S 14 R 450/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 14 R 450/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.04.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2018 sowie unter Abänderung des Be-scheides vom 04.04.2018 verurteilt, dem Kläger rückwirkend auch für die Zeit 01.04.2012 bis 31.03.2014 die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungs-pflicht zu erteilen und die für diese Zeit gezahlten Beiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande NRW zu erstatten. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht als Rechts-anwalt (Syndikusrechtsanwalt) rückwirkend auch für die Zeit vom 01.04.2012 bis 31.03.2014 sowie über die Erstattung der während dieser Zeit an die Beklagte entrichteten Rentenversicherungsbeiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte.

Der am 00.00.1982 geborene Kläger ist seit dem 17.12.2009 Mitglied der Rechtsanwalts-kammer Hamm und Mitglied des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nord-rhein-Westfalen. Seit dem 01.04.2012 ist er bei seinem jetzigen Arbeitgeber, einer Versi-cherung, als Volljurist in der Schadensbearbeitung tätig.

Eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht (§ 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) hatte die Beklagte abgelehnt mit Bescheid vom 20.09.2012 und Widerspruchsbescheid vom 13.05.2013. Die dagegen erhobene Klage AZ. S 4 R 676/14 SG Münster, nach Wieder-aufnahme S 4 R 555/18, ist am 21.08.2018 zurückgenommen worden. Nach Rechtsänderung – Inkrafttreten der Absätze 4a bis 4d des § 231 SGB VI mit Wir-kung ab 01.01.2016 durch Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte und zur Änderung der Finanzgerichtsordnung vom 21.12.2015, BGBl. I S.2517 – beantragte der Kläger Befreiung nach neuem Recht rückwirkend am 23.03.2016. Bei den Akten der Beklagten befindet sich der auch der Beklagten zugestellte Zulassungsbescheid der Rechtsanwaltskammer Hamm vom 17.01.2018 – Zulassung als Rechtsanwalt (Syndikus-rechtsanwalt) -. Mit Bescheid vom 01.03.2018 sprach die Beklagte die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht aus mit Wirkung ab 23.03.2016.

Mit weiterem Bescheid vom 04.04.2018 sprach sie eine Befreiung aus auch für die Zeit vom 01.04.2014 bis 22.03.2016. Mit dem dritten Bescheid vom 05.04.2018 lehnte sie ausdrücklich eine Befreiung ab für die Zeit vom 01.04.2012 bis 31.03.2014, zugleich ver-sagte sie die Erstattung der zu ihr entrichteten Beiträge an das Versorgungswerk. Auf den Widerspruch des Klägers hin erteilte die Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 13.06.2018. Zur Begründung verneint sie insbesondere das Tatbestandselement der Ein-kommensbezogenheit der zum Versorgungswerk entrichteten Pflichtbeiträge (§ 231 Abs. 4b S. 4 SGB VI).

Hiergegen richtet sich die am 18.06.2018 erhobene Klage. Zur Begründung beruft sich der Kläger unter anderem auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.06.2016, Az. 1 BvR 2534/14, unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass dieser einen aus Nordrhein-Westfalen stammenden Fall behandele und sich zur Beitragsregelung nach der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen äußere. Ausdrücklich macht er geltend, der satzungsgemäße Mindestbeitrag nach dieser Satzung sei ein einkommensbezogener Beitrag im Sinne des § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05.04.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2018 und unter Abänderung des Bescheides vom 04.04.2018 zu verurteilen, die Befreiung von der gesetzli-chen Rentenversicherung auch für die Zeit vom 01.04.2012 bis 31.03.2014 auszusprechen sowie die für diese Zeit entrichteten Pflichtbeiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Land Nordrhein-Westfalen zu erstat-ten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bringt vor, ausgehend von dem Wortlaut des § 231 Abs. 4b SGB VI seien mit dem Begriff "einkommensbezogen" nur solche Beiträge gemeint, die sich in ihrer Höhe vom in-dividuellen Einkommen aus der zu befreienden Beschäftigung ableiteten. Darüber hinaus knüpfe § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI an den Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI an, welcher als eine Voraussetzung der Befreiung zugunsten eines berufsständischen Versorgungswerkes die Zahlung von einkommensbezogenen Pflichtbeiträgen erfordere. Dass hierzu nicht Beiträge aus einer neben der zu befreienden Beschäftigung ausgeübten selbständigen Tätigkeit und Mindestbeiträge zählten, die keinen unmittelbaren Bezug zum Einkommen hätten, sondern sich pauschal als prozentualer Anteil des auf der Grundlage des Höchstbetrages zur gesetzlichen Rentenversicherung ermittelten Regelbeitrags ergä-ben, sei bislang unbestritten. Nach ihrer Einschätzung habe das Bundesverfassungsge-richt mit seinen Nichtannahmebeschlüssen vom 19.07.2016 bzw. 22.07.2016 keine mate-riell-rechtliche Entscheidung getroffen, dass es sich auch bei Mindestbeiträgen, die zu be-rufsständischen Versorgungswerken gezahlt worden seien, um einkommensbezogene Pflichtbeiträge im Sinne des § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI handele. Im Übrigen habe das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hervorgehoben, dass die Auslegung dieser Vor-schrift den Fachgerichten vorbehalten sei.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstoffes wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 05.04.2018 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil dieser Bescheid rechts-widrig ist, ebenso ist der Bescheid vom 04.04.2018 in seiner Begrenzung des Beginns der Befreiung mit dem 01.04.2014 rechtswidrig.

Gemäß § 231 Abs. 4b Satz 1 des Sozialgesetzbuches VI (SGB VI) in der ab 01.01.2016 geltenden Fassung wirkt eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechts-anwalt oder Syndikuspatentanwalt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, die unter Berücksichti-gung der Bundesrechtsanwaltsordnung in der ab 01.01.2016 geltenden Fassung oder der Patentanwaltsordnung in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung erteilt wurde, auf An-trag vom Beginn derjenigen Beschäftigung an, für die die Befreiung von der Versiche-rungspflicht erteilt wird. Gemäß Satz 4 derselben Vorschrift wirkt die Befreiung jedoch auch für Zeiten vor dem 01. April 2014, wenn für diese Zeiten einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt wurden. Nach Satz 5 gilt dies nicht für Beschäftigungen, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt oder Syndikuspatentanwalt aufgrund einer vor dem 04.04.2014 er-gangenen Entscheidung bestandskräftig abgelehnt wurde.

Entgegen der Meinung der Beklagten sind im Fall des Klägers die Voraussetzungen für eine Befreiung auch für Zeiten vor dem 01.04.2014 gegeben. Die Voraussetzung des § 231 Abs. 4b Satz 5 SGB VI ist deshalb erfüllt, weil das Verfahren, in dem sich der Kläger gegen die Versagung der Befreiung nach altem Recht wandte, letztlich erst durch die Kla-gerücknahme am 21.08.2018, also nach dem im Gesetz genannten Stichtag, beendet worden ist, erst zu diesem Zeitpunkt ist die Ablehnung bestandskräftig geworden. Die Ausschlussfrist des § 231 Abs. 4b S. 6 SGB VI ist gewahrt.

Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob die Mindestbeiträge, die der Kläger im hier zu beurteilenden Zeitraum vom 01.04.2012 bis 31.03.2014 an das Versorgungs-werk der Rechtsanwälte im Land Nordrhein-Westfalen gezahlt hat, einkommensbezogene Pflichtbeiträge sind. Das Gericht bejaht dies. Die Beklagte verkennt hier den Begriff ein-kommensbezogener Pflichtbeiträge, insbesondere soweit sie diese auf einkommensab-hängige Beiträge beschränkt, die das Gesetz nach seinem Wortlaut allerdings nicht ver-langt; insbesondere werden keine Beitragsleistungen vorausgesetzt, die den Beitragsleis-tungen des SGB VI nach Art und Höhe direkt entsprechen müssen.

Das Gericht geht bei dieser Bewertung von der Regelung der Beiträge in § 30 der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande NRW aus. Nach der dort gegebenen differenzierten Regelung sind Mitglieder zunächst verpflichtet, einen Beitrag zu zahlen, der mit dem Höchstbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung übereinstimmt (Abs. 1). Mit-glieder, deren Einkommen (Arbeitseinkommen und –entgelt i. S. d. §§ 14, 15 SGB IV) die Beitragsbemessungsgrenze nicht erreicht, zahlen einen Beitrag nach ihrem Einkommen entsprechend dem Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung (Abs. 2). Als Min-destbeitrag ist ein Beitrag in Höhe von 10 % des Regelpflichtbeitrages, also des Beitrages nach Abs. 1 zu leisten (Abs. 3). Mitglieder, die als abhängig Beschäftigte Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten, leisten für ihre Einkünfte aus der selb-ständigen Tätigkeit Pflichtbeiträge zum Versorgungswerk, soweit diese Einkünfte zusam-men mit dem Arbeitsentgelt die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversi-cherung übersteigen, bleiben sie unberücksichtigt, die Mindestbeitragsregelung des Abs. 3 bleibt unberührt (Abs. 7). Das Gericht erkennt in der vorstehend wiedergegebenen Rege-lung eine eigenständige, differenzierte, wenn auch nicht dem System der gesetzlichen Rentenversicherung voll entsprechende Normierung von Beitragspflichten. Einkommens-bezogenheit ist nach den Absätzen 1 und 2 in ähnlicher Weise wie in der gesetzlichen Rentenversicherung gegeben bis zu einer Obergrenze. Soweit Beitragslasten begrenzt werden, wenn bereits Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet wurden, entspricht dies Überlegungen, dies aus Sicht des Systems der gesetzlichen Rentenversi-cherung als nachvollziehbar bezeichnet werden können, weil auf diese Weise die Absiche-rung bzw. die Beitragsbelastung auf eine Größe etwas über der Absicherung in der ge-setzlichen Rentenversicherung begrenzt wird. Diese Begrenzung stellt aus Sicht des Ge-richts die Einkommensbezogenheit der Beitragsbelastung nicht in Frage, zumal auch die gesetzliche Rentenversicherung mit der Beitragsbemessungsgrenze des § 159 SGB VI eine entsprechende Regelung kennt. Soweit dadurch – zunächst – nur eine geringe Absi-cherung im Versorgungssystem des Versorgungswerks erlangt wird, erscheint dies nicht problematisch, zu Recht weist bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22.07.2016, Az. 1 BvR 2534/14, Rn 16, darauf hin, dass dies im Rahmen des § 286f SGB VI durch den internen Ausgleich zwischen Rentenversicherung und Versorgungswerk korrigiert wird.

Das Gericht vermag der Beklagten nicht darin zu folgen, dass es sich bei den im Gesetz so bezeichneten einkommensbezogenen Beiträgen um Beiträge aus der zu befreienden Beschäftigung selbst handeln muss. Dafür spricht zunächst schon nicht der Wortlaut der Norm, der diese Einschränkung nicht vorgibt, indem er von Beiträgen "für diese Zeiten", nicht aber von Beiträgen "für diese Beschäftigung" spricht. Auch aus dem systematischen Zusammenhang mit den Sätzen 1 bis 3 und 5 des § 231 Abs. 4b SGB VI ergibt sich dies nicht. Soweit sich diese auf Beschäftigungen beziehen, befindet sich dieser Bezug jeweils auf der Rechtsfolgeseite, nicht aber auf der Tatbestandsseite, auch Satz 4 enthält keinen Bezug auf der Tatbestandsseite, sondern nur im Hinblick auf die Rechtsfolgen (so auch das parallel ergangene Urteil der 24. Kammer des SG Münster vom 06.11.2018, S 24 R 565/18).

Andere systematische Erwägungen sprechen sogar deutlich gegen die Auffassung der Beklagten. Ginge man von deren Auffassung aus, hätte die Regelung des § 286f SGB VI, die ausdrücklich in diesem Zusammenhang geschaffen worden ist, für Zeiträume vor dem 01.04.2014 kaum noch einen Anwendungsbereich (ebenso Schaffhausen, NJW 2018, 135, 137, vom Kläger mit Schriftsatz vom 19.08.2018 vorgelegt und so wohl in Bezug ge-nommen). Diejenigen, für die – rechtswidrig – Beiträge allein an das Versorgungswerk, nicht aber an die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt worden wären, könnten zwar nach § 231 Abs. 4b SGB VI befreit werden, bedürften jedoch keiner Erstattungsregelung im Sinne des § 286f SGB VI, weil sie keine Beiträge an die gesetzliche Rentenversiche-rung entrichtet hätten. Dagegen würden diejenigen, für die im Sinne des alten Rechts – Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in den Urteilen vom 03.04.2014, Az. B 5 RE 13/14 R u. a., – Beiträge ausschließlich an die Beklagte abgeführt worden wären, bereits die Voraussetzungen der Befreiungsnorm nicht erfüllen, weil für sie für die streitigen Zei-ten keinerlei, auch nicht einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein Versorgungswerk abgeführt worden wären (ebenso SG Münster vom 06.11.2018 a.a.O.).

Eine teleologische Reduktion im Sinne des Normverständnisses der Beklagten sieht die erkennende Kammer nicht als möglich an. Es kann offen bleiben, ob die Entstehungsge-schichte der Vorschrift wie auch die Gesetzesgründung für die Auffassung der Beklagten sprechen könnten (so wohl Schaffhausen, a. a. O., 1138). Gegen eine solche Auffassung spräche aber, dass diese nach Überzeugung der erkennenden Kammer nicht verfas-sungskonform sein könnte und schon deshalb verworfen werden müsste. Im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes des Artikel 3 Abs. 1 GG wäre nicht hinnehmbar, dass bei dieser von der Beklagten vorgetragenen Auslegung diejenigen Anwälte schlechter gestellt wür-den, deren Arbeitgeber mangels Existenz eines Befreiungsbescheides in allein korrekter Handhabung die Meldung eines bei ihnen beschäftigten Anwalts zur gesetzlichen Renten-versicherung vorgenommen und Beiträge an diese abgeführt hätten, so dass – Absätze 7 und 3 des § 30 der oben wiedergegebenen Satzung des Versorgungswerks – daneben an das Versorgungswerk nur noch Beiträge für die neben der Beschäftigung ausgeübte selb-ständige Tätigkeit, wahrscheinlich nur im Sinne eines Mindestbeitrags, gezahlt worden wä-ren. Bevorzugt würden dann diejenigen, deren Arbeitgeber entgegen der damals gelten-den Rechtslage Beiträge allein an ein Versorgungswerk abgeführt hätten (im Ergebnis so auch mit weitergehender Begründung das parallel ergangene Urteil der 24. Kammer des Sozialgerichts Münster vom 06.11.2018 a.a.O.).

Auf dieser Basis ist die Befreiung auszusprechen unter Aufhebung des ausdrücklich die Befreiung für den streitigen Zeitraum ablehnenden Bescheides vom 05.04.2018, der die Befreiung begrenzende Bescheid vom 04.04.2018 muss als inhaltlich durch den Wider-spruch des Klägers miterfasst angesehen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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