S 5 AL 3727/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AL 3727/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wer während des Bezugs von Arbeitslosengeld infolge Krankheit unverschuldet arbeitsunfähig wird, behält für die Dauer von sechs Wochen seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitslose zu einem Zeitpunkt erkrankt, in dem er sich mit Zustimmung der Agentur für Arbeit außerhalb des sog. zeit- und ortsnahen Bereichs aufhält. Auch in einer solchen Konstellation dauert die Leistungsfortzahlung sechs Wochen; sie ist also nicht auf die Zeit der ursprünglich genehmigten Ortsabwesenheit beschränkt.
1. Der Bescheid vom 13.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.10.2017 wird aufgehoben, soweit die Beklagte darin die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1.9. – 9.10.2017 aufgehoben hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 2. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Aufhebung einer Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 1.9.2017.

Mit Bescheid vom 8.3.2017 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld für die Zeit vom 23.4.2017 – 15.4.2018 in Höhe von 45,23 EUR pro Tag.

Auf Antrag des Klägers vom 26.7.2017 stimmte die Beklagte seiner Ortsabwesenheit in der Zeit vom 11. – 31.8.2017 zu.

Am 11.9.2017 rief ein Bekannter des Klägers, Herr J., bei der Beklagten an und teilte mit, der Kläger habe sich am 2.9.2017 bei einem Unfall in Polen verletzt. Er sei bis zum 15.9.2017 krankgeschrieben und bleibe bis dahin in Polen.

Mit Bescheid vom 13.9.2017 hob die Beklagte daraufhin die Bewilligung von Arbeitslosengeld rückwirkend zum 1.9.2017 auf. Zur Begründung gab sie an, der Kläger sei ab diesem Tag nicht mehr verfügbar.

Ab dem 1.10.2017 befand sich der Kläger wieder in Deutschland.

Am 11.10.2017 legte er gegen den Bescheid der Beklagten Widerspruch ein. Er machte geltend, während seines Urlaubs in Polen sei er bei einer Bergwanderung am 29.8.2017 gestürzt und habe sich den rechten Arm und das rechte Bein verletzt. Die Erstversorgung habe in einer Reha-Praxis stattgefunden. Ab dem 4.9.2017 habe ihn ein Hausarzt in Polen weiter behandelt, und zwar bis zum 30.9.2017. Am 1.10.2017 habe sich sein Gesundheitszustand so weit gebessert, dass er zurück nach Deutschland habe reisen können. Hier hätten sofort sein Hausarzt S. und ein Orthopäde die Behandlung aufgenommen. Wegen der fortdauernden Beschwerden am rechten Ellenbogen sei er weiterhin krankgeschrieben. Bei dem Unfall sei auch sein Handy zu Bruch gegangen, so dass in den ersten Tagen danach keine Möglichkeit der Kommunikation bestanden habe. Außerdem sei die "Alternativ-Nr. xxx" der Agentur für Arbeit aus Polen nicht erreichbar gewesen; auch E-Mail habe nicht funktioniert. Er habe daher Herrn J. angerufen und ihn gebeten, umgehend die Beklagte zu informieren. Dies habe er getan. Vor diesem Hintergrund sei ihm, dem Kläger, kein Versäumnis vorzuwerfen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.10.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe nur, wer den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht. Dazu gehöre gemäß § 138 Abs. 5 Nr. 2 SGB III u.a. die Fähigkeit, Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge zu leisten. Deshalb habe der Arbeitslose sicherzustellen, dass ihn die Agentur für Arbeit persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz durch Briefpost erreichen kann. Sei er vorübergehend ortsabwesend, stehe dies gemäß § 3 Abs. 1 EAO der Verfügbarkeit bis zu drei Wochen im Kalenderjahr nicht entgegen, wenn die Agentur für Arbeit vorher ihre Zustimmung erteilt hat. Im vorliegenden Fall habe sie der Ortsabwesenheit des Klägers zugestimmt, allerdings nur bis zum 31.8.2017. Ab dem 1.9.2017 hätte er also wieder an seinem Wohnsitz sein müssen. Tatsächlich habe er sich aber weiter in Polen aufgehalten, sei also nicht erreichbar gewesen. Ein Anspruch des Klägers über den 31.8.2017 hinaus ergebe sich auch nicht aus § 146 Abs. 1 SGB III: Wer während des Bezugs von Arbeitslosengeld infolge Krankheit unverschuldet arbeitsunfähig wird, verliere dadurch nicht den Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit mit einer Dauer von bis zu sechs Wochen. Trete die Arbeitsunfähigkeit während einer genehmigten Ortsabwesenheit ein, ende die Leistungsfortzahlung mit Ablauf der Genehmigung für die Ortsabwesenheit – es sei denn, der Arbeitslose befinde sich noch in stationärer Behandlung oder er melde sich sofort am ersten Tag nach der Rückkehr oder am vereinbarten Tag der Rückmeldung und sei weiter arbeitsunfähig. Keine dieser beiden Konstellationen habe hier vorgelegen: Laut Bescheinigung sei der Kläger in der Reha-Praxis U. vom 30.8. – 2.9.2017 nicht stationär behandelt worden, sondern ambulant. Er habe sich auch nicht am vereinbarten Tag der Rückmeldung, nämlich am 4.9.2017, persönlich gemeldet; tatsächlich sei dies erst am 6.10.2017 geschehen. Angesichts dessen habe er ab dem 1.9.2017 nicht mehr ihren Vermittlungsbemühungen zur Verfügung gestanden. Auch die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X für eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligung lägen vor. Obwohl der Kläger gemäß § 60 Abs. 1 SGB I zur unverzüglichen Mitteilung verpflichtet gewesen sei, habe er den relevanten Sachverhalt erst am 11.9.2017 durch seinen Bekannten angezeigt. Dies sei zu spät gewesen. Der Kläger habe sich auch grob fahrlässig verhalten. Denn das dem Kläger ausgehändigte Merkblatt 1 für Arbeitslose enthalte verständliche Hinweise zur Rechtslage.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 2.11.2017 erhobenen Klage. Er trägt ergänzend vor, er habe sich bereits am 3.9.2017 per E-Mail bei der Beklagten gemeldet. Hierauf habe die Beklagte nie geantwortet. Wegen seines Unfalls sei es ihm nicht möglich gewesen, den vereinbarten Termin am 4.9.2017 wahrzunehmen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 13.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.10.2017 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie stellt klar, entgegen der Angabe im Widerspruchsbescheid habe sich der Kläger am 6.10.2017 nicht persönlich bei ihr gemeldet, sondern beim Jobcenter im gleichen Gebäude. Tatsächlich sei eine Vorsprache bei ihr auch danach nicht mehr erfolgt. Der Kläger sei bis zum 15.11.2017 krankgeschrieben gewesen. Am 16.11.2017 habe er eine selbständige Tätigkeit aufgenommen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der sachverständigen Zeugen Dr. M. (Aussage vom 4.12.2017) und S. (Aussage vom 14.1.2018). Wegen des Inhalts der Beweisaufnahme und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1) Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Die Beklagte durfte die Bewilligung von Arbeitslosengeld nicht schon zum 1.9.2017 aufheben (dazu a), sondern erst zum 10.10.2017 (dazu b).

a) Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligung zum 1.9.2017 kommt hier allenfalls § 48 SGB X in Betracht. Diese Vorschrift ermöglicht die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung ist "wesentlich", wenn der Verwaltungsakt unter Berücksichtigung der geänderten Verhältnisse (so) nicht mehr erlassen werden dürfte (Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 48 Rdnr. 12).

Bei dem Bewilligungsbescheid vom 8.3.2017 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Allerdings hatten sich die Verhältnisse zum 1.9.2017 noch nicht wesentlich geändert. Denn der Kläger hatte weiterhin einen Anspruch auf Arbeitslosengeld – und zwar als Leistungsfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit:

Anspruch auf Arbeitslosengeld hat grundsätzlich nur, wer den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III). Der Arbeitslose muss daher eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben können (§ 138 Abs. 5 Nr. 1 SGB III). Von diesem Erfordernis ist der Arbeitslose im Falle einer Erkrankung vorübergehend befreit: Wer während des Bezugs von Arbeitslosengeld infolge Krankheit unverschuldet arbeitsunfähig wird, behält für die Dauer von sechs Wochen seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 146 Abs. 1 S. 1 SGB III). Das gilt auch dann, wenn der Arbeitslose zu einem Zeitpunkt erkrankt, in dem er sich mit Zustimmung der Agentur für Arbeit außerhalb des sog. zeit- und ortsnahen Bereichs aufhält. Auch in einer solchen Konstellation dauert die Leistungsfortzahlung sechs Wochen; sie ist also nicht auf die Zeit der ursprünglich genehmigten Ortsabwesenheit beschränkt. Denn bei Arbeitsunfähigkeit besteht keine sog. Residenzpflicht (BSG, Urteil vom 25.7.1985, 7 RAr 74/84, Rdnr. 30 ff. – nach Juris; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB III, § 146 Rdnr. 32; Aubel in: jurisPK-SGB III, § 146 Rdnr. 45). Ein arbeitsunfähiger Arbeitslosen muss also nicht sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der angegebenen Anschrift durch Briefpost erreichen kann; denn wegen seiner Erkrankung ist er ohnehin vorübergehend außer Stande, unverzüglich eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen. Genau dies soll aber mit der sog. Residenzpflicht gewährleistet werden (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 EAO).

Gemessen hieran bestand der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld über den 31.8.2017 hinaus fort – obwohl der Kläger sich weiterhin in Polen aufhielt und die Beklagte seiner Ortsabwesenheit nur bis zum 31.8.2017 zugestimmt hatte. Denn nach Überzeugung der Kammer war er ab dem 29.8.2017 bis zur Aufnahme seiner selbständigen Tätigkeit am 16.11.2017 durchgehend arbeitsunfähig: Nach Angaben des Klägers verletzte er sich bei einem Sturz am 29.8.2017 den rechten Arm und das rechte Bein. Bestätigt wird dies durch die Bescheinigung der Reha-Praxis U. in Z. (Polen) vom 6.10.2017: Demzufolge habe er sich dort am 30.8.2017 vorgestellt und über starke Schmerzen in beiden rechten Extremitäten geklagt, insbesondere im rechten Ellenbogengelenk; an diesem Gelenk habe es auch Ödeme gegeben, so die Reha-Praxis. Ab dem 4.9.2016 setzte die Arztpraxis K. in G. (Polen) die Behandlung fort. Nach den Feststellungen der dortigen Ärzte bestand am 4.9.2017 eine starke Empfindlichkeit des Gelenkkopfes im Bereich des rechten Ellenbogens; aufgrund dessen konnte der Kläger den rechten Arm lediglich begrenzt nutzen. Auch bei der nächsten Untersuchung am 15.9.2017 klagte der Kläger weiterhin über Schmerzen im rechten Ellenbogengelenk; nach wie vor konnte er das Gelenk nur unvollständig strecken. Vor diesem Hintergrund bescheinigte die Arztpraxis K. dem Kläger nachvollziehbar Arbeitsunfähigkeit (bis zum 30.9.2017). Zurück in Deutschland, begab sich der Kläger weiter in ärztliche Behandlung – zum einen ab dem 5.10.2017 bei seinem Hausarzt S., zum anderen bei dem Facharzt für Orthopädie Dr. M ... Letzterer stellte am 16.10.2017 einen Zustand nach supracondylärer Humerusfraktur rechts fest und empfahl eine entzündungshemmende Röntgentiefentherapie des rechten Ellenbogens. Herr S. bescheinigte dem Kläger wiederholt Arbeitsunfähigkeit, zuletzt bis zum 15.11.2017 (am 5., 13., 16. und 20.10. sowie 3.11.2017). Der Kläger leide weiterhin an den Folgen seiner Unfallverletzung, so Herr S. in einem Attest vom 13.10.2017. Vor diesem Hintergrund ist die Kammer davon überzeugt, der Kläger sei im streitigen Zeitraum arbeitsunfähig gewesen. Dies stellt wohl auch die Beklagte nicht infrage.

b) Nicht zu beanstanden ist die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 10.10.2017. Die Beklagte kann die Entscheidung insoweit auf § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X stützen. Zum 10.10.2017 hatten sich die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse wesentlich geändert; denn ausgehend von einem Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 29.8.2017 endete mit Ablauf des 9.10.2017 die sechswöchige Leistungsfortzahlung. Anschließend hatte der Kläger keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger erklärt, er begehre Arbeitslosengeld nicht nur bis zum 9.10.2017, sondern bis zum 15.11.2017. Angesichts dessen hat er für 39 Tage obsiegt (1.9. – 9.10.2017); für 37 Tage war er hingegen unterlegen (10.10. – 15.11.2017). Hieraus ergibt sich eine Kostenquote von gerundet 1/2.
Rechtskraft
Aus
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