L 19 AS 2243/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 2444/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 2243/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 03.11.2017 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an dieses Gericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 sowie für die Zeit vom 01.07.2017 bis zum 31.08.2017.

Die 1989 geborene Klägerin bezog ursprünglich vom Jobcenter F Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und zog im Juni 2016 nach E um.

Am 23.06.2016 beantragte sie beim Beklagten die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

Im Januar 2017 erhob sie beim Sozialgericht Gelsenkirchen Untätigkeitsklage (S 33 AS 95/17) und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (S 33 AS 79/17 ER). In dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren verpflichtete das Sozialgericht den Beklagten mit Beschluss vom 24.01.2017, der Klägerin Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe unter Beachtung des Regelbedarfs ab dem 10.01.2017 bis zum 30.06.2017 zu bewilligen und entsprechende Leistungen zur Auszahlung zu bringen. Daraufhin bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 27.01.2017 unter Berufung auf § 41a SGB II vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 10.01.2017 bis zum 30.06.2017 i.H.v. 409,00 Euro monatlich. In der Rechtsbehelfsbelehrung ist ausgeführt, dass der Bescheid in Umsetzung des Beschlusses im Verfahren S 33 AS 79/17 ER ergehe.

Mit einem zweiten Bescheid vom 27.01.2017 versagte der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 unter Berufung auf § 66 SGB I. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein (W xxx) und reichte Kontoauszüge sowie weitere Unterlagen ein.

Am 28.06.2017 beantragte sie die Weiterbewilligung der Leistungen für die Zeit ab dem 01.07.2017.

Mit Bescheid vom 12.07.2017 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 wegen fehlender Hilfebedürftigkeit ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch (W xxx) wies der Kreis S mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2017 als unbegründet zurück.

Mit weiterem Bescheid vom 12.07.2017 lehnte der Beklagte den Antrag vom 28.06.2017 auf Gewährung von Leistungen ab dem 01.07.2017 wegen fehlender Hilfebedürftigkeit ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch (W xxx) wies der Kreis S mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2017 als unbegründet zurück.

Den gegen den Versagungsbescheid vom 27.01.2017 eingelegten Widerspruch (W xxx) verwarf der Kreis S mit Widerspruchsbescheid ebenfalls vom 31.07.2017 als unzulässig. Er übernahm die notwendigen Kosten der Klägerin für dieses Widerspruchsverfahren und erstattete auf Antrag die angefallenen Rechtsanwaltsgebühren.

Mit zwei Bescheiden vom 05.09.2017 setzte der Beklagte die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 10.01.2017 bis zum 30.06.2017 endgültig auf 0,00 Euro monatlich fest und forderte die Erstattung eines Betrages i.H.v. 2.344,93 Euro. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.

Am 05.09.2017 beantragte die Klägerin die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Hierauf bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 28.09.2017 unter Berufung auf § 41a SGB II vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.09.2017 bis zum 28.02.2018 in Höhe des Regelbedarfs von 409,00 Euro monatlich. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Mit Änderungsbescheid vom 04.10.2017 bewilligte der Beklagte der Klägerin unter Berufung auf § 41a SGB II vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 850,00 Euro monatlich (409,00 Euro Regelbedarf, 441,00 Euro Unterkunftskosten) für die Zeit vom 01.09.2017 bis zum 28.02.2018.

Am 24.08.2017 hat die Klägerin beim Sozialgericht Gelsenkirchen Klage erhoben und den Antrag gestellt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 27.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 zu verpflichten, ihr im Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 SGB II-Leistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren (S 5 AS 2444/17). Der Klageschrift ist eine Kopie des Versagungsbescheides vom 27.01.2017 sowie eine Kopie des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017, der im Widerspruchsverfahren W xxx ergangen war, beigefügt gewesen.

Am 25.08.2017 hat die Klägerin Klage erhoben und begehrt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 (W xxx) zu verurteilen, ihr für den Zeitraum ab dem 01.07.2017 SGB II-Leistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren (S 5 AS 2488/17).

Mit Beschluss vom 02.11.2017 hat das Sozialgericht die Verfahren S 5 AS 2444/17 und S 5 AS 2488/17 zur gemeinsamen Verhandlungen und Entscheidung verbunden. Führend sei das Verfahren S 5 AS 2444/17.

Die Klägerin hat vorgetragen, die Unterstützung durch ihre Eltern sowie ihren Exfreund sei ausschließlich darlehensweise erfolgt.

Der Beklagte ist der Auffassung gewesen, es bestünden erhebliche Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Klägerin.

Das Sozialgericht hat nach Anhörung der Klägerin im Erörterungstermin vom 30.10.2017 mit Gerichtsbescheid vom 03.11.2017 die Klagen abgewiesen. Gegenstand des Verfahrens sei der Versagungsbescheid vom 27.01.2017 in der Fassung des Ablehnungsbescheids vom 12.07.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2017. Der Versagungsbescheid habe sich durch Erteilung des Ablehnungsbescheides i.S.d. § 39 Abs. 2 SGB X erledigt. Der Beklagte habe die formale Versagungsentscheidung durch den Einstieg in die materiell-rechtliche Prüfung und die Erteilung des Ablehnungsbescheids gegenstandslos werden lassen. Der Ablehnungsbescheid sei gemäß § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Der Bescheid vom 27.01.2017 in der Fassung des Ablehnungsbescheides vom 12.07.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 sei rechtmäßig. Der Klägerin stehe für die Zeit vom 01.06.2016 bis zum 30.06.2017 kein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zu. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Klägerin, insbesondere aufgrund der erheblichen Bareinzahlungen auf ihrem Girokonto. Hierbei handele es sich um Einkommen i.S.d. § 11 SGB II. Die Erklärungen im Termin vom 30.10.2017 seien zum Beweis der Hilfebedürftigkeit nicht geeignet. Beweisbelastet sei insoweit die Klägerin. Das Gericht halte ihre Angabe, dass es sich bei sämtlichen Bareinzahlungen um geliehenes Geld ihrer Mutter gehandelt habe, nicht für glaubhaft. An die Gewährung von Darlehen unter Verwandten seien strenge Anforderungen zu stellen. Soweit die Klägerin einwende, dass ihre Mutter über das geliehene Geld handschriftliche Listen geführt habe und sie die Leihgabe durch monatliche Zahlung eines Betrags i.H.v. 100,00 Euro in bar zurückführe, überzeuge dies das Gericht nicht. Diese Ausführungen seien insbesondere nicht geeignet, das Bestehen einer Rückzahlungsverpflichtung darzulegen. Weder eine grundsätzliche Rahmenabrede noch die einzelnen Darlehensabreden seien dargelegt. Wann und ob eine Rückzahlungsverpflichtung eintreten solle, bleibe unklar. Dies spreche eher für eine Gefälligkeit der Mutter. Dies stelle nach allgemeiner Rechtsgeschäftslehre aber keinen Vertrag dar. Auch die Höhe der jeweiligen Einnahmen, insbesondere im August, September, Oktober und Dezember 2016, lasse erhebliche Zweifel aufkommen, ob hier von der Mutter lediglich Darlehen zu Unterhaltssicherung gewährt worden seien.

Gegen diesen am 07.11.2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15.11.2017 Berufung eingelegt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Das Sozialgericht hätte ihre Mutter als Zeugin vernehmen müssen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 03.11.2017 zu ändern und

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 (W xxx) zu verurteilen, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 in gesetzlicher Höhe zu gewähren und

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 (W xxx) zu verurteilen, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 01.07.2017 bis zum 31.08.2017 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf das erstinstanzliche Urteil und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der beigezogenen Gerichtsakte des Sozialgerichts Gelsenkirchen S 33 AS 79/17 ER Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet und führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht Gelsenkirchen.

Streitgegenstand des Verfahrens ist nach Verbindung der beiden Klagen S 5 AS 2444/17 und S 5 AS 2488/17 durch Beschluss des Sozialgerichts vom 02.11.2017 der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 sowie für die Zeit vom 01.07.2017 bis zum 31.08.2017.

Gegenstand der Klage in dem Verfahren S 5 AS 2444/17 ist das Begehren der Klägerin auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 unter Aufhebung des Bescheides vom 12.07.2017, mit dem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 wegen fehlender Hilfebedürftigkeit abgelehnt hat, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 (W xxx). Dies hat die Klägerin mit der Antragstellung im Berufungsverfahren klargestellt. Bei dieser Änderung des Antrags "Aufhebung des Bescheides vom 12.07.2017" anstelle "Aufhebung des Bescheides vom 27.01.2017" handelt es sich nicht um eine Klageänderung i.S.v. § 99 Abs. 1 SGG, sondern um eine Berichtigung der rechtlichen Ausführungen i.S.v. § 99 Abs. 3 Nr. 1 SGG. Denn der in der Klageschrift gestellte Antrag "den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 27.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 zu verpflichten, ihr im Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 SGB II-Leistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren" ist dahingehend auszulegen, dass die Klägerin die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Aufhebung des Bescheides vom 12.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 (W xxx) für den Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 begehrt.

Bei der Auslegung einer Klageschrift, die eine Prozesserklärung darstellt, ist das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Es ist nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen, wobei auch die Begleitumstände einer Erklärung von Bedeutung sind (BSG, Urteil vom 23.02.2017 - B 11 AL 2/16 R m.w.N.). Der Klageschrift ist der Widerspruchsbescheid vom 31.07.2017, der das Widerspruchsverfahren W xxx abgeschlossen hatte, beigefügt gewesen. Gegenstand dieses Widerspruchsverfahren war nicht der Versagungsbescheid vom 27.01.2017, sondern der Ablehnungsbescheid vom 12.07.2017 betreffend den Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017. Durch die Beifügung der Kopie dieses Widerspruchsbescheides hat die Klägerin ihren in der Klageschrift gestellten Klageantrag "den Widerspruchsbescheid vom 31.07.2017" aufzuheben, dahingehend konkretisiert, dass von den drei Widerspruchsbescheiden, die am 31.07.2017 erlassen worden sind, Gegenstand des Klageverfahrens der im Widerspruchsverfahren W xxx erlassene Widerspruchsbescheid sein soll. Dieser Widerspruchsbescheid bildet mit dem Ablehnungsbescheid vom 12.07.2017 betreffend den Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 nach § 95 SGG eine rechtliche (prozessuale) Einheit.

Dass die Klägerin in ihrem Klageantrag als ursprünglichen Verwaltungsakt stattdessen den Versagungsbescheid vom 27.01.2017 bezeichnet und eine Kopie dieses Bescheides auch der Klageschrift beigefügt hat, ist demgegenüber irrelevant. Es handelte sich hierbei angesichts des tatsächlich der Klage beigefügten Widerspruchsbescheides sowie vor dem Hintergrund der mit dem Klageantrag erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG um ein offenkundiges Versehen. Denn hätte die Klägerin den Versagungsbescheid vom 27.01.2017 anfechten wollen, hätte sie zum einen den Widerspruchsbescheid vom 31.07.2017 mit dem Aktenzeichen W xxx angreifen müssen; zum anderen wäre in diesem Falle nur eine reine Anfechtungsklage i.S.d. § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGG zulässig gewesen (BSG, Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 78/08 R). Mit einer solchen Anfechtungsklage hätte die Klägerin ihr in der Klageschrift zum Ausdruck kommendes Begehren - Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Leistungen für die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 - jedoch gerade nicht erreichen können.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der Ablehnungsbescheid vom 12.07.2017 auch nicht nach § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens gegen den Versagungsbescheid vom 27.01.2017 geworden. Der Bescheid vom 12.07.2017 hat den Bescheid vom 27.01.2017 weder i.S.v. § 86 SGG abgeändert noch zu dessen Erledigung (§ 39 Abs. 2 SGB X) geführt. Eine Abänderung i.S.v. § 86 SGG liegt nur vor, wenn ein neuer Verwaltungsakt ganz an die Stelle des alten tritt, ohne dass er diesen ausdrücklich aufheben müsste. Voraussetzung für eine Abänderung i.S.v. § 86 SGG, die einer Ersetzung i.S.v. § 96 SGG entspricht (BSG, Urteil vom 05.07.2017 - B 14 AS 36/16 R - SozR 4-1500 § 86 Nr. 3), ist, dass die Regelungsgegenstände der beiden Verwaltungsakte zumindest teilweise identisch sind. Dies ist durch einen Vergleich beider Verfügungssätze sowie des zugrunde liegenden Sachverhaltes zu ermitteln (zur Ersetzung i.S.v. § 96 SGG: BSG, Urteil vom 28.10.2014 - B 14 AS 39/13 R - SozR 4-1300 § 44 Nr. 31; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 96 Rn. 4 m.w.N.). Die Regelungsgegenstände des Versagungsbescheides vom 27.01.2017 und des Ablehnungsbescheides vom 12.07.2017 sind nicht identisch, die Bescheide stehen lediglich in einem Sachzusammenhang. Zwar treffen beide Bescheide eine Regelung zum selben Zeitraum; jedoch ist der jeweilige Regelungsgegenstand verschieden, was bereits an den zugrunde gelegten Rechtsgrundlagen ersichtlich wird. Während der Bescheid vom 27.01.2017 die Gewährung von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II nach § 66 Abs. 1 SGB I versagt, da die Klägerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei, lehnt der Bescheid vom 12.07.2017 die Gewährung von Leistungen ab, da die materiellen Voraussetzungen nach §§ 7, 9 Abs. 1 SGB II wegen vorhandenen Einkommens nicht erfüllt seien (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 25.10.1988 - 7 RAr 70/87 - SozR 1200 § 66 Nr. 13; zum Verhältnis eines Versagungsbescheides nach § 66 SGB I zu einer Entscheidung nach § 67 SGB I: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31.01.2008 - L 21 R 187/05; Beschluss des Senats vom 06.08.2008 - L 19 B 94/08 AS). Zwar kann eine solche materiell-rechtliche Ablehnungsentscheidung nur getroffen werden, wenn der gesamte Sachverhalt nach Auffassung der Behörde geklärt ist und somit sämtliche Leistungsvoraussetzungen geprüft werden können. Es ist also davon auszugehen, dass die Klägerin zumindest im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 12.07.2017 auch nach Auffassung des Beklagten die geforderte Mitwirkung nachgeholt haben muss. Es ist aber zu berücksichtigen, dass sich eine Versagungsentscheidung im Falle der Nachholung der Mitwirkung bzw. der Entscheidung über den materiellen Anspruch entgegen der Auffassung des Beklagten nicht von selbst i.S.v. § 39 Abs. 2 SGB X erledigt. Ihre Rechtmäßigkeit ist allein danach zu beurteilen, ob bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides die Mitwirkungshandlung vorgenommen wurde. Wird die Mitwirkungshandlung nachgeholt, so wird die Versagung bzw. Entziehung nach § 66 SGB I ab dem Zeitpunkt der Nachholung rechtswidrig. Sie bleibt jedoch wirksam, bis sie rückwirkend zum Beginn der Nachholungshandlung aufgehoben wird (BSG, Urteil vom 22.02.1995 - 4 RA 44/94 - BSGE 76, 16; BVerwG, Urteil vom 17.01.1985 - 5 C 133/81 - BVerwGE 71, 8; Sichert in Hauck/Noftz, SGB I, Stand XI/11, § 66 Rn. 48; Mrozynski, SGB I, 5. Aufl. 2014, § 66 Rn. 26 f., § 67 Rn. 10; Voelzke in jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, § 67 Rn. 18 m.w.N.; Seewald in Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2010, § 66 Rn. 30). Dies erfordert einen Aufhebungsbescheid nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X (vgl. Reinhardt in Krahmer, SGB I, 3. Aufl. 2014 § 67 Rn. 7). Eine solche Entscheidung hat der Beklagte nicht, auch nicht konkludent getroffen. Zudem liegt eine Abänderung oder Ersetzung i.S.d. § 86 SGG grundsätzlich nur vor, wenn die Beschwer des Betroffenen endgültig gemindert oder vermehrt wird (Schmidt, a.a.O., § 96 Rn. 4b). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Durch den Ablehnungsbescheid vom 12.07.2017 ist vielmehr zu der durch den Versagungsbescheid vom 27.01.2017 erfolgten Beschwer eine weitere, selbständige Beschwer hinzugetreten.

Gegenstand der Klage im Verfahren S 5 AS 2488/17 war der Bescheid vom 12.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 (W xxx), mit dem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum ab dem 01.07.2017 wegen fehlender Hilfebedürftigkeit abgelehnt hat. Infolge der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch den Bescheid vom 28.09.2017 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 04.10.2017 für die Zeit vom 01.09.2017 bis zum 28.02.2018 hat die Klägerin ihr Klagebegehren im Berufungsverfahren insoweit auf den 31.08.2017 zeitlich beschränkt.

Durch die Verbindung der beiden Klagen durch Beschluss vom 02.11.2017 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung sind damit streitbefangene Zeiträume die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 und die Zeit vom 01.07.2017 bis zum 31.08.2017.

Eine Entscheidung des Senats über die Begründetheit dieser Klagen ist nicht angezeigt, da das Verfahren vor dem Sozialgericht an wesentlichen Verfahrensmängeln leidet. Vielmehr ist der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder ein Mangel der Entscheidung selbst. Wesentlich ist der Mangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts auf ihm beruhen kann und seinetwegen das erstinstanzliche Verfahren keine ordnungsgemäße Entscheidungsgrundlage ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 159 Rn. 3a; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 159 Rn. 5 m.w.N.). Dabei ist (nur) auf die Rechtsauffassung des Sozialgerichts abzustellen.

Vorliegend leidet das Verfahren an wesentlichen Verfahrensmängeln im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Das Urteil verstößt gegen die zwingende Vorschrift des § 123 SGG (dazu unter 1.). Das Sozialgericht hat den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht nach §§ 103, 106 SGG nicht genügt (dazu unter 2.).

1. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.

Das Sozialgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe über den Leistungsanspruch der Klägerin für die Zeit vom 01.06.2016 bis zum 30.06.2017 entschieden, obwohl die Zeiträume vom 01.06.2016 bis zum 22.06.2016 und vom 10.01.2017 bis zum 30.06.2017 im Verfahren S 5 AS 2444/17 nicht streitbefangen gewesen sind. Denn in der Klageschrift ist der streitbefangene Zeitraum ausdrücklich auf die Zeit vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 begrenzt worden. Demgegenüber hat das Sozialgericht eine Entscheidung über den Leistungsanspruch der Klägerin für die Zeit ab dem 01.07.2017, der Gegenstand der Klage S 5 AS 2488/17 gewesen ist, nicht getroffen. Die Einbeziehung von Zeiträumen in die Entscheidung, die nicht streitbefangen sind, wie auch die fehlende Entscheidung über einen streitbefangenen Zeitraum stellen Verstöße gegen § 123 SGG dar. Der Rechtsirrtum eines Gerichts, der auf der unzutreffenden Auslegung des geltend gemachten Klagebegehrens oder der irrtümlichen Annahme einer Beschränkung der Klage beruht, ist typischer Grund für eine bewusste Ausklammerung eines Teils des Klagebegehrens aus der einen Rechtsstreit abschließenden Entscheidung durch ein Vollurteil, die einen Verfahrensmangel i.S.v. § 123 SGG darstellt (BSG, Beschluss vom 02.04.2014 - B 3 KR 3/14 B - SozR 4-1500 § 140 Nr. 2 m.w.N.).

2. Das Sozialgericht hat gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) verstoßen. Auch ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung hätte es sich zu einer weiteren Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen. Die Amtsermittlungspflicht aus § 103 SGG ist verletzt, wenn der dem Sozialgericht bekannte Sachverhalt von seinem materiell-rechtlichen Standpunkt aus nicht für das gefällte Urteil ausreicht, sondern sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (Urteil des Senats vom 10.06.2013 - L 19 AS 239/13 - juris Rn. 46 m.w.N.). Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen.

Es war eine weitere Abklärung des Sachverhalts dazu geboten, ob die Klägerin hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 9 SGB II war.

Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die hilfebedürftig sind. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Als Einkommen zu berücksichtigen sind Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen (§ 11 Abs. 1 S. 1 SGB II).

Insoweit ergibt sich schon aus den Feststellungen des Sozialgerichts bzw. des Beklagten, auf die das Sozialgericht zumindest für den Zeitraum vom 23.06.2016 bis zum 09.01.2017 Bezug genommen hat, zur Höhe der auf den Kontoauszügen der Klägerin dokumentierten Einzahlungen nicht eindeutig, dass der Bedarf der Klägerin, einschließlich etwaiger Kosten für die Kranken- und Pflegeversicherung (die der Beklagte nicht berücksichtigt hat), in jedem Monat der streitbefangenen Zeiträume durch bereite Mittel gedeckt gewesen ist. Feststellungen hinsichtlich eines zugeflossenen Einkommens für die Zeit vom 01.07.2017 bis zum 31.08.2017 fehlen gänzlich.

Zudem ist im Hinblick auf die Hilfebedürftigkeit der Klägerin u.a. zu klären, ob die Zuwendungen der Eltern bei der Klägerin zum endgültigen Verbleib bleiben sollten und damit Einkommen i.S.v. § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II darstellten oder ob es sich um Darlehen, die mit einer Rückzahlungsverpflichtung im Sinne des BGB gegenüber den Eltern belastet waren, bzw. um Zuwendungen, die eine rechtswidrig vom Grundsicherungsträger abgelehnte Leistung eben wegen der Ablehnung bis zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes substituieren sollen, handelte (BSG, Urteil vom 16.02.2012 - B 4 AS 94/11 R - SozR 4-4200 § 11 Nr. 48). Das Sozialgericht hat sich lediglich mit der Frage befasst, ob es sich bei den Zuwendungen der Eltern um mit einer Rückzahlungsverpflichtung verbundene Darlehen gehandelt hat. Daher hat es die weitere erforderliche Prüfung des Vorliegens einer substituierenden Zahlung verkannt und hierzu jegliche Ermittlungen unterlassen. Auch fehlen jedwede Feststellungen des Sozialgerichts, ob es sich bei den Zahlungen der Eltern um ein Einkommen i.S.v. § 11a Abs. 5 SGB II gehandelt hat (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 20.12.2011 - B 4 AS 200/10 R).

Zudem konnte das Sozialgericht über die rechtliche Qualität der Zahlungen der Eltern der Klägerin - auch auf der Grundlage seiner eigenen Rechtsauffassung - nicht ohne weitere Ermittlungen entscheiden. Allein der Bezug auf den Vortrag der Klägerin erfüllte die aus § 103 SGG resultierende Ermittlungspflicht nicht. Vielmehr muss das Tatsachengericht alle Tatsachen ermitteln, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht entscheidungserheblich sind. Für die Feststellung der Hilfebedürftigkeit der Klägerin wäre zumindest eine Vernehmung der Mutter der Klägerin und gegebenenfalls auch ihres Vaters als Zeugen geboten gewesen, um Klarheit über die Einkommensverhältnisse zu erlangen. Denn im Verwaltungsverfahren hat die Klägerin angegeben, die Bareinzahlungen auf ihrem Konto seien von ihren Eltern. Die Eltern gaben an, sie zahlten den Differenzbetrag zur Miete, damals 277,50 Euro.

Aufzuklären sind ebenso die Höhe, Häufigkeit, Qualität und der Zeitpunkt der Zahlungen des damaligen Freundes der Klägerin, von dem sie im Verwaltungsverfahren ebenfalls behauptet hatte, von diesem durch gelegentliche monatliche Zahlungen unterstützt zu werden.

Gänzlich unberücksichtigt gelassen hat das Sozialgericht den Vortrag der Klägerin, sie werde durch ihre beiden Großmütter finanziell unterstützt. Im Verwaltungsverfahren hatte sie hierzu angegeben, eine Großmutter aus Russland habe ihr im Mai für die Zeit ab Juni 5.000,00 Euro gegeben; die Eltern sollten dies einteilen. Die andere Großmutter gebe zwischendurch 100,00 Euro monatlich. Auch zu diesen Zahlungen, ihrer Qualität, ihrer Zeitpunkte sowie ihrer Verwendung (Zahlung der Leasingraten für den Pkw?) ist zu der Anhörung der Klägerin die Vernehmung der Eltern, wenn möglich auch der Großmütter als Zeugen geboten.

Die angefochtene Entscheidung kann auch auf den Verfahrensmängeln beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das Sozialgericht bei ordnungsgemäßem Verständnis hinsichtlich der streitbefangenen Zeiträume sowie bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Aufgrund der Ausklammerung eines Teils des Klagebegehrens sowie der unvollständigen Sachverhaltsaufklärung ist eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich.

Im Rahmen seines nach § 159 Abs. 1 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Entscheidung gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abzuwägen und insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zurückverweisung die Ausnahme sein soll (Keller, a.a.O., § 159 Rn. 5a). Bei der Entscheidung für eine Zurückverweisung hat der Senat berücksichtigt, dass der Rechtsstreit angesichts des bisherigen Ermittlungsausfalls noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich sind. Der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, dass die Klage nunmehr abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln ist. Den Beteiligten würde eine Instanz verloren gehen. Durch die Zurückverweisung verbleibt den Beteiligten die Möglichkeit, ihre Rechte in zwei Tatsacheninstanzen zu wahren. Dementsprechend stellt die Zurückverweisung die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her.

Das Sozialgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 159 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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