L 5 KR 93/18 B ER und L 5 KR 100/18 B PKH

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 8 KR 180/18 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 93/18 B ER und L 5 KR 100/18 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 46 Satz 1 SGB V i. d. F. ab 23. 7. 2015 findet auch dann Anwendung, wenn die Arbeitsunfähigkeit wegen einer anderen Krankheit als der bisherigen auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ärztlich festgestellt wird, sie aber auch bereits vorher vorlag und zur Arbeitsunfähigkeit führte.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 26. April 2018 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Krankengeld nach den gesetzlichen Bestimmungen ab 14. März 2018, längstens bis zu einer Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14. Dezember 2017, zu gewähren. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Instanzen.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin die vorläufige Zahlung von Krankengeld im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die 1984 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Sie erhielt bis zum 10. Oktober 2017 Arbeitslosengeld und bis zum 21. November 2017 wegen nachgewiesener Arbeitsunfähigkeit Leistungsfortzahlung durch die Bundes-agentur für Arbeit. Auf den entsprechenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen war als Arbeitsunfähigkeit-begründende Diagnose J03.9 G (akute Tonsillitis, nicht näher bezeichnet) eingetragen. Die Bescheinigungen erfolgten durch ihren Hausarzt, dem Praktischen Arzt Dr. S. Aufgrund fortlaufender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit gleicher Diagnose erhielt die Antragstellerin ab 22. November 2017 Krankengeld in Höhe von 20,70 EUR brutto täglich. Die letzte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit dieser Diagnose erfolgte bis 8. Dezember 2017, die anschließenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab 11. Dezember 2017 mit der Diagnose K29.7 G (Gastritis, nicht näher bezeichnet).

Mit Bescheid vom 14. Dezember 2017 stellte die Antragsgegnerin daraufhin das Ende des Anspruchs auf Krankengeld ab 8. Dezember 2017 fest, weil die Arbeitsunfähigkeit nicht wegen derselben Krankheit spätestens am nächsten Werktag festgestellt worden sei, sondern mit der Gastritis eine andere Erkrankung. Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin Widerspruch ein. Bei der Gastritis habe es sich um keine neue Erkrankung gehandelt, sondern diese habe auch schon vor dem 8. De-zember 2017 vorgelegen. Sie habe ihren Arzt darauf angesprochen und er habe dann die Diagnose ab 11. Dezember 2017 geändert. Die Antragsgegnerin blieb bei ihrer Auffassung und teilte dies der Antragstellerin mit.

Die Antragstellerin hat am 14. März 2018 beim Sozialgericht Lübeck den Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf die vorläufige Weiterbewilligung von Krankengeld solange nahtlose Arbeitsunfähigkeit bei ihr bestehe, die gegenüber der Antragsgegnerin nachgewiesen werde, längstens jedoch bis zur Entscheidung über den Widerspruch und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung hat sie wiederum darauf hingewiesen, dass sie durchgehend wegen derselben Krankheit, nämlich wegen der Gastritis, arbeitsunfähig erkrankt und die Anspruchsdauer für Krankengeld noch nicht erschöpft sei. Sie habe einen Antrag auf Alg II gestellt und werde derzeit finanziell von ihrem Lebenspartner und ihrer Familie unterstützt.

Die Antragsgegnerin hat darauf hingewiesen, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 11. Dezember 2017 mit einer gänzlich anderen Diagnose ausgestellt worden sei. Dabei handele es sich nicht um dieselbe Erkrankung, die aus einem nicht ausgeheilten Grundleiden resultiere. § 46 Abs. 2 Satz 1 (richtig: § 46 Satz 2) SGB V sei nur bei derselben Krankheit einschlägig. Eine solche liege jedoch nicht vor. Es sei auch nicht vorstellbar, dass der behandelnde Arzt mehrmals zuvor eine akute Tonsillitis attestiert habe, obwohl diese nicht vorgelegen habe, sondern stattdessen eine Gastritis. Außerdem sei eine Eilbedürftigkeit mangels näheren Vortrages zur finanziellen Situation nicht ersichtlich.

Die Antragstellerin hat einen Bericht ihres behandelnden Arztes Dr. S vorgelegt.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 26. April 2018 den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Nur ausnahmsweise, wenn die Nichtgewährung der begehrten Leistung in der Vergangenheit noch in die Gegenwart fortwirke und infolgedessen eine akute Notlage bestehe, könne von dem Grundsatz, dass vorläufiger Rechtsschutz nicht für einen zurückliegenden Zeitraum bewilligt werde, eine Ausnahme gemacht werden. Hierzu müssten die Tatsachen für einen besonderen Nachholbedarf glaubhaft gemacht werden. Daran fehle es hier. Hierfür habe die Antragstellerin vielmehr vorgetragen, dass sie einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt habe und aktuell durch ihren Lebenspartner und die Großmutter unterstützt werde.

Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 3. Mai 2018, mit der sie ihren bisherigen Vortrag wiederholt. Das Sozialgericht habe sich nicht mit dem Bestehen eines Anordnungsanspruchs auseinandergesetzt, obwohl dieser nicht neben dem Anordnungsgrund isoliert stehe. Zudem habe das Sozialgericht seine Amtsermittlungspflicht verletzt, indem es den Gutachter des MDK nicht um eine Stellungnahme ersucht habe. Die Verweisung auf Leistungen nach dem SGB II stünden dem Anordnungsgrund nicht entgegen.

Die Antragsgegnerin wiederholt ebenfalls ihre Auffassung, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bis 8. Dezember 2017 mit einer anderen Diagnose begründet worden seien, wie die nachfolgenden. Ein Abwarten des Widerspruchsverfahrens, in dem der MDK noch einmal befragt werde, sei vor diesen Ausführungen nicht zumutbar.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und überwiegend begründet. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts liegen die Voraussetzungen für die beantragte Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang vor.

Nach § 86b Abs. 2 SGG können einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Verhältnis erfolgen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzungen sind das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des geltend gemachten Anspruchs auf die begehrte Leistung und der Anordnungsgrund im Sinne der besonderen Eilbedürftigkeit einer vorgezogenen Regelung. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen jeweils vorliegen und sind insoweit glaubhaft zu machen, vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts fehlt es nicht an dem für die einstweilige Anordnung notwendigen Anordnungsgrund. Warum das Sozialgericht diesen im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt hat, der Antrag beziehe sich auf einen Zeitraum in der Vergangenheit, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, nachdem die Antragstellerin im erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich ihren Antrag auf die Zeit ab Antragseingang bei Gericht präzisiert hat.

Wie sich aus den anlässlich des Antrags auf Prozesskostenhilfe vorgelegten Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Antragstellerin ergibt, verfügt diese über keinerlei Einnahmen bzw. ist vielmehr mit Kreditzahlungen belastet. Der Umstand, dass ihr gegebenenfalls Leistungen nach dem SGB II bewilligt werden, steht dem Anordnungsgrund nicht entgegen. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt Beschluss vom 4. April 2018 – L 5 KR 233/17 B ER). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ebenso wie die Sozialhilfe nach dem SGB XII regelmäßig keinen gleichwertigen Ersatz gegenüber den Sozialversicherungen beinhaltet. Außerdem bestimmt § 2 Abs. 1 SGB XII den Nachrang der Sozialhilfe gegenüber Sozialleistungen anderer Träger und § 5 Abs. 1 Satz 2 SGB II regelt, dass Ermessensleistungen nicht deshalb versagt werden dürfen, weil dieses Buch entsprechende Leistungen vorsieht. Daraus und aus der Pflicht zur Selbsthilfe folgt die Verpflichtung, die zur Deckung des Bedarfs benötigten Mittel zunächst gegenüber dem jeweils vorrangig verpflichteten Sozialversicherungsträger geltend zu machen.

Darüber hinaus hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsanspruch auf Krankengeld gemäß § 44 SGB V glaubhaft gemacht. Insbesondere liegt keine schädliche Unterbrechung der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Zwar zitiert die Antragsgegnerin zutreffend die Vorschrift des § 46 Satz 2 SGB V, wonach der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen bleibt, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt; Samstage gelten insoweit nicht als Werktage. Entgegen ihrer Auffassung liegen diese Voraussetzungen jedoch vor. So ergibt sich aus der dem Gericht vorgelegten Bescheinigung von Dr. S vom 18. April 2018, dass bereits im Oktober 2017 eine Behandlung der Gastritis bei der Antragstellerin erfolgte mit Überweisungen an diverse Fachärzte zur Stuhluntersuchung auf Parasiten und Calprotectin und am 23. Oktober 2017 einer Überweisung zur Gastroskopie sowie die Rezeptur von Pantoprazol. Unter dem 4. Dezember 2017 heißt es: "Gastroskopie ergibt Gastritis, Folgebescheinigung AU bis 08.12.17". Es ist für den Senat nicht nachvollziehbar, warum die Antragsgegnerin gleichwohl von einer allein bestehenden Tonsillitis vor dem 8. Dezember 2017 ausgeht. Jedenfalls lag neben der Tonsillitis eine Gastritis bereits zu diesem Zeitpunkt vor, und es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass diese noch nicht zu einer Arbeitsunfähigkeit der Antragstellerin führte. Damit liegen die Voraussetzungen des § 46 Satz 2 SGB V vor. Zudem findet diese Vorschrift nach ihrer Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/5123, S. 121 zu Nr. 15) auch auf den Fall Anwendung, dass "von einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit auch dann auszugehen ist, wenn zwischen dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit und der ärztlichen Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit ein Wochenende liegt, an dem eine Krankheit hinzugetreten und die Arbeitsunfähigkeit nur noch von der hinzugetretenen Krankheit verursacht ist und zu keinem Zeitpunkt Arbeitsfähigkeit vorlag". Damit ist Mindestvoraussetzung der Anwendung des § 46 Satz 2 SGB V, dass eine fortdauernde Arbeitsunfähigkeit über das Wochenende hinaus vorliegt, unabhängig davon, ob diese Arbeitsunfähigkeit von der zunächst vorliegenden Krankheit oder der hinzugetretenen Krankheit verursacht wird. Mit dieser Regelung einschließlich der Klarstellung bezüglich des Samstags wird der nahtlose Leistungsbezug sichergestellt und für die Versicherten bleibt darüber hinaus ihre Mitgliedschaft als Versicherungspflichtiger aufgrund des Krankengeldbezuges nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V erhalten (vgl. so auch Knittel in Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 46 SGB V Rz. 5).

Der Senat hat die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Krankengeldzahlung, entsprechend dem erstinstanzlichen Antrag der Antragstellerin, längstens bis zu dem Zeitpunkt ausgesprochen, an dem die Antragsgegnerin eine Entscheidung über den Widerspruch getroffen hat. Dies ermöglicht der Antragsgegnerin, gegebenenfalls eine Überprüfung des Vorliegens der Arbeitsunfähigkeit durch den MDK durchzuführen. Auf der anderen Seite führt diese Beschränkung im Rahmen der allgemeinen Güterabwägung nicht zu einer erheblichen Rechtsbeeinträchtigung der Antragstellerin, da diese nunmehr zeitnah Leistungen der Antragsgegnerin erhält und sie bei einer eventuellen erneuten Einstellung der Krankengeldzahlungen durch die Antragsgegnerin nach der Bescheidung des Widerspruchs erneut einstweiligen Rechtsschutz geltend machen kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Die Antragstellerin hat mit ihrem Begehren im Wesentlichen Erfolg.

Da die Antragsgegnerin zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im gesamten Verfahren vollumfänglich verpflichtet ist, bedarf es keiner Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe bzw. über die Beschwerde wegen Versagung im erstinstanzliche Verfahren (vgl. Beschluss des Senats vom 21. August 2013 – L 5 KR 134/13 B ER).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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