S 150 AS 9734/18 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
150
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 150 AS 9734/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Pflegekinder sind jedenfalls dann als „sonstige“ Familienangehörige iSv § 11 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 36 Abs. 2 S. 1 AufthG anzusehen, wenn zwischen ihnen und der Pflegemutter / dem Pflegevater / den Pflegeeltern ein intensiv gelebtes Pflegekindschaftsverhältnis besteht.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen, und zwar jeweils in Höhe des Betrags, der für den jeweiligen Beteiligten und für den jeweiligen Zeitraum in der folgenden Tabelle genannt ist, längstens jedoch bis zum Eintritt der Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache:

Antragsteller zu 1. Antragstellerin zu 2. Antragstellerin zu 3. 05.09.2018–30.09.2018 153,32 EUR 70,33 EUR 220,44 EUR 01.10.2018–30.11.2018 183,98 EUR 84,39 EUR 264,53 EUR 01.12.2018–31.12.2018 259,33 EUR 84,39 EUR 264,53 EUR 01.01.2019–28.02.2019 270,53 EUR 90,39 EUR 270,53 EUR

Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die Antragsteller sind estnische Staatsangehörige. Der Antragsteller zu 1) wurde 2002 geboren, die Antragstellerin zu 2) 2001 und die Antragstellerin zu 3) 2001. Vormund der drei Antragsteller ist Frau V. S., die ebenfalls die estnische Staatsangehörigkeit besitzt und alleinstehend ist. Frau S. nahm die Antragsteller zu 1) und 2) auf der Grundlage von Pflegeverträgen im Februar 2004 zu sich; das jeweilige Vormundschaftsverhältnis besteht seit 2009. Die Antragstellerin zu 3) lebt seit August 2011 im gemeinsamen Haushalt mit Frau S. und den Antragstellern zu 1) und zu 2). Seit 2012 ist Frau S. auch Vormund der Antragstellerin zu 3). Frau S. bezog in Estland für jeden Antragsteller Geldleistungen i.H.v. 240 EUR monatlich zuzüglich Kindergeld.

Anfang September 2016 reisten Frau S. und die Antragsteller gemeinsam nach Deutschland, wo sie zunächst bei dem Sohn von Frau S. lebten. Frau S. ging ab Oktober 2016 bis April 2018 einer Erwerbstätigkeit als Pflegehilfskraft nach. Die Antragsteller zu 1) und 3) besuchen eine Schule, die Antragstellerin zu 2) wurde aufgrund unentschuldigter Fehlzeiten im November 2018 von der Schule abgemeldet.
Zum 01.01.2017 bezogen Frau S. und die Antragsteller die Wohnung unter der im Rubrum angegebenen Anschrift. Die monatliche Bruttowarmmiete beträgt 578,13 EUR. Seit Mai 2018 bezieht Frau S. Arbeitslosengeld nach dem SGB III in Höhe von 696,30 EUR. Der Anspruch endet ausweislich des Bewilligungsbescheids vom 27.04.2018 zum 31.12.2018. Die Antragsteller zu 2) und 3) beziehen Kindergeld in Höhe von jeweils 190 EUR, der Antragsteller zu 1) in Höhe von 196 EUR. Weiterhin erhielt der Antragsteller zu 1) bis 05.12.2018 monatliche Unterstützungsleistungen aus Estland in Höhe von 80,55 EUR. Die Antragstellerin zu 2) erhält eine monatliche Waisenrente aus Estland in Höhe von 180,14 EUR. Ausfällig des Kindergeldbescheides vom 26.07.2017 erhielt Frau S. in 2017 eine Nachzahlung in Höhe von insgesamt 5.802 EUR für den Zeitraum Oktober 2016 bis Juli 2017.

Bereits im Oktober 2017 beantragte Frau S. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II. Buch (SGB 2) beim Antragsgegner. Mit drei gleichlautenden Bescheiden an die Antragsteller zu 1) bis 3) lehnt der Antragsgegner den Leistungsantrag ab. Zur Begründung führte er aus, die Antragsteller hätten kein Aufenthaltsrecht in Deutschland, insbesondere bei Frau S. keine Familienangehörige im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes. Die hiergegen jeweils eingelegten Widersprüche der Antragsteller wies der Antragsgegner mit drei Widerspruchsbescheiden vom 20.09.2018 zurück. Die Antragsteller würden dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB II unterfallen. Nach Maßgabe der §§ 2 ff. des Freizügigkeitsgesetzes sei kein Aufenthaltsrecht für die Antragsteller erkennbar. Aus dem zwischen Frau S. als Pflegemutter und den Antragstellern bestehenden Vormundschaftsverhältnis ergebe sich keine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB 2. Frau S. sei nicht als Familienangehörige der Antragsteller anzusehen.

Bereits vorher, am 05.09.2018, beantragten die Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz beim Sozialgericht.

Mit Schriftsatz vom 06.12.2018 teilten die Antragsteller mit, dass die Antragstellerin zu 2) im November 2018 von der Schule abgemeldet worden sei und führten aus: "Ich bitte Sie A. bis einschließlich November 2018 zu berücksichtigen. Sollte sie aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht die Schule besuchen können und auch nicht erwerbsfähig sein, werde ich dies entsprechend bei dem Antragsgegner vortragen."

Die Antragsteller machen geltend, § 7 SGB II sei nicht einschlägig. Unstreitig sei Frau S. sorgeberechtigt. Sie sei als Familienangehörige im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes zu sehen. Unstreitig sei der Familienbegriff im Rahmen des § 3 Freizügigkeitsgesetze weit gefasst, so würden zweifelsohne Großeltern, Enkel und Stiefkinder hierunter fallen. Frau S. und die Antragsteller würden seit vielen Jahren in einer familiären Lebensgemeinschaft leben.

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, insbesondere Regelsätze und den Mietanteil zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Es fehle bereits an der ausreichenden Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs. Allein die Tatsache, dass sich die Antragsteller als estnische Staatsangehörige seit Dezember 2016 auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und als Pflegekinder gemeinsam mit Frau S. wohnen, reiche für einen eigenständigen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2 nicht aus. Laut Wikipedia sei "Ein Pflegekind ist ein Kind, das vorübergehend oder dauerhaft nicht bei seinen Herkunftseltern, sondern in einer anderen, mit dem Kind nicht verwandten Familie (Pflegefamilie) lebt und von dieser betreut, jedoch nicht adoptiert wird. Es handelt sich somit um eine Form der stationären Jugendhilfe." Die Antragsteller würden mit Frau S. keine Bedarfsgemeinschaft bilden, da sie keiner der in Nr. 1 bis Nr. 4 des § 7 Abs. 3 SGB II genannten Fallgruppen zuzuordnen seien. Eine Erweiterung auf Kinder, die als Pflegekinder dauerhaft in einem Haushalt aufgenommen sind, fehlt im SGB 2. Der Gesetzgeber habe hier nur leibliche und angenommene, mithin adoptierte Kinder im Blick. Es handele sich bei den Antragstellern um Pflegekinder und somit nicht um Familienangehörige im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes. Im Übrigen sei auch ein Anordnungsgrund angesichts der im Kindergeldbescheid vom 26.07.2017 in Aussicht gestellten Nachzahlung in Höhe von insgesamt 5802 EUR sowie der ersichtlichen aktuellen Kindergeldzahlungen nicht glaubhaft gemacht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Verwaltungsvorgang des Antragsgegners sowie auf die Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen.

II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat im tenorierten Umfang Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) voraus, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn nach der Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich ist, dass die Antragsteller mit ihrem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein werden. Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

Die Antragsteller haben – im tenorierten Umfang – sowohl einen Anordnungsanspruch (hierzu unter Ziff. 1) als auch einen Anordnungsgrund (hierzu unter Ziff. 2) glaubhaft gemacht.

1) Nach summarischer Prüfung hat die in der Hauptsache erhobene Klage im tenorierten Umfang Erfolg.

a) Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu erfüllen. Sie haben das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Sie sind erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 SGB II. Anhaltspunkte für eine fehlende (gesundheitliche) Erwerbsfähigkeit liegen nicht vor. Dies gilt zum jetzigen Zeitpunkt auch für die Antragstellerin zu 2). Dem Schriftsatz der Antragsteller vom 06.12.2018 ist insofern allein zu entnehmen, dass die Antragstellerin zu 2) von der Schule abgemeldet wurde. Eine etwaige Erwerbsunfähigkeit folgt daraus nicht. Soweit die Antragsteller darum bitten, die Antragstellerin zu 2) bis November 2018 zu berücksichtigen, folgt hieraus keine Begrenzung des Leistungsbegehrens, vielmehr ist die Formulierung nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz so auszulegen, dass Leistungen für die Antragstellerin zu 2) mindestens bis November 2018 begehrt werden. Da die Antragsteller unter Berücksichtigung ihrer Einkünfte weder über bedarfsdeckendes Einkommen, noch Vermögen verfügen, sind sie auch hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 9 SGB II). Schließlich haben die Antragsteller ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I).

b) Die Antragsteller sind auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, denn sie genießen als sonstige Familienangehörige der Frau S. das Freizügigkeitsrecht gem. § 11 FreizügG/EU i.V.m. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG. Sie können sich somit auf ein anderes materielles Aufenthaltsrecht als das zur Arbeitssuche stützen und unterfallen aus diesem Grunde nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 SGB II. Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU ist auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach § 2 Abs. 1 das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, u.a. die Vorschrift des § 36 des Aufenthaltsgesetzes entsprechend anwendbar. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG regelt, dass sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Dies bedeutet, dass nicht nur die in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Familienangehörigen das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben, wenn sie einen Unionsbürger begleiten, sondern auch sonstige Familienangehörige im Sinne von § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG.

Frau S. war in Deutschland mehr als ein Jahr erwerbstätig und genießt deshalb ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU. Die Antragsteller haben Frau S. begleitet. Entgegen der Auffassung des Antragstellers sind sie unter Berücksichtigung des grundgesetzlichen Gebotes des Schutzes der Familie in Art. 6 Grundgesetz jedenfalls als "sonstige Familienangehörige" im Sinne von § 11 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG anzusehen. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind und die Eltern diese Pflicht in der Familie erfüllen, die vor allem Erziehungsgemeinschaft, aber auch Wirtschaftsgemeinschaft ist (BVerfG, Beschluss vom 10. November 1998 – 2 BvR 1057/91 –, Rn. 62, juris). Der Familienbegriff wird dabei weit ausgelegt:

"Daß unter "Familie" jedenfalls die aus Eltern und Kindern bestehende Gemeinschaft zu verstehen ist, zu den Kindern aber auch Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder sowie (im Verhältnis zur Mutter) uneheliche Kinder gehören, ist allgemein anerkannt." (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1964 – 1 BvL 16/62 –, BVerfGE 18, 97-112, Rn. 38)

Jedenfalls wenn zwischen Pflegemutter und Pflegekindern ein intensiv gelebtes Pflegekindschaftsverhältnis besteht, d.h. als Folge eines länger andauernden Pflegeverhältnisses eine gewachsene Bindung entstanden ist, genießt ein Pflegekindschaftsverhältnis verfassungsrechtlichen Schutz. Dies ist auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt. So hat das VG Berlin ausgeführt:

"Eine Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist die umfassende Gemeinschaft der Eltern mit ihren minderjährigen Kindern, in der den Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen (BVerfGE 48, 327 (339); 10, 59 (66)). Auch das Zusammenleben von nur einem Elternteil mit einem Kind ist von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt (BVerfGE 56, 363 (381)). Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG schützt die Familie zunächst und zuvörderst als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Art. 6 Abs. 1 GG schützt neben der durch Geburt entstandenen Familie grundsätzlich jede andere von der staatlichen Rechtsordnung anerkannte Gemeinschaft von Eltern und Kindern, insbesondere auch Stief- und Pflegekinder, sofern diese engere Familie in der Hausgemeinschaft geeinigt ist (vgl. z. B. BVerfGE 80, 81 (90 f.); 79, 256 (267); VGH Mannheim, Urteil vom 15. September 1993 – 11 S 73/93 – juris, Rn. 27, m. w. N.; BGHZ 163, 84 (91 f.); BSGE 71, 128 (133)).

Ein Pflegekindschaftsverhältnis, wie es zwischen der Antragstellerin und Frau W. in Frage steht, genießt verfassungsrechtlichen Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG nur unter der weiteren Voraussetzung, dass zwischen dem Pflegekind und seinen Pflegeeltern bzw. dem zur Pflege berechtigten Elternteil als Folge eines länger andauernden Pflegeverhältnisses eine gewachsene Bindung entstanden ist (BVerfGE 68, 176 (187); 79, 51 (57))." (VG Berlin, Beschluss vom 16. März 2009 – 2 V 45.08 –, Rn. 8 - 9, juris)

Allein diese Auslegung wird im Übrigen der Regelung des Artikel 3 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG gerecht, deren Wortlaut lautet:

"(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:

a) jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen; "

Die erforderliche gewachsene Bindung zwischen den Antragstellern und Frau S. kann schon aufgrund der langjährigen Dauer der Pflegeverhältnisse angenommen werden. Der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) leben bereits seit mehr als 15 Jahren in einem Haushalt mit Frau S. Die Antragstellerin zu 3) lebt seit inzwischen mehr als sieben Jahren im Haushalt von Frau S.

Die Antragsteller haben somit ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige der Frau S. und unterfallen nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II.

c) Soweit der Antragsgegner geltend macht, dass die Antragsteller als Pflegekinder der Frau S. nicht zu deren Bedarfsgemeinschaft gehören, kann er sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stützen.

So hat das BSG ausgeführt:

"Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten hier die beiden verheirateten Kläger gemäß § 7 Abs 3 Nr 1 SGB II, während die beiden Pflegekinder keiner der in den Nr 1 bis 4 des § 7 Abs 3 SGB II genannten Fallgruppen zuzuordnen sind (anders, allerdings ohne Angabe von Gründen Hänlein in Gagel, SGB III mit SGB II, § 7 RdNr 58, Stand Juni 2006) und daher mit ihren Pflegeeltern keine Bedarfsgemeinschaft bilden." (BSG, Urteil vom 29. März 2007 – B 7b AS 12/06 R –, SozR 4-4200 § 11 Nr 3, Rn. 14)

Auch wenn vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an der insoweit engen Auslegung des Begriffs "Kinder" in § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB 2 durch das BSG Bedenken bestehen, folgt die Kammer der Auffassung des BSG. Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Antragsteller nicht leistungsberechtigt wären. Vielmehr bildet jeder Antragsteller eine eigene Bedarfsgemeinschaft und sind die Leistungen entsprechend zu berechnen.

2) Der erforderliche Anordnungsgrund ergibt sich aus dem glaubhaft gemachten Fehlen von Eigenmitteln der Antragsteller. Angesichts der vorliegenden Kontoauszüge und der glaubhaft dargelegten jeweiligen Einkommenssituation der Antragsteller ist ersichtlich, dass diese ihren Bedarf nicht decken können. Auch Frau S. hat glaubhaft dargelegt, dass sie angesichts ihrer Einkommensverhältnisse nicht in der Lage ist, den Bedarf der Antragsteller zu decken. Aufgrund der vorliegenden Kontoauszüge verfängt der Hinweis des Antragsgegners auf die bereits in 2017 ausgezahlte Kindergeldnachzahlung nicht.

3) Bei allen drei Antragstellern war ein Regelleistungsbedarf von 316 EUR für den Zeitraum 05.09.2018 bis 31.12.2018 zugrunde zu legen, für den Zeitraum vom 01.01. bis 28.02.2019 von 322 EUR und ein Bedarf an Unterkunft und Heizung in Höhe von 1/4 der Bruttowarmmiete, mithin 144,53 EUR pro Antragsteller. Als Einkommen war für die Antragsteller zu 1) bis 3) ein monatliches Kindergeld von jeweils 196 EUR zugrunde zu legen. Zwar weist der vorliegende Bewilligungsbescheid für die Antragstellerinnen zu 2) und 3) lediglich Kindergeld in Höhe von jeweils 190 EUR aus. Tatsächlich erhält Frau S. ausweislich der vorliegenden Kontoauszüge jedoch insgesamt 588 EUR Kindergeld ausgezahlt. Weiterhin war bei dem Antragsteller zu 1) für den Zeitraum 05.09.2018 bis 03.12.2018 ein Einkommen in Höhe von 80,55 EUR zu berücksichtigen. Bei der Antragstellerin zu 2) war weiter die monatlich gewährte Waisenente von 180,14 EUR anzusetzen.

Der Antrag auf Erlass einer einseitigen Anordnung war insoweit zurückzuweisen, als er auf die zeitlich unbegrenzte Verpflichtung des Antragsgegners gerichtet war. Angesichts der Vorläufigkeit der einstweiligen Regelung erscheint eine Begrenzung der Verpflichtung auf einen Zeitraum von sechs Monaten angemessen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG; da die Antragstellerin mit ihrem Antrag im Wesentlichen durchgedrungen ist und aufgrund der vollständigen Leistungsversagung des Antragsgegners gehalten war, einseitigen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, erscheint die vollständige Übernahme der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin durch den Antragsgegner angemessen.
Rechtskraft
Aus
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