L 19 AS 1286/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 13 AS 4444/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1286/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05.05.2017 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen die Feststellung des Sozialgerichts, er sei nicht berechtigt, eine Forderung von 13.998,02 Euro gegen den Kläger geltend zu machen.

Der am 00.00.1957 geborene Kläger bezog in der Vergangenheit Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, die ihm u.a. für den Zeitraum vom 01.03.2006 bis 30.09.2007 bewilligt worden waren (Bescheide des Beklagten vom 22.12.2006, 13.02.2007, 02.06.2007, 16.08.2007). Durch Mitteilung des Finanzamtes für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung E vom 03.08.2009 erlangte der Beklagte Kenntnis davon, dass der Kläger am 29.03.2007 mit 115.500 EUR an nicht deklariertem Bargeld beim versuchten Grenzübertritt von Deutschland in die Schweiz festgehalten wurde. Durch Urteil des Amtsgerichts L - 10 OWI 540 Js xxx/08 vom 10.07.2008 wurde der Kläger wegen Nichtanzeige mitgeführten Bargeldes zu einer Geldbuße von 9.200 EUR verurteilt.

Mit Bescheid vom 09.09.2009 (Entwurf vom 08.09.2009 Bl.264 VA) hob der Beklagte die Bewilligungen für den Zeitraum vom 01.03.2006 bis 30.09.2007 auf und machte einen Erstattungsanspruch hinsichtlich zu Unrecht gezahlter Leistungen sowie der Beiträge zur Kranken - und Pflegeversicherung von insgesamt 13.998,12 Euro geltend; ein weiterer Bescheid vom 09.09.2009 (Entwurf vom 09.09.2009 Bl. 269 VA) regelt Aufhebung und Erstattung für den Zeitraum vom 01.08.2008 bis zum 31.07.2009. Den gegen zwei Bescheide vom 09.09.2009 eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.2009 betreffend den Bescheid für den Zeitraum vom 01.03.2006 bis 30.09.2007 als unbegründet zurück.

Am 02.12.2009 hat der Kläger Klage gegen den Bescheid vom 09.09.2009 betreffend den Zeitraum vom 01.03.2006 bis 30.09.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 erhoben.

Mit Beschluss vom 15.09.2010 hat das Amtsgericht L, 94 IN xx/10, das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers eröffnet. Die Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Forderungsmanagement, hat die Erstattungsforderungen aus den beiden Bescheiden vom 09.09.2009 zur Tabelle angemeldet, nicht jedoch als deliktische Forderungen (§ 302 InsO). Während des laufenden Insolvenzverfahrens ist die Erstattungsforderung nicht durch Aufrechnung getilgt oder in anderer Weise gemindert worden. Durch Beschluss vom 14.11.2016 erteilte das Amtsgericht dem Kläger Restschuldbefreiung.

Im Erörterungstermin am 18.12.2013 hat die Kammervorsitzende des Sozialgerichts darauf hingewiesen, dass das Verfahren infolge der Insolvenzeröffnung am 15.09.2010 gemäß §§ 202 SGG, 240 ZPO unterbrochen sei. Die Forderung falle in die Masse und sei auch nicht als Forderung aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung zur Tabelle angemeldet worden. Aus diesem Grund erlösche die Forderung im Falle einer Restschuldbefreiung, voraussichtlich am 15.09.2016.

Nach Erteilung der Restschuldbefreiung hat das Sozialgericht das Verfahren wiederaufgenommen.

Der Beklagte hat seinen Bescheid als weiterhin rechtmäßig angesehen und ausgeführt, seine Forderungen seien nicht erloschen, hätten sich vielmehr in Naturalobligationen umgewandelt. Er sei berechtigt, wegen der streitigen Forderung mit Leistungsansprüchen des Klägers nach dem SGB II aufzurechnen. Wegen der Aufrechnungsmöglichkeiten könne er daher nicht erklären, dass er auf die Geltendmachung der Forderung verzichte.

Im Erörterungstermin vom 11.04.2017 hat der Kläger beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte im Hinblick auf die erteilte Restschuldbefreiung nicht berechtigt sei, die Forderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 (Bescheiddatum bezeichnet als "08.09.2009") in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 geltend zu machen.

Der Beklagte hat daraufhin beantragt,

die Klage abzuweisen

Das Sozialgericht hat die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Mit Gerichtsbescheid vom 05.05.2017 hat das Sozialgericht festgestellt, der Beklagte sei nicht berechtigt, die Forderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 (Bescheiddatum bezeichnet als "08.09.2009") in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 geltend zu machen. Der Kläger habe ein schützenwertes Interesse an der Feststellung, dass eine Vollstreckung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 nicht zulässig sei, da der Beklagte sich der fortbestehenden Möglichkeit einer Aufrechnung berühme. Die Feststellungsklage sei auch begründet, da der Beklagte weder zur Zwangsvollstreckung noch zur Aufrechnung mit der Forderung gegen den Kläger berechtigt sei. Mit der Erteilung der Restschuldbefreiung sei der Kläger seiner Verbindlichkeiten gegenüber sämtlichen Gläubigern ledig geworden. Hiervon ausgenommen seien nur Forderungen nach § 302 Nr. 1 InsO aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen. Die Forderung des Beklagten sei allerdings nicht als solche zur Tabelle angemeldet worden. Auch sei eine Aufrechnung mit einer von der Restschuldbefreiung erfassten Insolvenzforderung nur dann zulässig, wenn die Aufrechnungslage bereits vor Insolvenzeröffnung bestanden habe.

Gegen den ihm am 07.06.2017 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Beklagten vom 04.07.2017. Er ist der Auffassung, dass trotz Restschuldbefreiung des Klägers im Insolvenzverfahren 94 IN 18/10 weiterhin die Möglichkeit bestehe, die Erstattungsforderung gegen laufende Leistungen an ihn aufzurechnen. Insofern bedürfe es einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung in Gestalt des Widerspruchsbescheides. Zu seinen Gunsten greife § 94 InsO ein, weil bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Aufrechnungslage bestanden habe. Dies werde bestätigt durch Rechtsprechung, wonach eine vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Aufrechnungsmöglichkeit auch durch das Insolvenzverfahren nicht tangiert werde. Wenn, wie vorliegend, ein Schuldner durchgängig im Leistungsbezug nach dem SGB II gestanden habe und noch stehe, gebe es eine durchgängig bestehende Aufrechnungslage, weil ansonsten Forderungen über die Aufrechnung gemäß § 43 SGB II in Anbetracht der kurzfristigen Bewilligungsabschnitte nicht verwirklicht werden könnten. Falls es für die Annahme einer Aufrechnungslage auf die Durchsetzbarkeit der gegenseitigen Forderungen ankomme, sei die Aufrechnungslage hier erst nach dem Insolvenzverfahren entstanden. In jedem Fall sei er nicht gehindert, weiterhin gemäß § 43 SGB II mit dem laufenden Leistungsbezug des Klägers aufzurechnen.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05.05.2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsakte sowie der beigezogenen Akte des Amtsgerichts L, 94 IN xx/10, Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht festgestellt, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, die Forderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 "geltend zu machen". Der Senat legt den Tenor dahingehend aus, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, die Erstattungsforderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 rechtlich, insbesondere im Wege der Aufrechnung oder Vollstreckung, durchzusetzen.

Die Feststellungsklage ist - nach zulässiger Klageänderung im Sinne von § 99 SGG - zulässig (A) und begründet (B).

A. Der Kläger hat im erstinstanzlichen Verfahren eine zulässige Klageänderung i.S.v. § 99 Abs. 1 SGG vorgenommen, indem er seine ursprünglich erhobene isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 09.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 (§ 54 Abs. 2 SGG) in eine Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 SGG) umgestellt hat. Der Beklagte hat sich durch Stellung eines Klageabweisungsantrages rügelos zur Klageänderung eingelassen.

Die Feststellungsklage ist zulässig. Nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann mit der Feststellungsklage das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Hiervon erfasst wird auch die Feststellung einzelner Beziehungen oder Berechtigungen aus einem umfassenderen Rechtsverhältnis (allgemeine Meinung, u.a. BSG, Urteil vom 20.11.2001 - B 1 KR 31/00 R; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 55 Rn. 9a). Ein berechtigtes Feststellungsinteresse des Klägers besteht, da der Beklagte sich der Möglichkeit der Aufrechnung, also der Erzwingbarkeit der im angefochtenen Bescheid festgestellten Erstattungsforderung berühmt.

B. Die Feststellungsklage ist begründet. Der Beklagte ist seit Erteilung der Restschuldbefreiung gemäß § 286 InsO nicht mehr berechtigt, die Erstattungsforderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 gegen den Kläger rechtlich durchzusetzen. Der Beklagte ist weder berechtigt, die Erstattungsforderung durch Aufrechnung gemäß § 43 SGB II (I) noch durch die Einleitung eines Vollstreckungsverfahren (II) durchzusetzen.

I. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist er nicht mehr berechtigt, die sich aus dem Bescheid vom 09.09.2009 ergebende Forderung im Wege der Aufrechnung nach § 43 SGB II zu realisieren. Bei der Aufrechnung handelt es sich um einen der Zwangsvollstreckung ähnlichen, außergerichtlichen Zugriff auf die Gegenforderung, um eine Forderungsdurchsetzung im Wege der Selbsthilfe (BSG, Urteil vom 07.02.2012 - B 13 R 85/09 R).

Voraussetzung für eine Aufrechnung gemäß § 43 Abs. 1 SGB II ist das Bestehen einer Aufrechnungslage i.S.v. § 387 BGB. Dies erfordert, dass die Forderungen gleichartig und gegenseitig sind, die Gegenforderung - vorliegend die Erstattungsforderung - vollwirksam, fällig (Bestandkraft oder vorläufige Vollstreckbarkeit des Erstattungsbescheides, Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4 Aufl., § 43 Rn. 19 m.w.N.) und erzwingbar ist (BGH, Urteil vom 19.05.2011 - IX ZR 222/08). Die Hauptforderung muss (mindestens) erfüllbar sein.

Die Forderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 ist zwar nach der mit der Klageänderung einhergehenden (konkludenten) Rücknahme der Anfechtungsklage bestandskräftig geworden, gleichwohl aber keine vollwirksame Gegenforderung i.S.v. § 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB II. Denn infolge der erteilten Restschuldschuldbefreiung hat sich die Erstattungsforderung aus dem angefochtenen Bescheid in eine Naturalobligation, d.h. in eine unvollkommene Forderung, gewandelt (BSG, Urteil vom 16.12.2015 - B 12 KR 19/14 R). Sie begründet keine Aufrechnungslage i.S.v. § 387 BGB.

Die Erstattungsforderung ist von der erteilten Restschuldbefreiung erfasst (1). Weder greifen die Privilegierungen nach § 302 InsO (2) und § 94 InsO (3) zu Gunsten des Beklagten ein noch hat er ausnahmsweise die Möglichkeit, seine Forderung noch durchzusetzen (4).

1. Ist der Schuldner eine natürliche Person, so wird er gemäß § 286 InsO nach Maßgabe der §§ 287 bis 303 InsO von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern befreit. Eine Restschuldbefreiung wirkt gemäß § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger. Insolvenzgläubiger sind alle persönlichen Gläubiger des Schuldners, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (§ 38 InsO). Der anspruchsbegründende Tatbestand muss bereits vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen sein (BFH, Urteil vom 28.11.2017 - VII R 1/16). Begründet in diesem Sinne ist ein Anspruch, wenn das Schuldverhältnis vor Verfahrenseröffnung bestand, selbst wenn sich hieraus eine Forderung erst nach Verfahrenseröffnung ergibt (BGH, Urteil vom 05.04.2016 - VI ZR 283/15). Eine von der Restschuldbefreiung erfasste Insolvenzforderung besteht nach deren Erteilung als unvollkommene Verbindlichkeit fort; sie ist nicht erzwingbar, jedoch weiterhin erfüllbar. Sie ist tauglicher Rechtsgrund, die Erfüllung einer Forderung behalten zu dürfen, nicht jedoch geeignet, eine (weitere) Erfüllung zu verlangen ("Naturalobligation" (BFH, Urteil vom 13.12.2016 - X R 4/15; Kexel in Graf - Schlicker, InsO, 4. Aufl. 2014, § 301 Rn. 8 ff; Stephan in Münchener Kommentar Insolvenzordnung, 3. Aufl. 2015, § 286 Rn.17; Sternal in Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 14. Aufl. 2015; Streck in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 6. Aufl. 2017, § 301 Rn. 9) Nach der Umwandlung der Gegenforderung in eine Naturalobligation fehlt es an ihrer Vollwirksamkeit, zugleich daher an ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit im Wege der Aufrechnung.

Der Beklagte ist Insolvenzgläubiger i.S.v. § 38 ÍnsO. Die streitige Erstattungsforderung ist zur Tabelle angemeldet und vom Insolvenzverwalter nicht bestritten worden. Die gesamte Forderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 wird daher von der Restschuldbefreiung erfasst und ist als Naturalobligation seither nicht mehr gegen den Kläger erzwingbar.

Denn die Erteilung der Restschuldbefreiung stellt einen materiell-rechtlichen Einwand gegen den bislang vorliegenden Titel - den Bescheid vom 09.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 - dar. Aus der fehlenden Durchsetzbarkeit der Insolvenzforderung nach der Erteilung der Restschuldbefreiung ergibt sich insbesondere und entgegen der Rechtsansicht des Beklagten zugleich, dass mit dieser Forderung nicht mehr gegen eine neu entstandene Forderung des Schuldners aufgerechnet werden kann (für viele: Kexel, a.a.O., Rn. 11; Waltenberger in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 8. Aufl. 2016, § 301 Rn. 3). Die Erteilung der Restschuldbefreiung hindert insgesamt die Aufrechnung mit einer der Restschuldbefreiung unterfallenden Insolvenzforderung (Grünberg in Palandt, BGB, 76. Aufl., § 387 Rn. 11; OLG München, Urteil vom 30.11.2017 - 23 U 1226/17).

2. Der Beklagte kann sich nicht auf die Privilegierung nach § 302 Nr. 1 InsO berufen. Hiernach werden von der Erteilung der Restschuldbefreiung u.a. Verbindlichkeiten des Schuldners aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung nicht berührt. Dabei hat § 302 Nr. 1 InsO nicht zur Voraussetzung, dass ein Anspruch aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung auch als solcher gerichtlich durchsetzbar sein müsste. Das Verbraucherinsolvenzverfahren soll den insolventen Schuldner davor bewahren, "zeitlebens" Schulden abtragen und dauerhaft unter dem Pfändungsfreibetrag leben zu müssen. Daher wird der Schuldner bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen im Regelfall von seinen restlichen Schulden befreit (Restschuldbefreiung). Dies gilt nicht für bestimmte, in § 302 InsO angesprochene, von der Restschuldbefreiung ausgenommene Fälle. Der Gesetzgeber bringt mit § 302 Nr. 1 InsO zum Ausdruck, dass der besondere Unwertgehalt einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung weiterhin mit dem regulären Zugriff auf gegenwärtiges und künftiges Einkommen und Vermögen zu belegen ist. Gleichgültig muss dabei sein, auf welchen rechtlichen Grundlagen dieser Zugriff beruht (zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Inanspruchnahme). § 302 Nr. 1 InsO stellt in dieser Hinsicht ein besonderes Billigkeitsrecht dar (BSG, Beschluss vom 14.07.2014 - B 11 SF 1/14 R).

§ 302 Abs. 1 Nr. 1 InsO greift nicht zu Gunsten des Beklagten ein, weil die streitbefangene Forderung nicht als Forderung aus einer "vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung" zur Tabelle angemeldet worden ist. Dies ist bereits nach dem Wortlaut von § 302 Nr. 1 InsO konstitutiv für das Eingreifen der Ausnahme.

3. Dahinstehen kann, ob die Auffassung des Beklagten zutrifft, dass Forderungen, die während eines Insolvenzverfahrens im Wege der Aufrechnung gemäß § 94 InsO durchsetzbar sind, nach Erteilung der Restschuldbefreiung weiterhin im Wege der Aufrechnung durchsetzbar sind (FG Kiel, Urteil vom 23.10.2013 - 4 K 186/11; FG München, Urteil vom 29.04.2015 - 1 K 1080/ 13; BGH, Urteil vom 19.05.2011 - IX ZR 222/08 für den Fall des Insolvenzplanes nach § 254 Abs. 1 InsO; a.A. Sins in Uhlenbrock a.a.O., § 94 Rn. 82 m.w.N.; Kexel, a.a.O., Rn.10 zweifelnd hinsichtlich der praktischen Bedeutsamkeit). Denn eine Aufrechnungslage i.S.v. § 94 InsO betreffend die Erstattungsforderung des Beklagten hat nicht bestanden. Nach § 94 InsO wird das Recht zur Aufrechnung durch das Insolvenzverfahren nicht berührt, wenn ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kraft Gesetzes oder aufgrund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt war.

Eine Aufrechnungslage i.S.v. § 94 InsO hat bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers zum einen deshalb nicht bestanden, weil die Forderung, gegen die der Beklagte annimmt, aufrechnen zu können ("Hauptforderung"), nicht Bestandteil der Insolvenzmasse gewesen ist (a), zum anderen deshalb, weil die Forderung, mit der der Beklagte aufzurechnen beabsichtigt ("Gegenforderung"), zum maßgeblichen Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht fällig war (b). Die Sondervorschriften der InsO über die Zulässigkeit einer Aufrechnung in den §§ 94 f. InsO knüpfen daran an, dass sich beide Forderungen - sowohl Haupt- als auch Gegenforderung - auf die Insolvenzmasse beziehen (Jacoby in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, vor § 94 f. Rn. 1, 8).

a) Zur Insolvenzmasse gehört nach § 35 Abs. 1 InsO das gesamte Vermögen des Schuldners, das ihm zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt. Nach § 36 Abs. 1 InsO gehören Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, nicht zur Insolvenzmasse. Nur im Umfang ihrer Pfändbarkeit gehören insbesondere auch die dem Schuldner zustehenden Sozialleistungen zur Insolvenzmasse (Bayerisches LSG, Urteil vom 23.04.2013 - L 20 R 819/09, LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.10.2013 - L 6 R 163/13, Hessisches LSG, Urteil vom 03.08.2016 - L 5 R 123/15 m.w.N.; Hirte in Uhlenbruck, a.a.O., § 36 Rn. 4 ff.; Keller, a.a.O., § 36 Rn. 75).

Die als Hauptforderung in Betracht kommenden Ansprüche des Klägers auf laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff. SGB II haben nicht der Zwangsvollstreckung unterlegen. Die Pfändbarkeit von Sozialleistungen regelt § 54 SGB I. Nach § 54 Abs. 4 SGB I können Ansprüche auf laufende Geldleistungen im Übrigen - also abgesehen von den insofern nicht vorliegenden Ausnahmen der Abs. 3 und 5 - wie Arbeitseinkommen gepfändet werden. Das SGB II sieht für die Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II keinen besonderen Pfändungsschutz vor, so dass die allgemeinen Vorschriften der §§ 850 ff. ZPO anwendbar sind (BGH, Beschlüsse vom 25.11.2010 - VII ZB 111/09 und vom 25.10.2012 - VII ZB 47/11; ebenso BSG, Urteil vom 16.10.2012 - B 14 AS 188/11 R). Dies führt dazu, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II regelmäßig unpfändbar sind, weil diese Geldleistungen nur oberhalb des für Arbeitseinkommen geltenden Pfändungsfreibetrags (§ 850c ZPO) gepfändet werden können, der regelmäßig deutlich höher ist als die Leistungen nach dem SGB II (BGH, Beschluss vom 25.10.2012 - VII ZB 47/11). Eine Pfändung auch nur kleiner Teilbeträge aus den Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II kommt nicht in Betracht (BGH, Beschluss vom 25.11.2010 - VII ZB 111/09).

Bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers am 15.09.2010 hat sich die monatliche Pfändungsfreigrenze nach § 850c Abs. 1 S. 1 ZPO auf 930,00 EUR (§ 850 c ZPO in der Fassung vom 05.12.2005 i.V.m. der für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis 30.06.2011 geltenden Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung 2009, BGBl I 1141) belaufen.

Die dem Kläger bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben 2010 zwischen monatlich 543,90 EUR und 680,70 EUR betragen; diese Leistungen haben demnach gemäß § 54 Abs. 4 SGB I i.V.m. § 850c Abs. 1 S. 1 ZPO nicht der Pfändung unterlegen, sind nicht Bestandteil der Insolvenzmasse und daher auch keine taugliche Gegenforderung im Rahmen der von § 94 InsO vorausgesetzten Aufrechnungslage gewesen.

b) Die Anwendbarkeit von § 94 InsO scheitert darüber hinaus an der fehlenden Fälligkeit der Gegenforderung. An der Fälligkeit im Sinne uneingeschränkter Durchsetzbarkeit der Gegenforderung im maßgeblichen Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fehlte es wegen der Anfechtung des Bescheides vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 durch Widerspruch und Klage. Widerspruch und Klage gegen den Erstattungsbescheid hatten gemäß § 86 Abs. 1 S. 1 SGG aufschiebende Wirkung, und ein Fall des § 39 SGB II hat betreffend die Erstattungsforderung aus § 50 SGB X nicht vorgelegen. Deshalb konnte nach Einlegung der Rechtsbehelfe mit der Erstattungsforderung aus dem Bescheid vom 09.09.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009 so lange nicht aufgerechnet werden, wie dieser nicht bestandskräftig geworden war oder der Beklagte die sofortige Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG angeordnet hatte.

Die Gegenforderung ist daher, da Sofortvollzug nicht angeordnet worden war, so lange nicht fällig gewesen, wie um sie gestritten wurde. Dieser Streit hat bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung angedauert; das vorliegende sozialgerichtliche Verfahren war zu diesem Zeitpunkt nicht abgeschlossen. Selbst wenn man annimmt, dass in der Umstellung der ursprünglichen Anfechtungsklage in eine Feststellungsklage die zur Fälligkeit der Rückforderung führende Rücknahme der ursprünglich erhobenen Klage liegt, ändert dies die Sachlage nicht. Denn diese Klageänderung ist erst nach Erteilung der Restschuldbefreiung durch den Beschluss des Amtsgerichts Krefeld vom 14.11.2016, nämlich im Erörterungstermin am 11.04.2017, vorgenommen worden.

4. Die Auffassung des Beklagten, § 43 SGB II erlaube auch die Aufrechnung mit unvollkommenen Gegenforderungen, trifft nicht zu. Denn § 43 SGB II ist lex specialis zu der in § 51 SGB I geregelten Aufrechnung. Durch § 43 SGB II wird den Leistungsträgern nach dem SGB II die erleichterte Durchsetzung von Erstattungs- und Ersatzansprüchen ermöglicht. Leistungsberechtigte nach dem SGB II sind vor der Durchsetzung dieser Ansprüche weniger geschützt, als dies nach §§ 51 und 54 SGB I sonst im Sozialrecht und nach § 394 BGB i.V.m. §§ 850 ff ZPO im Zivilrecht der Fall ist (BSG, Urteil vom 09.03.2016 - B 14 AS 20/15 R). Jedoch gilt im Verhältnis zu den Vorschriften über die Aufrechnung und Verrechnung im SGB I (§§ 51, 52 SGB I) unmodifiziert, dass eine Aufrechnungslage i.S.v. § 387 BGB bestehen muss. Auch §§ 51, 52 SGB I fordern insoweit das Bestehen einer (voll)wirksamen Gegenforderung (Siefert in Kasseler Kommentar, März 2016, § 51 SGB I Rn. 12; Häusler in Hauck/Noftz, SGB I, 12/09, § 51 Rn. 11).

Dabei hindert die Einleitung eines Insolvenzverfahrens einen Grundsicherungsträger nicht grundsätzlich an der Durchsetzung von Erstattungsforderungen nach § 50 SGB X. Denn er hat - vgl. zuvor - die Möglichkeit, eine solche Forderung als Forderung i.S.v. § 302 InsO anzumelden. Er kann weiter eine Aufrechnung nach § 43 Abs. 1 SGB II trotz Anmeldung der Erstattungsforderung zur Insolvenztabelle auch während des Insolvenzverfahrens durchführen. Die Fälligkeit der Forderung kann - bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen - durch die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 86a SGG bewirkt werden. Insbesondere bei einer - wie hier - nicht insolvenzbefangenen (Haupt-)Forderungen kann nach §§ 52, 51 Abs. 2 SGB I verrechnet werden, ohne dass die Vorschriften der InsO zur Anwendung gelangen (Hessisches LSG, Urteil vom 03.08.2016 - L 5 R 123/15 - zur Verrechnung mit offenen Sozialversicherungsbeiträgen). Schließlich gibt es nach der InsO die Möglichkeit, eine Erstattungsforderung nach § 50 SGB X vor der Restschuldbefreiung zu schützen, indem in tatbestandlich geeigneten Fällen ein Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung nach § 290 Abs. 1 InsO gestellt wird.

II. Auch die Einleitung eines Vollstreckungsverfahrens ist nicht mehr zulässig.

Der Vollstreckung der Erstattungsforderung nach dem VwVG (§ 40 Abs. 8 SGB II i.V.m. § 66 SGB X; vgl. zu den Voraussetzungen einer solchen Vollstreckung: BSG, Urteil vom 25.06.2015 - B 14 AS 38/14 R) steht entgegen, dass die Umwandlung der Erstattungsforderung in eine Naturalobligation durch die Restschuldbefreiung zu einem Vollstreckungshindernis i.S.v. § 257 Abs. 1 Nr. 3 AO führt (FG Münster, Urteil vom 09.09.2016 - 4 K 2154/15; Stephan a.a.O., § 301 Rn. 13 differenzierend zur Rechtsdurchsetzung bei titulierten Ansprüchen; Sternal, a.a.O., Rn.40).

Ebenso ist eine Vollstreckung nach den Vorschriften der ZPO nicht zulässig. Einer zur Tabelle angemeldeten Forderung steht nach Erteilung der Restschuldbefreiung zwar nicht mehr das Vollstreckungsverbot aus § 294 Abs.1 InsO entgegen, doch entfällt die Vollstreckbarkeit aus der Tabelle des § 201 Abs. 2 Satz 1 InsO. Nach Erteilung der Restschuldbefreiung darf den Gläubigern keine vollstreckbare Ausfertigung aus der Eintragung in der Tabelle mehr erteilt werden (AG Göttingen, Beschluss vom 04.06.2008 - 74 IK 159/00 - m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Ein Grund zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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