L 1 KR 26/18 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 1983/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 26/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2017 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet vom 29. März 2018 bis zum 29. März 2019, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, die Kosten für eine Versorgung des Antragstellers mit Cannabisblüten nach Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Verordnung zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das gesamte Verfahren zu tragen. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die zulässige, fristgerecht am 22. Januar 2018 (Montag) eingegangene Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2017 ist im Wesentlichen begründet. Das Sozialgericht hat den am 2. Oktober 2017 gestellten Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für seine Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zu übernehmen, zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten nämlich grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216); NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 RdNr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, das diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgenabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (Beschlüsse des Senats vom 24. Juni 2014 - L 1 KR 167/14 -, vom 3. Februar 2014 – L 1 KR 30/14 B ER – und vom 4. Mai 2015 – L 1 KR 221/15 B ER und vom 15. November 2017 – L 1 KR 447/17 B ER - sowie Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 10. Februar 2014 – L 9 KR 293/13 B ER -).

An diesen Grundsätzen gemessen, ist die Antragsgegnerin antragsgemäß zu verpflichten. Denn nach dem vorliegenden Sach- und Streitstand besteht die Gefahr, dass der Antragsteller ohne die Gewährung der streitbefangenen Leistungen bis zu der Beendigung des Hauptsacheverfahrens schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet. Nach § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Der Senat geht mit dem Sozialgericht davon aus, dass der Antragsteller an einer schwerwiegenden Erkrankung leidet. Die vorhandenen medizinischen Unterlagen belegen, dass der Antragsteller an Hämophilie A und HIV leidet. Das hat auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) in seinem Gutachten vom 9. Oktober 2017 bestätigt.

Nicht vollständig aufgeklärt ist dagegen, ob die von dem Antragsteller angeführten Schmerzustände auf die Hämophilie zurückzuführen sind und ob es andere geeignetere Behandlungsmöglichkeiten als die Therapie mit Cannabis gibt. Das Sozialgericht meint, dass dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen gegen die Schmerzzustände des Antragstellers noch nicht vollständig ausgeschöpft seien. Auch nach der Einschätzung der behandelnden Ärztin spreche nicht mehr dafür als dagegen, dass die Therapiealternativen nicht zur Anwendung kommen könnten. Aus den Darlegungen der Ärztin ergebe sich nicht mit hinreichender Klarheit, dass sie andere Behandlungsmethoden für nicht zumutbar halte.

Dieser Einschätzung vermag der Senat sich nicht anzuschließen. Schon aus den von der behandelnden Ärztin Dr. S ausgestellten Attesten vom 15. März 2017, 23. März 2017 und besonders deutlich dann aus dem Attest vom 23. Januar 2018 ergibt sich, dass die behandelnde Ärztin die Therapie mit Cannabis bei dem Antragsteller für alternativlos hält. Jedenfalls vor dem Hintergrund dieser letzten Stellungnahme sieht sich der Senat nicht in der Lage, zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne weitere Ermittlungen eine abschließende Entscheidung zu den Möglichkeiten einer alternativen Therapie zu treffen. Diese Ermittlungen, ggfls. die Einholung eines Sachverständigengutachtens, können jedoch nicht in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durchgeführt werden, sondern sind dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Es kommt hinzu, dass der Gesetzgeber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht bei der Entscheidung über die Verordnung von Cannabis die Therapiehoheit des Vertragsarztes stärken wollte, wie sich aus der Formulierung des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V ergibt. Die Therapiehoheit des Arztes endet auch nicht wegen einer möglicherweise vorhandenen Suchproblematik. Selbst insoweit bliebe es eine medizinische Entscheidung des behandelnden Arztes, ob die Gabe von Cannabis verantwortet werden kann, weil der Nutzen mögliche Nachteile überwiegt.

Bei der vom Gericht danach allein vorzunehmenden Folgenabwägung ist dem Grundrecht des Antragstellers auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Vorrang einzuräumen vor den möglicherweise eintretenden finanziellen Verlusten für die Antragsgegnerin im Falle einer (rechtskräftigen) Klageabweisung in der Hauptsache. Dementsprechend ist die Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zur Leistung zu verpflichten. Der Gegenstand der Verpflichtung der Antragsgegnerin wird durch die von der behandelnden Ärztin ausgestellte Verordnung konkretisiert. Frau Dr. S hat gegenüber dem Sozialgericht angegeben, das sie für den Antragsteller bereits am 10. November 2011 ein BTM-Rezept ausgestellt habe.

Der Senat hat die Anordnung bis zum 29. Januar 2019, längstens aber bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, befristet. Denn die Berechtigung der einstweiligen Anordnung in der gegenwärtigen Form ergibt sich nur aus der noch ungeklärten medizinischen Sachlage. Für die Vergangenheit sind Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich nicht zuzusprechen. Soweit die Beschwerde Leistungen für weitere Zeiträume einfordern wollte, war sie zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt, weil der Antragsteller im Hinblick auf die unanfechtbare Kostenentscheidung nicht mehr bedürftig ist. Entsprechend war auch die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe in dem Verfahren vor dem Sozialgericht zurückzuweisen. Indessen weist der Senat darauf hin, dass er die Verfahrensweise des Sozialgerichts für befremdlich hält, die hinreichende Erfolgsaussicht des Antragsbegehrens von Anfang an zu verneinen, obwohl das Sozialgericht durchaus Anlass für weitere Ermittlungen gesehen hat.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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