L 19 AS 518/18 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 46 AS 290/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 518/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20.03.2018 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Entziehungsbescheid vom 10.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2018 wird angeordnet. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20.03.2018 ist begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht den - im Schriftsatz vom 10.02.2018 ausdrücklich gestellten - Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage vom 10.02.2018, bei dem Sozialgericht am 13.02.2018 eingegangen, gegen den Entziehungsbescheid vom 10.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2018 abgelehnt.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG ist zulässig. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Die Klage gegen den Entziehungsbescheid vom 10.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2018 entfaltet nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung, da durch diesen Bescheid Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Monat Februar 2018 ganz entzogen werden.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht aus dem Grunde unzulässig geworden, da der mit Widerspruch angefochtene Entziehungsbescheid bestandskräftig geworden wäre. Der Antragsteller hat vielmehr fristgemäß und auch im Übrigen in zulässiger Weise Klage erhoben. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2018 hat er sich mit Schriftsatz vom 10.02.2018 an das Sozialgericht, dort am 13.02.2018 eingegangen, gewandt und Klage erhoben, was eindeutig aus dem Wort "Klage" im Betreff dieses Schriftsatzes ersichtlich ist. In dem Schriftsatz hat er auch ausdrücklich auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen und zum einen dessen Aufhebung und zum anderen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Dadurch ist das Begehren des Antragstellers sowohl für das einstweilige Rechtsschutzverfahren als auch für das Hauptsacheverfahren deutlich geworden. Damit genügt die Klage des Antragstellers den Anforderungen des § 92 Abs. 1 SGG. Mit Eingang der Klage beim Sozialgericht ist diese rechtshängig geworden, § 94 S. 1 SGG. Dass das Sozialgericht dies übersehen hat, ist für den Eintritt der Rechtshängigkeit irrelevant.

Der Antrag ist auch begründet.

Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse), mit dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners vorzunehmen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Dabei richtet sich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in erster Linie nach dem Grad der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des angefochtenen Eingriffsbescheides und den daraus folgenden Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 86b Rn. 12a ff.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Entziehungsbescheid vom 10.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2018 zu Unrecht abgelehnt. Das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der aufschiebenden Wirkung überwiegt das Interesse des Antragsgegners am Vollzug des angefochtenen Bescheides. Denn dieser ist nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte rechtswidrig.

Es spricht mehr dafür als dagegen, dass der Antragsgegner nicht berechtigt war, die dem Antragsteller bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01.02.2018 bis zum 28.02.2018 vollständig zu entziehen. Die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I liegen nicht vor.

Nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I kann der Leistungsträger, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Es spricht zwar einiges dafür, dass der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs. 1 Nr. 3 SGB I bis zum Erlass des Entziehungsbescheides nicht im erforderlichen Umfang nachgekommen ist.

Nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I hat, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält,
1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen,
2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen, sowie
3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Nach S. 2 gilt S. 1 entsprechend für denjenigen, der Leistungen zu erstatten hat.

Nach § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 SGB I nicht, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht.

Ein Kontoauszug ist eine Beweisurkunde i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I (BSG, Urteile vom 19.09.2008 - B 14 AS 45/07 R - und vom 19.02.2009 - B 4 AS 10/08 R). Für die Feststellung, ob Einkommen und Vermögen vorhanden ist, genügt der aktuelle Kontoauszug nicht, da die Kenntnis der Kontenbewegungen der letzten Monate zur vollständigen Ermittlung von Einkommen und Vermögen erforderlich ist. Aus den früheren Kontoauszügen sind Kontobewegungen ersichtlich, etwa darüber, ob der Arbeitsuchende Zuwendungen Dritter erhält oder größere Beträge transferiert hat und welche sonstigen leistungserheblichen Transaktionen bisher vorgenommen wurden. Die Aufforderung an den Arbeitsuchenden, Kontoauszüge für die letzten drei Monate vorzulegen, ist deshalb grundsätzlich nicht zu beanstanden (BSG, a.a.O.). Ob auch ein längerer Zeitraum zulässig ist, hat das BSG in den genannten Urteilen offen gelassen. Falls jedoch ein konkreter Verdacht besteht, der Arbeitsuchende habe falsche Angaben gemacht oder Einkommen bzw. Vermögen verschleiert, besteht auch insofern eine Pflicht zur Mitwirkung hinsichtlich länger zurückliegender Kontenbewegungen (vgl. Mrozynski, SGB I, 5. Aufl. 2014, § 60 Rn. 29).

Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass Hintergrund der Anforderung der Kontenauszüge nach dem Inhalt des dem Senat vorliegenden Auszuges aus der Verwaltungsakte des Antragsgegners anscheinend ein bereits anhängiges Klageverfahren ist, in dem die Beteiligten über die Rechtmäßigkeit von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden streiten (vgl. dazu und dem Folgenden den Vermerk der Frau S vom 24.10.2017). Diese Aufhebungs- und Erstattungsbescheide stützt der Antragsgegner nach dem Inhalt des genannten Vermerks darauf, dass der Antragsteller durch ein auf seine Mutter angemeldetes Gewerbe in den Jahren 2012 bis 2014 Einkommen erzielt habe. In dem genannten, an das "Team 402" adressierten Vermerk wird festgestellt, dass aus der Akte nicht ersichtlich sei, ob und gegebenenfalls in welcher Art und Weise Ermittlungen hinsichtlich erzielter Einkünfte ab 2015 erfolgt seien. Es sei lediglich das Ergebnis eines Kontenabrufeverfahrens vorhanden, wonach der Antragsteller im relevanten Zeitraum über ein eigenes Konto (2008 bis 2016) verfügt habe und bei drei weiteren noch aktiven Konten verfügungsberechtigt sei. Zur weiteren Einkommensermittlung erscheine es unerlässlich, von allen Konten die vollständigen Kontenauszüge ab 2015 anzufordern.

Dieser internen Aufforderung vom 24.10.2017 kam der Antragsgegner offensichtlich mit dem Schreiben vom 07.11.2017 (unter "Mein Zeichen: 402") nach und forderte von dem Antragsteller die Vorlage von Auszügen von fünf Bankkonten. Bei zweien dieser Konten war der Antragsteller selbst Inhaber (Landesbank C (Zeitraum April 2011 bis Juli 2016) sowie C Bank GmbH (Zeitraum November 2006 bis Juli 2014)). Bei den restlichen drei Konten war er verfügungsberechtigt (U-bank (Zeitraum April 2014 bis laufend), Stadtsparkasse S (Mai 2014 bis laufend) sowie T-Bank West (Januar 2012 bis laufend)).

Im Zusammenhang mit dem wiedergegebenen Vermerk vom 24.10.2017 ist für den Senat überwiegend wahrscheinlich, dass diese Aufforderung an den Antragsteller nicht der Überprüfung der aktuell bestehenden Hilfebedürftigkeit und damit dem Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen diente, sondern der nachträglichen Ermittlung der Erzielung von Einkommen in den Jahren ab 2015 und damit der Prüfung der Voraussetzungen eines etwaigen Erstattungsanspruchs für die Zeit ab 2015 bzw. der Legitimierung der bereits erlassenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide. Dies allein führt zwar nicht dazu, dass eine entsprechende Mitwirkungspflicht des Antragstellers zu verneinen wäre, da die in § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I geregelten Mitwirkungspflichten nach S. 2 entsprechend für denjenigen gelten, der Leistungen zu erstatten hat. Diese Mitwirkungspflicht im Rahmen eines Erstattungsverfahrens beginnt auch nicht erst dann, wenn ein entsprechender Anspruch bereits dem Grunde nach festgestellt ist. Vielmehr soll der Leistungsträger durch die in § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I festgestellte Mitwirkungspflicht in die Lage versetzt werden, (auch) die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs umfassend zu prüfen (Hase in BeckOK Sozialrecht, 47. Edition Stand: 01.06.2014, § 60 Rn. 6).

Zudem ist der Antragsteller dieser Mitwirkungspflicht insbesondere hinsichtlich der drei Konten, bei denen er nicht Inhaber, sondern lediglich verfügungsberechtigt war bzw. ist, nicht nachgekommen, da er die weitere Aufforderung des Antragsgegners aus dem Schreiben vom 29.11.2017, die Kostenaufstellung der Kreditinstitute durch Nachweise zu erläutern, nicht rechtzeitig, also bis zum Erlass des Entziehungsbescheides erfüllt hat. Erst im laufenden einstweiligen Verfahren hat er mit Schriftsatz vom 16.03.2018 Schreiben der Stadtsparkasse S sowie der U-bank vorgelegt, in denen diese anfallende Gebühren i.H.v. 460,00 Euro bzw. 254,00 Euro bestätigten. Ferner hat er erst mit diesem Schriftsatz Kontoauszüge betreffend das Konto bei der T-Bank West eingereicht.

Allerdings hat der Antragsgegner nicht beachtet, dass hinsichtlich der Erstattungspflichtigen in § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I nur auf die Regelungen in § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I verwiesen wird, so dass die §§ 61 bis 64, 66, 67 SGB I auf die Erstattungspflichtigen nicht anwendbar sind (Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 97. EL Dezember 2017, § 60 Rn. 11 und § 66 Rn. 5; Hase in BeckOK Sozialrecht, 47. Edition Stand: 01.06.2014, § 60 Rn. 6). Eine fehlende oder ungenügende Mitwirkung berechtigt den Leistungsträger daher nur in den Fällen zur Versagung oder Entziehung von Leistungen, in denen durch die Verletzung der Mitwirkungspflicht die Feststellung der leistungserheblichen Tatsachen erheblich erschwert wird. Dies wird auch durch den letzten Halbsatz in § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I deutlich ("soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind"). In Erstattungsfällen kann der Leistungsträger somit auf eine verletzte Mitwirkungspflicht nicht nach § 66 Abs. 1 SGB I reagieren; er hat vielmehr, sofern er den Sachverhalt nicht von Amts wegen aufklären kann, eine materielle Beweislastentscheidung zu treffen. Im vorliegenden Fall, in denen die umstrittenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide bereits ergangen sind und hierzu ein Klageverfahren anhängig ist, böte sich stattdessen an, dass der Antragsteller die jeweiligen Banken gegenüber dem Antragsgegner respektive dem Sozialgericht von ihrer Verschwiegenheitspflicht aus dem Bankgeheimnis entbindet.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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