S 2 SO 15/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 15/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 11.09.2017 und der Widerspruchsbescheid vom 13.12.2017 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin gemäß Antrag vom 28.07.2017 ergänzende Leistungen der Grundsicherung ab Erreichen der Volljährigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Leistungen der Grundsicherung bei Trisomie 21.

Die am 00.00.1999 geborene Klägerin ist aufgrund einer Trisomie 21 schwerbehindert mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen G und H. Sie hat seit der Volljährigkeit ihre Eltern zu jeweiligen Betreuern.

In einem amtsärztlichen Gutachten des Kreises Herford vom 30.06.2016 wurde festgestellt, dass die Klägerin aufgrund ihrer geistigen Behinderung bei Trisomie 21 aufgrund der Summe der Einschränkungen zum Personenkreis des § 53 SGB XII gehört und die Aufnahme in eine Werkstatt für geistig behinderte Menschen geeignet und aus jetziger Sicht dauerhaft erforderlich sei. Seit dem 24.08.2016 bis zum 23.11.2018 nimmt die Klägerin an der befürworteten Maßnahme im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen in I teil. Sie erhält ein monatliches Ausbildungsgeld vom 67,00 Euro im ersten und von 80,00 Euro im zweiten Ausbildungsjahr.

Die Klägerin beantragte ab dem Erreichen der Volljährigkeit die Gewährung von ergänzenden Grundsicherungsleistungen. Mit Bescheid vom 11.09.2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie sei daran gehindert, die Voraussetzungen des Vorliegens einer dauerhaften Erwerbsminderung festzustellen. Grundsätzlich sei ein Ersuchen zur Feststellung der vollen Erwerbsminderung nach § 45 SGB XII an den Rententräger zu richten. Allerdings seien durch die Gesetzänderung zum 01.07.2017 rechtliche Regelungen in Kraft getreten, die in § 45 S. 3 SGB XII Ausnahmen vom Ersuchen an den Rentenversicherungsträger festlegten.

Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Entgegen der Auffassung der Beklagten ergebe sich aus § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in der seit 1. Juli 2017 geltenden Fassung, dass bei Personen, die den Eingangs- und Berufsbildungsbereich durchlaufen ebenso wie bei Personen, die im Arbeitsbereich einer WfbM beschäftigt sind, vom Vorliegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung auszugehen ist und sich deshalb eine Prüfung dieser Anspruchsvoraussetzung durch den Rentenversicherungsträger erübrige. Für die weiteren Einzelheiten wird auf das Widerspruchsschreiben vom 15.09.2017 Bezug genommen. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2017 wies der Kreis Herford den Widerspruch zurück. Zur Begründung wiederholte er die Rechtsauffassung der Beklagten.

Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihre Anliegen weiter und wiederholt ihre Rechtsauffassung.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2017 zu verurteilen, ihr gemäß Antrag vom 28.07.2017 ergänzende Grundsicherung bei Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch sie wiederholt ihre Rechtsauffassung.

Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte des Verwaltungsverfahrens.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin ist im Sinne von § 54 Absatz 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beschwert. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 11.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.2017 ist rechtswidrig und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.

Älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach §§ 82 bis 84 und 90 bestreiten können, ist gemäß § 41 Abs.1 SGB XII auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten.

Leistungsberechtigt wegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung nach Abs. 1 ist gemäß § 41 Abs. 3 SGB XII, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches ist und bei dem unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann.

Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch 1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und 2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Der jeweils für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständige Träger ersucht gemäß § 45 SGB XII den nach § 109 a Abs. 2 des Sechsten Buches zuständigen Träger der Rentenversicherung, die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Absatz 3 zu prüfen, wenn es auf Grund der Angaben und Nachweise des Leistungsberechtigten als wahrscheinlich erscheint, dass diese erfüllt sind und das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt vollständig zu decken. Die Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung ist bindend für den ersuchenden Träger, der für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständig ist; dies gilt auch für eine Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung nach § 109 a Absatz 3 des Sechsten Buches. Ein Ersuchen nach Satz 1 erfolgt nicht, wenn 1. ein Träger der Rentenversicherung bereits die Voraussetzungen des § 41 Absatz 3 im Rahmen eines Antrags auf eine Rente wegen Erwerbsminderung festgestellt hat, 2. ein Träger der Rentenversicherung bereits nach § 109 a Absatz 2 und 3 des Sechsten Buches eine gutachterliche Stellungnahme abgegeben hat, 3. Personen in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Eingangs- und Berufsbildungsbereich durchlaufen oder im Arbeitsbereich beschäftigt sind oder 4. der Fachausschuss einer Werkstatt für behinderte Menschen über die Aufnahme in eine Werkstatt oder Einrichtung eine Stellungnahme nach den §§ 2 und 3 der Werkstättenverordnung abgegeben und dabei festgestellt hat, dass ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht vorliegt.

Hiervon ausgehend ist bei der Klägerin ohne weitere Prüfung von einer vollen Erwerbsminderung auszugehen.

§ 43 Abs.2 S. 2 Nr.1 SGB VI bestimmt ausdrücklich, dass Personen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, als voll erwerbsgemindert gelten.

§ 45 SGB XII bestimmt in seinem Satz 1, dass die Prüfung der gesundheitlichen Frage, ob eine volle Erwerbsminderung eines Antragstellers nach dem SGB XII vorliegt, nicht durch die Sozialbehörde selbst stattfindet, sondern auf deren Ersuchen durch den Rententräger.

§ 45 Satz 3 SGB XII bestimmt sodann Fälle, in denen das Ersuchen entbehrlich ist. Diese zeichnen sich alle dadurch aus, dass bereits von anderer Stelle verlässliche Aussagen über die mangelnde Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt getroffen worden sind.

Die Auslegung der Beklagten im Falle des § 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII bestehe eine Situation, in der eine volle Erwerbsminderung nicht festgestellt werden könne, da die Sozialbehörde nicht selbst prüfen und auch kein Ersuchen an den Rententräger richten dürfe, aber gar nicht feststehe, ob dauerhaft volle Erwerbsminderung vorliege, geht zur Überzeugung des Gerichts fehl.

Nähme man den reinen Wortlaut des § 45 Abs. 3 SGB XII, so würde lediglich das Ersuchen entbehrlich. Dann müsste aber die Sozialbehörde selbst die volle Erwerbsminderung auf Dauer prüfen, da dann lediglich die Zuständigkeitsverschiebung aufgehoben worden wäre.

Bei systematischer Auslegung ist jedoch deutlich zu erkennen, dass der Gesetzgeber in den genannten Fällen keine weitere Prüfung mehr wünscht, sondern die volle Erwerbsminderung auf Dauer unterstellt.

So wird vom Gesetzgeber bei der Nr. 3 genauso wie bei den Nr. 1 und 2 und 4 des § 45 S. 3 SGB XII die volle Erwerbsminderung unterstellt. Denn bei einem schwerbehinderten Menschen, der in den Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen aufgenommen worden ist, ist bereits davon auszugehen, dass dieser dauerhaft voll erwerbsgemindert ist. Die Werkstatt für behinderte Menschen ist ein geschützter Bereich für die behinderten Menschen, der nicht zum allgemeinen Arbeitsmarkt gehört.

Der Eingangs- und Berufsbildungsbereich dient nicht mehr der Prüfung, ob der Proband vielleicht doch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten kann. In dieser Phase geht es vielmehr darum, wie und wo der Proband einen seinen Funktionseinschränkungen und seinen Interessen gerecht werdenden Platz in der Werkstatt für behinderte Menschen finden kann oder ob er vielleicht sogar so sehr eingeschränkt ist, dass auch dieses nicht möglich ist.

Aufgabe des Eingangsverfahrens ist es gemäß § 3 Abs.1 S. 2 Werkstättenverordnung festzustellen, ob die Werkstatt die geeignete Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben im Sinne des § 219 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist, sowie welche Bereiche der Werkstatt und welche Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und ergänzende Leistungen oder Leistungen zur Eingliederung in das Arbeitsleben in Betracht kommen und einen Eingliederungsplan zu erstellen.

Und bereits vor Aufnahme in das Eingangsverfahren findet eine umfangreiche Prüfung statt. Der Fachausschuss gibt gemäß § 2 Abs. 2 Werkstättenverordnung vor der Aufnahme des behinderten Menschen in die Werkstatt gegenüber dem im Falle einer Aufnahme zuständigen Rehabilitationsträger eine Stellungnahme ab, ob der behinderte Mensch für seine Teilhabe am Arbeitsleben und zu seiner Eingliederung in das Arbeitsleben Leistungen einer Werkstatt für behinderte Menschen benötigt oder ob andere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht kommen, insbesondere Leistungen der Unterstützten Beschäftigung nach § 55 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch. In das Eingangsverfahren gelangt ein behinderter Mensch also erst dann, wenn er nicht einmal im Wege der Unterstützten Beschäftigung oder mit technischen Hilfsmitteln auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten kann.

Was die weiteren Einzelheiten zur Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII anbelangt, verweist das Gericht zur Meidung von Wiederholungen auf die rechtlichen Ausführungen des ausführlich begründeten Urteils des SG Augsburg zum Verfahren S 8 SO 143/17 vom 16.02.2018.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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