L 3 AS 73/18 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AS 130/18 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 73/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt durch die Ausländerbehörde und die Begründung der Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizugG/EU hat, solange der Bescheid nicht bestandskräftig ist und auch nicht für sofort vollziehbar erklärt worden ist, keine Auswirkungen auf den bereits bestehenden Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II.
I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 23. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im vorliegenden Verfahren über die Frage, ob der aus Polen stammende Antragsteller von der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) ausgeschlossen ist, nachdem die Ausländerbehörde nach einem länger als fünfjährigen Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit festgestellt, jedoch der Antragsteller gegen den Bescheid Widerspruch mit aufschiebender Wirkung erhoben hatte.

Der am 1961 in Y ... geborene Antragsteller besitzt die Staatsangehörigkeit von Polen. Er reiste erstmalig am 22. September 1988 in das Bundesgebiet ein. Aufgrund einer Ausweisungsverfügung wegen unerlaubten Aufenthaltes vom 22. April 2003 wurde er am 23. April 2003 nach Polen abgeschoben.

Am 14. September 2009 reiste er erneut in das Bundesgebiet ein und erhielt am 17. Mai 2011 eine Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche. Vom 11. März 2010 bis zum 15. Dezember 2010 betrieb er bereits in Deutschland ein Gewerbe als Hausmeisterservice beziehungsweise Kraftfahrer. Anschließend war der Antragsteller vom 27. Juni 2011 bis zum 12. November 2011 bei der Bäckerei X ... in W ... und nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom 12. September 2012 bis zum 15. Februar 2013 bei der Firma V ... GmbH beschäftigt. Er erzielte zuletzt im Februar 2013 ein Bruttoeinkommen in Höhe von 792,00 EUR. Ab diesem Zeitpunkt war er überwiegend als arbeitsunfähig eingestuft oder krankgeschrieben. Seit dem 1. Januar 2014 bezog er regelmäßig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Ausweislich eines Gutachtens der Bundesagentur für Arbeit vom 15. Februar 2015 ist der Antragsteller für leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig leistungsfähig. Der Antragsteller verfügt derzeit über kein Einkommen und keinerlei Vermögen.

Ausweislich der erweiterten Meldebescheinigung vom 14. Oktober 2016 ist der Antragsteller seit dem 14. September 2009 durchgängig mit wechselnden ständigen Wohnsitzen in A ... gemeldet; seit dem 14. Februar 2014 unter der aktuellen Adresse. Ein Nebenwohnsitz besteht nicht.

Die Stadt A ..., welche zum Verfahren beigeladen wurde, erließ gegenüber dem Antragsteller am 8. Mai 2017 einen Bescheid, welcher feststellt: "1. Für Sie wird der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit (Recht auf Einreise und Aufenthalt) im Bundesgebiet der Bundesrepublik Deutschland festgestellt. 2. Sie sind verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland bis zum 16.06.2017 zu verlassen. 3. Sollten Sie dieser Ausreisepflicht nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommen, wird Ihnen hiermit die Abschiebung in Ihr Heimatland Polen angedroht."

Zur Begründung wird in diesem Bescheid ausgeführt, dass der sechsmonatige Zeitraum zum Aufenthalt zum Zwecke der Arbeitssuche seit 2013 schon längst um ein Vielfaches überschritten worden sei. Eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU) liege demzufolge nicht vor. Auch die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU würden nicht vorliegen, da ein ausreichender Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel nicht glaubhaft gemacht worden seien. Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU sei nicht erworben worden. Dieses richte sich nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU. Die Vorschrift fordere einen ständigen rechtmäßigen Aufenthalt seit fünf Jahren im Bundesgebiet. Unstrittig sei, dass seit dem 14. September 2009 ein ständiger Wohnsitz im Bundesgebiet bestanden habe. Jedoch sei der Aufenthalt nicht rechtmäßig gewesen, da rechtmäßig im Sinne des Unionsrechts ein Aufenthalt nur sei, der im Einklang mit den in der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (Freizügigkeitsrichtlinie) (ABl. EG L 158/123 vom 30. April 2004) vorgesehenen, insbesondere mit den in Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie ausgeführten Voraussetzungen stehe. Jedenfalls seit 2013 könne keine Freizügigkeit nachgewiesen werden, da seit diesem Zeitpunkt keine selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit vorgelegen habe, keine ausreichenden Existenzmittel zur Verfügung gestanden hätten, kein Aufenthalt zur Absolvierung einer Ausbildung vorgelegen habe und keine familiäre Bindung vorhanden gewesen sei. Auch jetzt sei die Verlustfeststellung noch möglich, da diese auch nach Ablauf von fünf Jahren nur dann ausgeschlossen sei, wenn die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Artikel 7 Freizügigkeitsrichtlinie und § 2 Abs. 2 FreizügG/EU von mindestens fünf Jahren ununterbrochen vorlagen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –). Über die Verlustfeststellung sei im Wege des Ermessens zu entscheiden. Zunächst würden danach die Aufenthaltsdauer sowie die sozialen Bindungen im Bundesgebiet betrachtet. Zwar sei die Einreise im Jahr 1988 aus familiären Gründen erfolgt. Spätestens seit der Scheidung im Jahr 1993 habe jedoch ein unerlaubter Aufenthalt bestanden, was zur Ausweisung und Abschiebung im Jahr 2003 geführt habe. Diese habe unter polizeilicher Aufsicht erfolgen müssen und habe der Stadt A ... Kosten in Höhe von 2.230,25 EUR verursacht. Trotz der Möglichkeit der Ratenzahlung seien bis heute keine Kosten erstattet worden. Seit dem Jahr 2009 sei ein Zeitraum von acht Jahren vergangen, welcher im Verhältnis zum Lebensalter von 55 Jahren recht kurz sei. Zwischen 2003 und 2009 habe der Lebensmittelpunkt in Polen bestanden, so dass davon auszugehen sei, dass eine Integration in die Lebensverhältnisse des Heimatlandes unproblematisch möglich sei. Soziale Bindungen seien nicht geltend gemacht worden und die Erwerbsbiografie lasse nicht erwarten, dass zukünftig eine regelmäßige Erwerbstätigkeit möglich sei und der Lebensunterhalt selbst gesichert werden könne. Seit dem Anhörungsschreiben vom 24. November 2016 sei trotz der geäußerten Absicht, die entstandenen Abschiebungskosten in einem gewissen Zeitraum abzahlen zu wollen, keine Ratenzahlung angeboten worden. Auch ein Arbeitsvertrag sei nicht vorgelegt worden.

Gegen den Bescheid der Beigeladenen legte der Antragsteller am 6. Juni 2017 Widerspruch ein, über welchen noch nicht entschieden ist.

Der Antragsteller beantragte beim Antragsgegner am 28. November 2017 die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab dem 1. Januar 2018 unter Angabe einer zu zahlenden Grundmiete in Höhe von 163,00 EUR und Vorauszahlungen auf die kalten Betriebskosten in Höhe von 48,00 EUR sowie auf die Heizkosten in Höhe von 41,00 EUR.

Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 18. Dezember 2017 ab. Da die Ausländerbehörde der Stadt A ... den Verlust des Rechtes auf Freizügigkeit festgestellt habe, bestehe kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

Der Antragsteller wandte sich gegen die Ablehnung mit Widerspruch vom 9. Januar 2018. Die Freizügigkeit sei noch nicht rechtskräftig entzogen worden, da gegen den Entziehungsbescheid fristgerecht Widerspruch eingelegt worden sei, welcher aufschiebende Wirkung entfalte, was durch die Stadt A ... als zuständige Ausländerbehörde schriftlich bestätigt worden sei. Er verweise auf die Entscheidungen des Sozialgerichts Leipzig zu den vorangegangenen Bewilligungszeiträumen (Beschluss vom 1. Februar 2017 – S 24 AS 120/17 ER –, Beschluss vom 18. August 2017 – S 17 AS 2325/17 ER –).

Der Antragsteller hat am 12. Januar 2018 beim Sozialgericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 23. Januar 2018 den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum 12. Januar 2018 bis zum 30. Juni 2018, längstens jedoch bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung in der Hauptsache oder die Verlustfeststellung vom 8. Mai 2017 durch die Beigeladene bestands- oder rechtskräftig wird, Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Es hat zur Begründung auf die Gründe des allen Beteiligten bekannten Beschlusses des Sozialgerichtes vom 18. August 2017 (Az. S 17 AS 2325/17 ER) verwiesen. Der Antragsteller sei nicht vollziehbar ausreisepflichtig, weil er gegen den Bescheid der Beigeladenen rechtzeitig Widerspruch eingelegt habe. Der Widerspruch gegen eine Verlustfeststellung entfalte nach § 80 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) aufschiebende Wirkung (vgl. VG Dresden, Beschluss vom 9. März 2017 – 3 L 70/10 – juris Rdnr. 13); den Sofortvollzug habe die Beigeladene nicht angeordnet. Zwar führe die aufschiebende Wirkung lediglich zur Hemmung der Vollziehbarkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes. Eine Wirksamkeitshemmung trete nicht ein. Die Vollziehbarkeit werde aber nach der herrschenden Meinung nicht im engeren Sinne einer Vollstreckbarkeit verstanden. Vielmehr werde die aufschiebende Wirkung im Sinne eines Verwirklichungs- und Ausnutzungsverbotes auch auf vollziehbare Nebenfolgen bezogen, um dem Institut der aufschiebenden Wirkung widersprechende Rechtschutzdefizite zu vermeiden. Hieraus müsse gefolgert werden, dass mit Einlegung des Widerspruches die Ausreisepflicht des Adressaten einer Verlustfeststellung suspendiert sei (so auch VG Dresden, a. a. O. Rdnr. 16), so dass keine Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) bestehe. Der Antragsteller erfülle die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, da er seit über fünf Jahren seinen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habe, ohne dass in diesem Zeitraum Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthaltes, in denen eine Ausreisepflicht bestanden hätte, ersichtlich wären. Die Gegenausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 (Satzteil nach dem Semikolon) SGB II greife nicht ein, da bei der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs im Sinne eines Verwirklichungs- und Ausnutzungsverbotes mehr dafür spreche, dem Adressaten einer Verlustfeststellung während eine Widerspruchs- oder Klageverfahrens gegen diesen Verwaltungsakt auch leistungsrechtlich nicht die Tatbestandswirkung der Verlustfeststellung entgegenzuhalten sei. Dafür spreche insbesondere, dass die Versagung von Grundsicherung nahezu ebenso einschneidend wirke wie eine Abschiebung – hier wie dort werde dem Betroffenen die Existenzgrundlage im Inland entzogen. Würde keine Grundsicherung gewährt, würde der Betroffene unter Umständen faktisch zur Ausreise gezwungen und die suspendierte Ausreisepflicht damit gewissermaßen vollzogen. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung fordere einen Gleichklang von Ausländer- und Grundsicherungsrecht (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 – juris Rdnr. 63; BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 – B 4 AS 44/15 R – juris Rdnr. 37 ff. und Folgeentscheidungen). Soweit sich das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in der Entscheidung vom 26. Mai 2017 (Az. L 15 AS 62/17 B ER) auf die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung berufe, sei darauf hinzuweisen, dass dort die Rechtsfolge der Einlegung von Rechtsbehelfen gar nicht thematisiert werde, sondern nur sinngemäß darauf aufmerksam gemacht werde, dass eine Verlustfeststellung wie andere Verwaltungsakte bereits mit ihrer Bekanntgabe und nicht erst mit ihrer Bestandskraft wirksam würden. (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG).

Der Antragsgegner hat am 26. Januar 2018 Beschwerde eingelegt. Ausweislich des bereits 2007 insoweit ausdrücklich geänderten § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ("unanfechtbar" sei gestrichen) solle schon die Verlustfeststellung die Ausreisepflicht begründen und eben nicht mehr erst deren Bestandskraft (BT-Drs. 16/5065 S. 211 zu Nr. 8 [§ 7], LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017 – L 15 AS 62/17 B ER - juris Rdnr. 12, m. w. N.). Angesichts dieses ganz klaren Willens des Gesetzgebers würden sich die Erwägungen zum effektiven Rechtsschutz verbieten. Das Sozialgericht setze individuelle Ausreisepflicht und staatliche Durchsetzung (Abschiebung) fehlerhaft gleich und verkehre damit die Absicht des Gesetzgebers in das Gegenteil. Würde sich der Antragsteller rechtmäßig verhalten, befände er sich binnen weniger Stunden in seinem Heimat- und EU-Mitgliedsland Polen, wo ihm Obdach und Mindest-Lebensunterhalt vergleichbar sicher wären wie in Deutschland. Sein Rechtsschutzverfahren könne er auch von dort weiterbetreiben. Bei Befolgung der Ausreisepflicht drohe nichts Irreparables. Wer seit Monaten aus Deutschland ausreisen müsse, könne kein legitimes Vollzugsinteresse in Richtung weiterer Sozialleistungen in Deutschland haben.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss vom 23. Januar 2018 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Um den Rechtsanspruch des Antragstellers auf Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland während der Bearbeitung des Widerspruchsverfahrenes wirksam faktisch durchsetzen zu können, würde es der Gewährung einer sozialen Grundsicherung bedürfen.

Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 19. März 2018 mitgeteilt, er werde ab dem 1. April 2018 eine geringfügige nichtversicherungspflichtige Beschäftigung mit einem Monatsgehalt in Höhe von 450,00 EUR aufnehmen, so dass jedenfalls ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II bestehen dürfte.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

II.

1. Die zulässige Beschwerde (vgl. §§ 172, 173 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 12. Januar bis zum 30. Juni 2018, längstens jedoch bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung in der Hauptsache oder die Verlustfeststellung vom 8. Mai 2017 durch die Beigeladene bestands- oder rechtskräftig entschieden wird, Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund, das heißt die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch ein Anordnungsanspruch, das heißt die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs, glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn das Gericht aufgrund einer vorläufigen, summarischen Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass dem Antragsteller ein Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung zusteht und deshalb der Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit dem gleichen Begehren voraussichtlich Erfolg haben würde und zudem eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile geboten ist. Dabei wird der Sachverhalt gemäß § 103 SGG von Amts wegen unter Heranziehung der Beteiligten ermittelt, soweit dies unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit des Rechtsschutzbegehrens geboten ist (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 31. Januar 2008 – L 3 B 465/07 AS ER – juris Rdnr. 19). Hierbei sind Tatsachen, auf die der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund der begehrten einstweiligen Anordnung gestützt werden, glaubhaft zu machen (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Glaubhaftmachung ist die Beweisführung aufgrund überwiegender Wahrscheinlichkeit, was anstelle des Vollbeweises einen geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad zulässt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 2003 – IX ZB 37/03BGHZ 156, 139 [142] = NJW 2003, 3558 ff. = juris Rdnr. 8; Greger, in: Zöller, ZPO [31. Aufl., 2016], § 294 Rdnr. 1, m. w. N.; vgl. hierzu Sächs. LSG, Beschluss vom 8. November 2017 – L 3 AS 997/17 B ER – juris Rdnr. 27, m. w. N.).

b) Vorliegend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, der sich gegen den gemäß § 36 SGB II für die Leistungsgewährung örtlich zuständigen Antragsgegner richtet.

Anspruchsgrundlage für die dem Antragsteller zu gewährenden Leistungen nach dem SGB II ist § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II.

aa) Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Personen Leistungen nach dem SGB II, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

Der Antragsteller erfüllt diese allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet sowie die maßgebende Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Er hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und ist erwerbsfähig. Jedenfalls gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller derzeit nicht wegen Krankheit oder Behinderung außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl. § 8 Abs. 1 SGB II). Unbestritten hat der Antragsteller unter Hinweis auf ein Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 15. Februar 2015 vorgetragen, für leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig leistungsfähig zu sein. Der Antragsteller ist auch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 hilfebedürftig. Hilfebedürftig ist gemäß § 9 Abs. 1 SGB II derjenige, der seinen eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die nötige Hilfe auch nicht von anderen erhält. Der Antragsteller verfügt über kein Einkommen und bekommt auch keine Hilfe von anderen.

bb) Der Antragsteller würde grundsätzlich dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b SGB II unterfallen. Sein Aufenthaltsrecht ergibt sich unstreitig allein aus dem Zweck der Arbeitssuche.

cc) Der Antragsteller, dem als polnischer Staatsangehöriger am 17. Mai 2011 eine Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht zur Arbeitssuche erteilt wurde, hält sich jedoch seit September 2009 und damit seit über fünf Jahre in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II in der seit dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung (vgl. Artikel 1 Nr. 2 des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 [BGBl. I 2016, 3155]) erhalten abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Dies gilt nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Ergänzend ist in den § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II normiert, dass die Frist nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginnt. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II). Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 7 SGB II).

Der Antragsteller hat einen Leistungsanspruch gestützt auf die neu geschaffene Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, da er seit mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Denn erst nach Ablauf der Fünfjahresfrist hat die Beigeladene mit Bescheid vom 8. Mai 2017 den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit (Recht auf Einreise und Aufenthalt) im Bundesgebiet der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, so dass ohne Auswirkung bleibt, dass nach § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet werden. Erstmals auf der Grundlage des Bescheides vom 8. Mai 2017 besteht nach der Einreise des Antragstellers im September 2009 eine Ausreispflicht.

dd) Der Anspruch des Antragstellers ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II, da der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde, ausgeschlossen. Zwar hat die Beigeladene mit Bescheid vom 8. Mai 2017 den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit festgestellt. Aufgrund der aufschiebenden Wirkung des vom Antragsteller eingelegten Widerspruchs (1) liegt eine Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht vor, so dass der Anspruch, ohne dass durch die Sozialgerichte zu prüfen ist, ob der Aufenthalt rechtmäßig war oder die Verlustfeststellung rechtmäßig erfolgte, so lange nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II ausgeschlossen ist, bis das ausländerrechtliche und gegebenenfalls verwaltungsgerichtliche Verfahren abgeschlossen ist und bestands- oder rechtskräftig der Verlust des Rechts nach § 2 Abs: 1 FreizügG/EU festgestellt ist (2).

(1) Im Fall der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 5 Abs. 5 FreizügG/EU haben Widerspruch und Klage kraft Gesetzes gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Der angefochtene Bescheid vom 8. Mai 2017 ist weder für sofort vollziehbar erklärt worden (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) noch kraft Gesetzes sofort vollziehbar (vgl. § 80 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 VwGO). Insbesondere findet § 84 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) im Bereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU keine Anwendung, der in seinem Anwendungsbereich die aufschiebende Wirkung von Klage und Widerspruch ausschließt. Dies gilt auch hinsichtlich der unter Nummer 3 ausgesprochenen Abschiebungsandrohung. Diese ist ebenfalls nicht vollziehbar, da die gesetzte Ausreisefrist unterbrochen ist. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Nach § 7 Abs. 1 Satz 3 und 4 FreizügG/EU soll in dem Bescheid die Abschiebung angedroht und eine Ausreisefrist von mindestens einem Monat gesetzt werden. Dies ist hier in Nummer 2 des Bescheids geschehen. Nachdem das Freizügigkeitsgesetz/EU keine eigenen Regelungen zur Durchsetzung der Ausreise enthält, ist gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz anwendbar. Die nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU bestehende Ausreisepflicht ist damit nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erst vollziehbar, wenn die Versagung des Aufenthaltstitels oder der sonstige Verwaltungsakt, durch den der Ausländer ausreisepflichtig wird, vollziehbar ist. Eine gewährte Ausreisefrist wird nach § 59 Abs. 1 Satz 6 AufenthG unterbrochen, wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder Abschiebungsandrohung entfällt. Hier hat der Widerspruch gegen die Verlustfeststellung, wie ausgeführt wurde, aufschiebende Wirkung, die Ausreisepflicht ist damit nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht vollziehbar und die Ausreisefrist nach § 59 Abs. 1 Satz 6 AufenthG unterbrochen. Die Abschiebungsandrohung kann nicht vollstreckt werden (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 18. August 2011 – 6 B 821/11 – juris Rdnr. 20; VG Dresden, Beschluss vom 9. März 2010 – 3 L 70/10 – juris; VG München, Beschluss vom 14. November 2013 – M 12 S 13.4277 – juris; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., Rdnr. 14 zu § 11 FreizügG/EU).

(2) Streitig ist, ob unmittelbar durch die Verlustfeststellung der Ausländerbehörde, auch wenn diese behördliche Entscheidung noch nicht bestandskräftig ist und die Ausreisepflicht nicht vollzogen werden darf, der Leistungsanspruch nach § 7 Abs.1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II entfällt und insofern, wie § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II auszulegen ist.

Teilweise wird vertreten, dass die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II unmittelbar ab dem Zeitpunkt vorliegen, zu welchem die Ausländerbehörde einen Bescheid über die Verlustfeststellung erlässt, auch wenn die Ausreisepflicht nicht vollziehbar ist, die Ausreisefrist unterbrochen ist und die Abschiebungsandrohung tatsächlich nicht vollstreckt werden kann und im Ergebnis offen ist, ob die Feststellung der Ausländerbehörde rechtmäßig ist und Bestand haben wird.

So hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen mit Beschluss vom 26. Mai 2017 (Az. L 15 AS 62/17 B ER – juris Rdnr. 12) ausgeführt: "Denn unabhängig von der Frage der Durchsetzbarkeit, die davon abhängt, ob Rechtsmittel eingelegt worden sind (§ 7 Abs. 1 S. 4 FreizügG/EU), begründet bereits die bloße Verlustfeststellung eine Ausreisepflicht (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25. November 2016 - L 11 AS 567/16 B; Geyer in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 3; Brinkmann in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 5; vgl. auch Kurzidem in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 2). Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Nach der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 erfolgten Änderung des § 7 FreizügG/EU entsteht die Ausreispflicht nicht mehr erst dann, wenn die Ausländerbehörde unanfechtbar festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, sondern grundsätzlich bereits mit der bloßen Feststellung des Verlustes (BT-Drucks. 16/5065, S. 211; Beschluss des 11. Senats a.a.O.; Geyer, a.a.O.). Somit wirkt auch schon die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung einer Festigung des Aufenthaltsrechtes entgegen bzw. der Aufenthalt kann nicht mehr als verfestigt i.S. des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II angesehen werden (so auch BT-Drucks. 18/10211 S. 14: "Sollte die Ausländerbehörde allerdings feststellen, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Absatz 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ist der Aufenthalt nicht mehr verfestigt.")."

Es steht fest, dass unmittelbar mit der Feststellung der Ausländerbehörde nach § 7 FreizügG/EU nach dem auch in der Gesetzesbegründung klar zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers die Ausreispflicht entsteht. Die Unanfechtbarkeit der Feststellungsentscheidung der Ausländerbehörde ist nicht erforderlich, um die Ausreispflicht zu begründen.

Gleichzeitig steht jedoch auch fest, dass entsprechend Artikel 31 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie eine Abschiebung nicht erfolgen darf, wenn ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt wurde (BT-Drs. 16/5065, S. 211) oder wenn gegen den Verlustfeststellungsbescheid der Ausländerbehörde Widerspruch erhoben wurde und der Sofortvollzug nicht angeordnet war oder wird. Die Vollziehung der Ausreispflicht (d. h. eine Abschiebung) wäre in diesen Fällen rechtswidrig.

Mit dem unmittelbaren Entzug der Grundsicherungsleistungen würde jedoch faktisch der Vollzug erzwungen. Unabhängig von der Frage, ob eine derartige Regelung grundgesetz- und europarechtskonform wäre, geht aus § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II und § 7 FreizügG/EU nicht hervor, dass der Gesetzgeber dies so hat regeln wollen. Zudem ist in diesem Zusammenhang der Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz zu beachten. Das Bundesverfassungsgericht hat dort ausgeführt, sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 GG ergibt. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten hat (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11BVerfGE 132, 134 ff. = SozR 4-3520 § 3 Nr. 2 = juris Rdnr. 62). Das Verständnis des Grundrechts auf Existenzsicherung als Menschenrecht verbietet es deshalb hinaus, über das Grundsicherungsrecht Migration zu steuern (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, a. a. O., Rdnr. 95; vgl. auch Sächs. LSG, Beschluss vom 27. Juni 2017 – L 3 AS 715/16 B ER – juris Rdnr. 24). Entsprechendes gilt deshalb auch für das Ausländerrecht einschließlich des Rechts der Aufenthaltsbeendigung und der Abschiebung.

Der Gesetzgeber hat ausweislich der Gesetzesbegründung zu dem am 29. Dezember 2016 in Kraft getretenen Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (BGBl. I S. 3155) mit § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus erstmals auch für die vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfassten Personen und ihre Familienangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen, konkret nach eingetretener Verfestigung des Aufenthalts, einen Leistungsanspruch normiert. Diesen neuen Leistungsanspruch sieht der Gesetzgeber im Gesamtzusammenhang zu den gleichfalls normierten ergänzenden Regelungen und Klarstellungen, wonach Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU ebenso wie Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, sowie Personen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union Text von Bedeutung für den EWR (ABl. L 141 vom 27. Mai 2011, S. 1-12) ableiten, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sein sollen. Zudem sind die Leistungsausschlüsse im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) denjenigen im SGB II angepasst worden. Im SGB XII wurde (allein) ein Anspruch für einen Zeitraum von einem Monat, mit der Möglichkeit, darlehensweise die Kosten für ein Rückfahrticket zu übernehmen, geschaffen. Diese Ergänzungen hat der Gesetzgeber im Ergebnis der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für notwendig erachtet. So hatte das Bundessozialgericht unter anderem mit Urteil vom 3. Dezember 2015 (Az. B 4 AS 44/15 RBSGE 120, 149 ff. = SozR 4-4200 § 7 Nr. 43 = juris Rdnr. 36) entschieden, dass materiell nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger im Einzelfall Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Recht der Sozialhilfe als Ermessensleistung beanspruchen können und das Ermessen des Sozialhilfeträgers im Regelfall bei einem verfestigten Aufenthalt nach mindestens sechs Monaten auf Null reduziert ist.

Abweichend von dem somit erweiterten Anspruchsausschluss hat der Gesetzgeber jedoch im Gegenzug neu geregelt, dass mit einer Verfestigung des Aufenthaltes, sofern Erwerbsfähigkeit vorliegt, nach fünf Jahren das Leistungsrecht des SGB II und damit auch der Grundsatz des Förderns und Forderns uneingeschränkt gelten soll. Dabei ist der Gesetzgeber ausdrücklich davon ausgegangen, dass insbesondere der Leistungsausschluss (vor Ablauf der fünf Jahre) im SGB XII eine Lenkungswirkung entfalten werde und "voraussichtlich – frühestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes – nur für eine geringe, nicht quantifizierbare Anzahl an Personen Ansprüche im SGB II entstehen, [ ] Die Anzahl der Personen, die bereits mit Inkrafttreten der Regelung die Anspruchsvoraussetzungen (fünf Jahre Aufenthalt seit Meldung bei der zuständigen Meldebehörde) erfüllen, dürfte sehr gering sein, " (Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Drs. 587/16 S. 2 [D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand]). Zwar soll die Verfestigung wieder entfallen, wenn die Ausländerbehörde feststellt, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II). Dass dies jedoch bei fehlender Bestandskraft des Feststellungsbescheides und obwohl nicht die Möglichkeit besteht, die Ausreispflicht durch Abschiebung zu vollziehen, nach fünf Jahren des Aufenthalts dann unmittelbar gelten soll, ergibt sich daraus gerade nicht. Zumal ist im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Berechnung der Fünfjahresfrist ausdrücklich ausgeführt, dass unwesentliche Unterbrechungen unschädlich seien, jedoch bei Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Ausreise nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausreisepflichtig waren, jede Wiedereinreise unabhängig von der Dauer der Unterbrechung zu einem Neubeginn der 5-Jahresfrist führen würde (vgl. BR-Drs. 587/16 S. 9). Allein die bestandskräftige Verlustfeststellung kann jedoch diese Rechtsfolge entfalten.

Mit dem zweiten Halbsatz des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II soll sichergestellt werden, dass die aufenthaltsrechtliche Entscheidung mit dem Verlust des Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II einhergeht und deren Umsetzung dadurch fördert. Mit der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts sind die in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II genannten erwerbsfähigen Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen dem Leistungssystem des SGB XII zugewiesen. Danach steht ihnen nur ein Anspruch auf eine zeitlich beschränkte Überbrückungsleistung zu, welche in erster Linie darauf abzielt, den Lebensunterhalt bis zur Ausreise zu sichern und gegebenenfalls auf Antrag die Ausreise durch die darlehensweise Gewährung der Reisekosten zu ermöglichen. Wenn der Verlust des Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen die aufenthaltsrechtliche Entscheidung fördern soll, zielt sie nach dem Willen des Gesetzgebers auf die Durchsetzung des Vollzuges der aufenthaltsrechtlichen Entscheidung. Dies lässt jedoch den Schluss zu, dass auch erst die vollziehbare, bestandskräftige Entscheidung der Ausländerbehörde zum Verlust des Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen führen soll.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Antragsgegner zutreffend darauf verweist, dass die Neuregelung berücksichtigt, dass den Unionsbürgern andere Möglichkeiten der Selbsthilfe offenstehen, als dies für Asylbewerber der Fall ist. Eine Rückreise in den Heimatstaat ist ohne Gefahren für Leib oder Leben möglich. Die sozialen Mindeststandards sind gewahrt. Dies ist jedoch allein Rechtfertigung für die für Unionsbürger umfassender als für Asylbewerber geregelten Leistungsausschlüsse.

Hat der Unionsbürger jedoch trotz dieser umfassenden Leistungsausschlüsse einen Leistungsanspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erlangt, da die Ausländerbehörde vor Ablauf der fünf Jahre den Verlust der Freizügigkeit nicht festgestellt hat (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II), soll dieser (erst nach einer recht langen Zeit erlangte) Leistungsanspruch auch erst mit dem tatsächlichen (rechtlich sicheren) Verlust und somit erst mit der bestands- beziehungsweise rechtskräftigen Feststellung des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU entfallen.

c) Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er verfügt über kein Einkommen oder Vermögen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die besondere Eilbedürftigkeit besteht bereits wegen der existenzsichernden Funktion der SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

2. Da der Antragsgegner nur dem Grunde nach zur Leistungsgewährung nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe verpflichtet wurde, hat die Mitteilung des Antragstellers, er werde ab dem 1. April 2018 eine geringfügige Tätigkeit aufnehmen, keine weitere Auswirkung. Sollte dies zutreffen, bestünde ein Anspruch auf ergänzende Leistungen in der dann abweichend festzusetzenden gesetzlichen Höhe.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

4. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Dr. Scheer Höhl Schneider
Rechtskraft
Aus
Saved