L 4 SO 19/18 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 138/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 19/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 18. Dezember 2017 abgeändert und der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig die ungedeckten Kosten ihrer Unterbringung in der Wohnstätte A-Stadt der D. unter Anrechnung des Einkommens der Antragstellerin bis zur erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache zu übernehmen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Instanzen zu 2/3 zu übernehmen.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. B., B Straße, B-Stadt für das Beschwerdeverfahren bewilligt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin, mit der sie beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 18. Dezember 2017 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig die ungedeckten Kosten ihrer Unterbringung in der Wohnstätte A-Stadt der D. unter Anrechnung ihres Einkommens zu übernehmen.

ist zulässig. Sie ist form- und insbesondere fristgerecht eingelegt, denn die Beschwerde gegen den der Antragstellerin am 22. Dezember 2017 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts ist am 19. Januar 2018 innerhalb der Beschwerdefrist des § 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beim Sozialgericht eingegangen.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch nicht etwa unzulässig, weil die Antragstellerin vor der Erhebung des Antrags auf Erlass der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht am 24. November 2017 keinen ausdrücklichen Antrag auf Sozialhilfeleistungen in der Wohnstätte der D. A-Stadt bei der Antragsgegnerin gestellt hatte und es deshalb am Rechtsschutzbedürfnis fehle. Eines förmlichen Leistungsantrags bedurfte es nicht, denn für Leistungen der Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, gilt nach § 18 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölfte Buch – Sozialhilfe (SGB XII) der Kenntnisgrundsatz, nach dem die Sozialhilfe einsetzt, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. § 18 Abs. 1 SGB XII soll einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfesystem sicherstellen, weshalb es für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnis i.S.d. § 18 SGB XII ausreichend (aber auch erforderlich), dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst erkennbar ist. Die weitere Sachverhaltsaufklärung obliegt dann als Ausfluss des Amtsermittlungsgrundsatzes dem Sozialhilfeträger (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 18 SGB XII, Rn. 13). Bereits im Verwaltungsverfahren ist von der Antragstellerin hinlänglich deutlich gemacht worden, dass sie nur übergangsweise – nämlich ab 16. November 2016 – in der Wohnstätte E. der Lebenshilfe untergebracht werden sollte, weil die Wohnstätte A-Stadt zum Zeitpunkt der Aufnahme der Antragstellerin noch nicht fertiggestellt worden war. Mit Schreiben vom 27. Februar 2017 hat sodann der Einrichtungsträger die Unterbringung der Antragstellerin in der Wohnstätte A-Stadt ab 13. Februar 2017 angezeigt; jedenfalls hierdurch hat der Antragsgegner Kenntnis von der geltend gemachten Hilfebedürftigkeit erhalten. Die Antragstellerin musste auch keine Entscheidung des Antragsgegners hinsichtlich der Übernahme der Kosten für die Unterbringung in der Wohnstätte A-Stadt abwarten, nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 7. März 2017 die Bewilligung von Eingliederungshilfe über den 10. März 2017 hinaus schon dem Grunde nach mit der (sinngemäßen) Begründung abgelehnt hat, die Antragstellerin sei bereits nicht teilhabefähig.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Nach § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12. Mai 2005, NVwZ 2005, 927, und vom 15. Januar 2007, 1 BvR 2971/06, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des HLSG, bspw. Beschluss vom 29. Januar 2008, L 9 AS 421/07 ER m.w.N., juris). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rdnr. 29a).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Rechtsgrundlage für die geltend gemachten Leistungen der Eingliederungshilfe in Einrichtungen sind §§ 53 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4, 54 SGB XII i. V. m. §§ 26 und 55 SGB IX in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung. Danach erhalten Personen Leistungen der Eingliederungshilfe, die durch eine Behinderung i. S. von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

Die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners ergibt sich aus § 98 Abs. 2 SGB XII, weil die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die stationäre Einrichtung in G-Stadt im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners hatte. Soweit die Antragsgegnerin schriftsätzlich andeutet, die Antragstellerin könne diesen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Beginn des stationären Aufenthalts aufgegeben haben, bestehen hierfür keine Anhaltspunkte. Der Antragsgegner selbst ist vielmehr noch im Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2017 noch davon ausgegangen, dass die Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt in ihrer früheren Wohnung in G-Stadt, G-Straße hatte. Zu einer möglichen Aufgabe dieses Aufenthalts vor Aufnahme in die stationäre Einrichtung konnte der Antragsgegner auch auf Nachfrage des Gerichts nichts Konkretes vortragen.

Die Antragstellerin hat den Anordnungsanspruch auch hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Eingliederungshilfe glaubhaft gemacht.

Zunächst gehört die Antragstellerin aufgrund dem bei ihr ausweislich des Entlassungsberichts über die neuro-rehabilitative Behandlung der Schön Klinik Bad Staffelstein vom 23. August 2016 u. a. bestehenden hirnorganischen Psychosyndrom mit Vigilanzminderung, schlaffen Tetraparese, Anarthrie, Dysphagie, Hydrocephalus (mit VP-Shunt versorgt) unzweifelhaft zu den Personen, die durch eine Behinderung i. S. von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat die Antragstellerin nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung auch glaubhaft gemacht, dass nach Art oder Schwere der bestehenden Behinderung, die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Denn zwar war die Antragstellerin bei Entlassung aus der neurologischen Rehabilitation am 1. August 2016 ausweislich des Entlassungsberichts der Schön-Klinik vom 25. August 2016 anarthrisch und möglicherweise global aphasisch. Es bestanden kein Hinweis auf Sprachverständnis, kein Befolgen von Aufforderungen und die funktionelle Willkürmotorik war nicht vorhanden. Allerdings zeigten sich damals vereinzelt situationsadäquate mimische und gestische Reaktionen wie Kopfnicken und Winken. Nach dem Pflegegutachten des MDK vom 13. Januar 2017 aufgrund der Untersuchung der Antragstellerin am 12. Januar 2017 in der Wohnstätte E. konnte die Antragstellerin im Pflegerollstuhl sitzen und den Kopf aufrecht halten, war aber steh- und gehunfähig, fixierte auf Ansprache, eine adäquate Kommunikation war jedoch nicht möglich. Die Antragstellerin kam keiner Aufforderung zur Bewegung nach, war gehunfähig, die Nahrung musste komplett angereicht werden, die Antragstellerin aufwendig zum Kauen und Schlucken aufgefordert werden. Bei einem Zeitaufwand für Grundpflege von 392 Minuten pro Tag wurde das Vorliegen der Pflegestufe III mit außergewöhnlich hohem Hilfebedarf sowie eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz festgestellt. Empfohlen wurde die Fortführung der laufenden aktivierend-pflegerischen Maßnahmen. Im weiteren Verlauf der Betreuung zunächst in der Wohnstätte E. und sodann in der streitgegenständlichen Wohnstätte A-Stadt ergibt sich nach den von der Antragstellerin vorgelegten Entwicklungsberichts durchaus eine Besserung des Gesundheitszustands der Antragstellerin und in der Folge ein Fortschritt in ihrer Teilhabefähigkeit. So kann die Antragstellerin nach dem aktuellsten Entwicklungsbericht vom 12. Februar 2018 zwischenzeitlich wieder in einfacher Weise kommunizieren, kann mit der Unterstützung von zwei Personen kleinere Strecken laufen, für kurze Zeit selbständig stehen, Gemüse und Obst mit Unterstützung schneiden. Sie zeigt insgesamt in der Motorik, der Kommunikation und ihrer Willensbekundung Fortschritte, was nach den Entwicklungsberichten auf die intensive pädagogische Förderung und Unterstützung zurückzuführen sei. Entgegen der Auffassung des Antragsgegner steht dem auch die Prognose im Pflegegutachten nicht entgegen, wonach die Selbständigkeit und Teilhabe voraussichtlich nicht durch eine interdisziplinäre und mehrdimensionale Leistung zur medizinischen Rehabilitation verbessert oder erhalten werden könne, denn diese Einschätzung bezieht sich lediglich auf die Frage der Erforderlichkeit einer medizinischen Rehabilitation, trifft jedoch zu den Erfolgsaussichten von Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft keinerlei Aussagen.

Dem steht nicht entgegen, wenn – wie der Antragsgegner meint - eine vermeintliche Verbesserung der körperlichen Funktionen Folge eines Genesungsprozesses nicht aber als rehabilitativer Eingliederungshilfeerfolg gewertet werden könne, sondern Folge der von der Antragstellerin in Anspruch genommenen Pflege sei, es bestehe ein ganz überwiegender Pflegebedarf. Aus den Betreuungshilfen und Unterstützungen lasse sich nicht entnehmen, dass damit auch Aufgaben der Eingliederungshilfe umgesetzt würden, dass formulierte Förderziel "Teilhabe am Arbeitsleben" könne mit den gegenwärtigen Maßnahmen nicht hinreichende zielorientiert erreicht werden. Der Hilfebedarf erschöpfe sich zur Zeit in gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten der Antragstellerin, alle Defizite und Veranlassungen unterfielen deshalb der Hilfe zur Pflege. Die Hilfen in der Einrichtung seien nicht auf eine Teilhabe am Arbeitsleben gerichtet, da nicht feststehe, welche Kompetenzen der Antragstellerin verblieben, um die Aufgabe der Eingliederungshilfe insoweit erfüllen zu können, dies könne erst nach einer Stabilisierung ermittelt werden. Die Abgrenzung zwischen Leistungen der Hilfe zur Pflege einerseits und der Eingliederungshilfe erfolgt aufgrund ihrer unterschiedliche Zielrichtungen: Mit der Hilfe zur Pflege wird nicht vornehmlich auf die Besserung des gesundheitlichen Zustands, sondern vielmehr auf die Erleichterung der Beschwerden zur Ermöglichung der erforderlichen Verrichtungen des Alltags abgestellt. Der behinderte Mensch soll nicht an den Grunderfordernissen des täglichen Lebens scheitern. Demgegenüber hat die Eingliederungshilfe zum Ziel, auf eine Integration des behinderten Menschen in die Gesellschaft und auf eine entsprechende berufliche Rehabilitation hinzuwirken (Meßling in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 61 SGB XII 1. Überarbeitung, Rn. 38). Für die Frage, wie in Fällen stationären Aufenthalts der Anwendungsbereich der Eingliederungsleistungen nach den §§ 53 ff. SGB XII von demjenigen der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XII inhaltlich abzugrenzen ist, kommt es entscheidend auf die Konzeption des Einrichtungsträgers und den mit dem Aufenthalt verfolgten vorrangigen Zweck an. Liegt dieser vornehmlich in der Reintegration ins Arbeitsleben bzw. der Eingliederung in die Gesellschaft, liegt ein Fall der Eingliederungshilfe auch dann vor, wenn die Pflegebedürftigkeit eines Menschen im Verhältnis zu seiner Förderung einen erheblichen zeitlichen Aufwand einnimmt. Eine Eingliederung der hilfebedürftigen Person in die Gesellschaft in dem Sinne, dass diese selbstbestimmt und überwiegend unabhängig ihren Alltag bewältigen kann, muss dabei nicht zu erwarten sein (Meßling in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 61 SGB XII 1. Überarbeitung, Rn. 41). Wenn – zunächst – das sich aus den Entwicklungsberichten ergebende Eingliederungsziel der Teilhabe am Arbeitsleben in der Form einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen um Hinblick auf die Schwere der Behinderung der Antragstellerin nur als Fernziel angesehen werden kann, steht dies nach diesen Maßstäben Maßnahmen der Eingliederungshilfe nicht entgegen, da nach § 53 Abs. 3 SGB XII Eingliederungshilfe auch darauf zielt, den Hilfeempfänger "soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen". Dies impliziert zum einen, dass – solange dies noch nicht der Fall ist – Eingliederungshilfe neben der Pflegehilfe in Betracht kommt. So ist denkbar, dass ein behinderter Mensch tagsüber in einer Einrichtung (etwa einer Werkstatt für behinderte Menschen) teilstationäre Eingliederungshilfe erhält, aber zu Hause unter Inanspruchnahme häuslicher Pflege und Bezug z.B. eines Pflegegeldes nach § 64a SGB XII lebt (Meßling in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 61 SGB XII 1. Überarbeitung, Rn. 39), oder in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen lebt, in der nach § 55 Satz 1 SGB XII die Leistungen der Eingliederungshilfe auch die Pflegeleistungen umfassen. Zum anderen macht dies deutlich, dass als Teilhabeziel im Sinne von § 53 SGB XII es ausreicht, den behinderten Menschen soweit wie möglich von Pflege unabhängig zu machen. Insoweit ist indessen darauf hinzuweisen, dass die in der Wohnstätte A-Stadt erbrachten Leistungen ausweislich des letzten Entwicklungsberichts und des darin geschilderten Tagesablaufs (Bl. 92 ff der Gerichtsakte) über dieses "Minimalziel" hinaus offensichtlich auch auf die Befähigung der Antragstellerin zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft abzielen, wenn neben kreativen Angeboten auch Ausflüge im näheren Ortsbereich zum Einkaufen, Kaffeetrinken oder auch in weiterem Umkreis durchgeführt werden.

Soweit beim Antragsgegner weiterhin Bedenken zu bestehen scheinen, ob die Pflege der Antragstellerin in der Wohnstätte A-Stadt gesichert ist, stellt die Einrichtung ausweislich des vorgelegten Wohn- und Betreuungsvertrags 13. Februar 2017 die Grundpflege der Antragstellerin sicher. Ausgehend davon, dass die Wohnstätte A-Stadt der Wohnstätte E. des gleichen Einrichtungsträgers vergleichbar konzipiert ist, ist des weiteren nicht anzunehmen, dass der pflegerische Bedarf der Antragstellerin in der Einrichtung nicht gedeckt werden könnte, denn aus dem Pflegegutachten vom Januar 2017 ergeben sich keine Hinweise auf etwaige Pflegedefizite; solche sind auch sonst nicht erkennbar.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nachdem die D. den Wohn- und Betreuungsvertrag vom 13. Februar 2017 mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 mit Wirkung zum 31. Dezember 2017 gekündigt hat, ist ihre Unterbringung in der Wohnstätte A-Stadt, die sowohl ihre Wohnung als auch die Erbringung von Pflege- und Betreuungsleistungen umfasst, gefährdet, die jedenfalls hinsichtlich Wohnung und Pflegeleistungen existenzsichernden Charakter haben. Die Kündigung des Einrichtungsträgers ist nach dem Inhalt des Kündigungsschreibens vom 11. Dezember 2017 auch berechtigt, weil die Antragstellerin Entgelte aus dem Wohn- und Betreuungsvertrag vom 13. Februar 2017 für die Zeit von Februar 2017 bis Dezember 2017 in Höhe von 99.604,14 Euro nicht gezahlt hat. Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 Gesetz über die Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen (Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz – WBVG - ) kann ein Unternehmer den Vertrag aus wichtigem Grund kündigen; ein solcher Grund ist gegeben, da nach § 13 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 WBVG ein wichtiger Grund insbesondere vorliegt, wenn ein Verbraucher in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung des Entgelts in Höhe eines Betrags in Verzug gekommen ist, der das Entgelt für zwei Monate erreicht. Der Einrichtungsträger hat die Kündigung mit Schreiben vom 9. November 2017 auch unter Setzung einer angemessenen Zahlungsfrist nach § 13 Abs. 3 Satz 1 WBVG angedroht. Zwar hat der Einrichtungsträger noch keine Räumungsklage gegen die Antragstellerin angestrengt, nach dem unwidersprochenen Vortrag der Antragstellerin wartet der Einrichtungsträger jedoch lediglich wegen den anhängigen einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu, so dass von einer Gefährdung der Unterbringung der Antragstellerin auszugehen ist. Der drohenden Obdachlosigkeit steht auch nicht § 12 Abs. 3 WBVG entgegen, denn entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin enthält die Norm keine Regelung dazu, dass Obdachlosigkeit erst nach einer Entscheidung über eine Räumungsklage entstehen kann. Vielmehr wird die Kündigung nach dieser Norm unwirksam, wenn der Unternehmer bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs hinsichtlich des fälligen Entgelts befriedigt wird oder eine öffentliche Stelle sich zu Befriedigung verpflichtet. § 12 Abs. 3 WBVG regelt damit eine Konstellation in der – wie im vorliegenden Fall – die Unterbringung in der Einrichtung noch dauerhaft gesichert werden kann, wenn rechtzeitig das fällige Entgelt, hier also zwischenzeitlich über 100.000 Euro, vollständig gezahlt wird. Zur Sicherung der Unterbringung ist die Regelungsanordnung daher notwendig, weil weder ersichtlich ist, dass die Antragstellerin die rückständigen Heimentgelte aus eigenen Mitteln aufbringen kann, noch dass der Einrichtungsträger ohne Zahlung der rückständigen und weiter entstehenden Entgelte der Antragstellerin auch weiterhin Leistungen erbringen und ihr Unterkunft gewähren wird. Die Antragstellerin kann auch nicht zumutbar auf die Unterbringung in einer anderen Einrichtung verwiesen werden, weil nicht erkennbar ist, welche gleichermaßen geeignete Einrichtung kurzfristig zur Verfügung stünde. Soweit der Antragsgegner eine Unterbringung im Pflegeheim kurzfristig für möglich hält, ist angesichts des bestehenden Anordnungsanspruchs eine solche Unterbringung nicht zur Sicherstellung der glaubhaft gemachten Teilhabebedarfe ausreichend.

§ 12 Abs. 3 WBVG rechtfertigt auch ausnahmsweise die Verpflichtung des Antragsgegner vorläufig für zurückliegende, d. h. vor dem Zeitpunkt des Antragseingangs beim Sozialgericht liegende Zeiträume Leistungen zu erbringen, da danach nur die vollständige Befriedigung des Einrichtungsträgers zur Unwirksamkeit der Kündigung und damit zur wirksamen Sicherung der Unterbringung führt. Die einstweilige Anordnung ist insoweit zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes notwendig.

Die einstweilige Anordnung war – wie aus dem Tenor ersichtlich – unter Berücksichtigung der hohen Kostenbelastung des Antragsgegners und der Möglichkeit, dass weitergehende Ermittlungen in der Hauptsache zur Frage der Erforderlichkeit der Leistungen zur Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu entgegenstehenden Erkenntnissen führen könne, zu befristen.

Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht der einstweiligen Anordnung nicht entgegen, denn eine echte Vorwegnahme der Hauptsache liegt nur dann vor, wenn die Maßnahme nachträglich nicht mehr für die Vergangenheit korrigierbar ist. Dies wäre hier nur dann der Fall, wenn eine spätere Rückforderung der Geldleistungen im Falle des Unterliegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren ausnahmsweise rechtlich ausgeschlossen ist (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rn. 31). Eine solche Situation ist nicht gegeben. Dem Antragsgegner wird durch die einstweilige Anordnung lediglich das Insolvenzrisiko der Antragstellerin aufgebürdet.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Der Antragstellerin war nach alledem Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, ihre Rechtsverfolgung hat hinreichende Erfolgsaussichten und sie kann nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen, § 73a SGG i. V. m. § 114 ZPO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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