingereichten Unterlagen sind auszuwerten und zu bewerten. Gegebenenfalls sind Ausgaben nicht abzusetzen oder Einnahmen angemessen zu erhöhen, § 3 Abs. 3 ALG II-V. Die Ermittlungen sind nach Art und Umfang erheblich, eine Feststellung des Beklagten ist trotz des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes unter Berücksichtigung der Belange beider Beteiligter sachdienlich. Insoweit sind auch die Erstattungsforderungen des Beklagten neu festzusetzen oder gegebenenfalls nachträglich Leistungen in anderer Höhe zu bewilligen. Es ist zwar Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen. Allerdings ist es nicht gerichtliche Aufgabe, anstellte der Behörde erstmals umfassende Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und den Leistungsanspruch zu berechnen, vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2015, B 14 AS 30/14 R, juris für reine Anfechtungsklagen; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 131 Rn 17 ff.; SG Augsburg, Urteil vom 03. Juli 2017 – S 8 AS 400/17 –, juris, Rn 29; SG Berlin, Urteil vom 25. September 2017 – S 179 AS 6737/17 –, juris, Rn 84 ff ...

Die Frist des § 131 Abs. 5 S. 5 SGG von sechs Monaten nach Eingang der Akten bei Gericht ist noch nicht abgelaufen.

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Zulässigkeit der Berufung folgt aus § 143, 144 SGG. Die Kammer hat nach § 161 Abs. 1 S. 1 SGG die Sprungrevision zugelassen. Die Voraussetzungen nach § 161 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegen vor. Denn das vorliegende Verfahren hat grundsätzliche Bedeutung für eine Vielzahl von Verfahren. In der Kammer und am Sozialgericht Dresden sind eine Vielzahl von Verfahren anhängig, in denen die Voraussetzungen für eine endgültige Festsetzung des Leistungsanspruchs trotz der Verletzung von Nachweispflichten durch den Leistungsberechtigten gemäß § 41a Absatz 3 Sätze 3 und 4 SGB II für die Entscheidung erheblich sind, insbesondere die Frage ob die Mitwirkungshandlung nachgeholt werden kann. Die Entscheidung der Kammer weicht von der Weisung der Bundesagentur für Arbeit ab. Die von der Bundesagentur für Arbeit vertretene Rechtsauffassung vertreten auch der Beklagte und andere Leistungsträger im Gerichtsbezirk. Schließlich sind die aufgeworfenen Rechtsfragen teilweise bereits beim Bundessozialgericht anhängig, B 4 AS 39/17 R, dort allerdings in der Konstellation der tatsächlichen Nachholung im Widerspruchsverfahren. Soweit das Bundessozialgericht dort der Ausgangsentscheidung folgt, bliebe die Frage, ob eine Nachholung der Mitwirkungshandlung nach Entscheidung über den Widerspruch möglich ist, offen.
Rechtskraft
Aus
Saved