S 12 AS 4934/17 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Stuttgart (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 4934/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Schüleraustausch, bei dem mehrere Schüler einer Jahrgangsstufe für mehrere Tage oder Wochen ins Ausland reisen und der nicht von der Gesamtlehrerkonferenz mit Einverständnis der Schulkonferenz beschlossen worden ist, stellt keine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen dar. Die den betroffenen Schülern entstehenden Aufwendungen müssen daher nicht vom Jobcenter als Bedarf für Bildung und Teilhabe übernommen werden.
Der Antrag wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die am 1998 geborene Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für eine Chinareise vom 21.10.2017 bis 04.11.2017 im Rahmen eines Austauschprogramms des W-Gymnasiums in S. in Höhe von 1867,00 EUR (1670,00 EUR für Flug und Unterbringung, 155,00 EUR Visakosten, 42,00 EUR Fahrtkosten zum Flughafen Frankfurt am Main und zurück).

Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen [§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)]. Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, 02.05.2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen – insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz – wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 13.10.2005 – L 7 SO 3804/05 ER-B und vom 06.09.2007 – L 7 AS 4008/07 ER-B jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Nach summarischer Prüfung hat die Antragstellerin keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für den China-Austausch, so dass es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs fehlt.

Die Antragstellerin ist zwar leistungsberechtigt im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II. Die Antragstellerin steht im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zuletzt wurden der Antragstellerin durch den Antragsgegner mit Bescheid vom 23.06.2017 Leistungen insbesondere für die Zeit vom 01.08.2017 bis 31.12.2017 in Höhe von 331,52 EUR bewilligt. Die Antragstellerin hat jedoch nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf Erbringung von darüber hinausgehenden Leistungen für Aufwendungen in Höhe der Kosten für den China-Austausch von insgesamt 1867,00 EUR.

Gemäß § 28 Abs. 1 SGB II werden bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft neben dem Regelbedarf nach Maßgabe der Absätze 2 bis 7 gesondert berücksichtigt. Bedarfe für Bildung werden nur bei Personen berücksichtigt, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen und keine Ausbildungsvergütung erhalten (Schülerinnen und Schüler). Nach § 28 Abs. 2 Nr. 2 SGB II werden bei Schülerinnen und Schülern die tatsächlichen Aufwendungen für mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen anerkannt. Die Antragstellerin ist zwar Schülerin im Sinne der Vorschrift. Bei der vorgesehenen Chinareise handelt es sich jedoch nicht um eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen.

Die bundesrechtliche Regelung des § 28 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 SGB II bestimmt den abstrakten Rahmen dafür, wann Leistungen für eine mehrtägige Klassenfahrt zu erbringen sind. Gleichwohl ist der Rechtsbegriff der "Klassenfahrt" innerhalb dieses Rahmens durch die landesschulrechtlichen Vorschriften auszufüllen. Nach § 28 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 SGB II steht die Kostenübernahme unter der Bedingung, dass es sich um Aufwendungen für eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen handelt. Die Aufwendungen sind vom Grundsicherungsträger mithin nur dann zu übernehmen, wenn die Veranstaltung den Vorgaben entspricht, die die bundesrechtliche Rahmenbestimmung vorgibt und für die im Landesrecht eine Grundlage vorhanden ist (vgl. zu der entsprechenden Regelung in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II a.F. ausführlich: BSG, Urteil vom 22.11.2011 – B 4 AS 204/10 R).

Der China-Austausch findet nicht im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen des Landes Baden-Württemberg statt und stellt daher keine mehrtägige Klassenfahrt im Sinne von § 28 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 SGB II, deren Kosten vom Antragsgegner zu übernehmen wären, dar. Systematisch differenziert das baden-württembergische Schulrecht, soweit es mehrtägige schulische Veranstaltungen als pädagogisch sinnvoll erkennt, nicht zwischen "Klassenfahrten" und sonstigen Veranstaltungen. Auf Grundlage des die Rechte und Pflichten der Schulkonferenz regelnden § 47 Abs. 5 Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchulG) ergibt sich, dass die dort beispielhaft genannten Klassenfahrten und Schullandheimaufenthalte beide außerunterrichtliche Veranstaltungen sind. Die Bestimmung der Grundsätze über die Durchführungen dieser außerunterrichtlichen Veranstaltungen sowie ihre Genehmigung obliegen nach § 47 Abs. 5 Nr. 5 SchulG sowie § 45 Abs. 2 SchulG i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 11 Konferenzordnung des Kultusministeriums vom 05.06.1984 (KonfO BW 1993) jedoch der Gesamtlehrer- und Schulkonferenz sowie dem Schulleiter. Das heißt, das baden-württembergische Schulrecht delegiert in dem gesetzlich gesteckten Rahmen die Frage, ob und welche außerunterrichtlichen Veranstaltungen durchgeführt werden, an die einzelne Schule.

Vorliegend kann nicht festgestellt werden, dass sich die Entscheidung der Schule über die Durchführung des China-Austauschs im Rahmen der schulrechtlichen Regelungen hält. Nach der Verwaltungsvorschrift "außerunterrichtliche Veranstaltungen der Schule" des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport vom 06.10.2002 ist als Veranstaltung, die sich bei der Erfüllung der erzieherischen Aufgaben der Schule als besonders geeignet erweist, unter I. Nr. 8 der Schüleraustausch mit dem Ausland aufgeführt, der in der Regel mit Schülern ab Klasse 7 durchgeführt und zwischen 10 Tagen und 4 Wochen dauern kann. Danach kann eine Schüleraustausch zwar grundsätzlich als außerunterrichtliche Veranstaltung und damit als Klassenfahrt im Sinne von § 28 Abs. 2 Nr. 2 SGB II in Betracht kommen. Ob ein solcher Schüleraustausch durchgeführt wird, obliegt jedoch der Entscheidung bestimmter Gremien. In § 2 Abs. 1 Nr. 11 KonfO BW 1993 ist die Aufstellung der Grundsätze über die Durchführung von außerunterrichtlichen Veranstaltungen wie Klassenfahrten und Schullandheimaufenthalten als Angelegenheit von wesentlicher Bedeutung für die Schule, über die gemäß § 45 Abs. 2 SchulG die Gesamtlehrerkonferenz zu beraten und zu beschließen hat, bestimmt. Gemäß § 47 Abs. 5 Nr. 5 SchulG sind die Grundsätze über die Durchführung von außerunterrichtlichen Veranstaltungen in der Schulkonferenz zu beraten und bedürfen ihres Einverständnisses. Nach II. Nr. 1 der Verwaltungsvorschrift über außerunterrichtliche Veranstaltungen der Schule berät und beschließt die Gesamtlehrerkonferenz mit Einverständnis der Schulkonferenz über die Grundsätze der in einem Schuljahr stattfindenden schulischen Veranstaltungen. Die Planung der einzelnen schulischen Veranstaltungen, insbesondere der mehrtägigen Fahrten und Wanderungen soll nach II. Nr. 2 der Verwaltungsvorschrift grundsätzlich in der Klassenpflegschaft beraten werden. Vom Schulleiter sind die Veranstaltungen gemäß II. Nr. 3 der Verwaltungsvorschrift zu genehmigen. Schon die Frage, ob eine bestimmte außerunterrichtliche Veranstaltung, insbesondere ein Schüleraustausch mit dem Ausland, in einem Schuljahr stattfinden soll, bedarf demnach eines Beschlusses der Gesamtlehrerkonferenz mit Einverständnis der Schulkonferenz. Dies folgt daraus, dass eine Beratung über die Grundsätze der in einem Schuljahr stattfindenden schulischen Veranstaltungen nur möglich ist, wenn das Stattfinden der Veranstaltung selbst überhaupt bekannt ist. Des Weiteren spricht dafür die Unterscheidung in der Verwaltungsvorschrift über außerunterrichtliche Veranstaltungen der Schule nach den Grundsätzen der schulischen Veranstaltungen einerseits, über die die Gesamtlehrerkonferenz zu beraten hat, und die Planung der einzelnen schulischen Veranstaltungen andererseits, über die in der Klassenpflegschaft beraten werden soll. Die der Klassenpflegschaft übertragene Planung der einzelnen schulischen Veranstaltungen setzt voraus, dass das "Ob" der Veranstaltung feststeht. Die Frage des "Ob" muss damit von den von der Gesamtlehrerkonferenz mit Einverständnis der Schulkonferenz zu beratenden und beschließenden Grundsätzen der schulischen außerunterrichtlichen Veranstaltungen umfasst sein. Nach den von der Kammer vom Wirtschaftsgymnasium West über den China-Austausch eingeholten Auskunft waren die Gesamtlehrerkonferenz und die Schulkonferenz an der Entscheidung über den Schüleraustausch nicht beteiligt. Vielmehr wurde der China-Austausch nach den Ausführungen der Schule im Schreiben vom 12.09.2017 durch eine Arbeitsgruppe (Auslandsteam) geplant und präsentiert und im Schuljahr 2016/2017 von der Schulleitung genehmigt. Nach den ergänzenden Ausführungen vom 13.09.2017 wurde die Schulkonferenz ausdrücklich an der Entscheidung über den China-Austausch nicht beteiligt. Dies rechtfertigt sich nicht dadurch, dass es sich um ein auf zwei Jahre befristetes außerplanmäßiges Projekt gehandelt hat. Denn Gesamtlehrerkonferenz und Schulkonferenz haben über die in einem Schuljahr stattfindenden schulischen Veranstaltungen zu befinden. Der China-Austausch findet sogar in zwei Schuljahren statt. Des Weiteren stellt nach der KonfO BW 1993 die Aufstellung der Grundsätze über die Durchführung von außerunterrichtlichen Veranstaltungen eine Angelegenheit von wesentlicher Bedeutung für die Schule dar. Die Außerplanmäßigkeit und Befristung sind schon aufgrund der Bedeutung der Reise hinsichtlich Dauer und Entfernung nicht geeignet den Schüleraustausch als weniger bedeutend als andere außerunterrichtliche Veranstaltungen wie Klassenfahrten und Schullandheimaufenthalte einzustufen und deshalb einer Entscheidung durch die Gesamtlehrerkonferenz und Schulkonferenz vorzuenthalten. Dass die Schule erkannt hat, dass ein Schüleraustausch durchaus so gewichtig ist, dass eine Beteiligung der Schulkonferenz erforderlich ist, zeigt sich daran, dass nach den Ausführungen der Schule ab dem übernächsten Schuljahr zwei permanente Austausch-Projekte abwechselnd mit den USA und Frankreich beginnen sollen, die der Schulkonferenz vorgelegt werden sollen.

Demnach handelt es sich zwar insgesamt bei dem Schüleraustausch um eine von der Schule organisierte Veranstaltung, nicht jedoch um eine schulische außerunterrichtliche Veranstaltung, welche eine Klassenfahrt im Sinne von § 28 Abs. 2 Nr. 2 SGB II darstellt.

Der Antragsgegner ist nach alledem nach dem voraussichtlichen Ausgang in der Hauptsache nicht verpflichtet, die Kosten für die Chinareise der Antragstellerin zu übernehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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