S 11 SO 160/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
11
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 11 SO 160/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 2.9.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 wird abgeändert und die Beklagte wird verurteilt, für alle vom Kläger im Schuljahr 2016/2017 und 2017/2018 nachmittags unter Einsatz einer Assistenzkraft (Gebärdendolmetscher) besuchten schulischen Veranstaltungen (einschließlich Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung) die Kostenzuschussweise und ohne Kostenbeitrag zu tragen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Streitig ist die einkommens- und vermögensabhängige Kostenübernahme für schulische Assistenzleistungen (Gebärdendolmetscher) am Nachmittag für den nahezu gehörlosen Kläger.

Der 2009 geborene Kläger leidet unter einer hochgradigen Schwerhörigkeit. Auch beide Eltern sind gehörslos. Der Vater ist im März 2017 verstorben. Der Kläger und seine Mutter leben von Hinterbliebenen Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und Aufstockungsleistungen des Jobcenters Stadt A-Stadt. Nach Angaben der Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 26.7.2018 beträgt der Aufstockungsbetrag nach dem SGB II aktuell ca. 350 EUR monatlich. Der Kläger hat das Erbe nach seinem Vater ausgeschlagen.

Seit dem Schuljahr 2015/2016 besucht der Kläger die D-schule (Grundschule mit Ganztagsangebot) in A-Stadt. Nach den diesjährigen Sommerferien besucht er ab 6.8.2018 dort die vierte Klasse. Der Kläger nimmt mithilfe einer Gebärdendolmetscherassistenz am Unterricht teil.

Die Kosten der Assistenz für den verbindlichen Pflichtunterricht am Vormittag hat die Beklagte von Anfang an getragen und die Kostenübernahme in der Zeit bis 22.6.2018 (Schulferienbeginn nach Abschluss des dritten Schuljahres des Klägers) bewilligt. Streit zwischen den Beteiligten besteht hinsichtlich der Nachmittagsangebote. Das amtsärztliche Gutachten vom 8.8.2016 bestätigt das Erfordernis eines Einsatzes eines Gebärdendolmetschers auch für die freiwilligen nachmittäglichen Angebote (Arbeitsgemeinschaften). Hierauf hat die Beklagte zwar eine grundsätzliche Leistungsberechtigung des Klägers auch für den Nachmittagsunterricht/Nachmittagsveranstaltungen (insbesondere Kreativ-und Sport AG) gesehen, verlangte hierfür aber zunächst einen monatlichen Kostenbeitrag der Eltern i.H.v. 150 EUR (aus Mieteinnahmen).

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 02.09.2016 in Form des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 bewilligte die Beklagte Assistenzleistungen für wöchentlich zwei Freizeitangebote, zwei Mittagessen und drei Hausaufgabenbetreuungen, jedoch nur darlehensweise unter Berücksichtigung von (nicht sofort verwertbarem) Immobilieneigentum/Mietshaus.

Gegen den Bescheid vom 02.09.2016 in der Fassung des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 erhebt der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 08.12.2016 beim Sozialgericht Kassel Klage.

Im Eilverfahren S 11 SO 12/17 ER erkannte die Beklagte die Kostentragungspflicht für alle Nachmittagsangebote (soweit vom Kläger wahrgenommen) vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache an, jedoch auch weiterhin nur darlehensweise im Hinblick auf die ungeklärte Vermögenssituation. Die Leistungen wurden ausweislich der Angaben des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2018 bis zum Schuljahresende des Schuljahres 2017/2018 am 22.06.2018 erbracht.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist der Ansicht, die Beklagte habe für sämtliche schulische Nachmittagsangebote die Assistenzkosten einkommens- und vor allem vermögensunabhängig zu tragen. Es handele sich bei den vom Kläger bis zum Schuljahresende 2017/2018 wahrgenommenen Schulangeboten um solche, für die gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht) keine Einkommens- bzw. Vermögensanrechnung in Betracht komme. Dazu verweist der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf einen Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 13.02.2015 (S 8 SO 5/15), wonach die Finanzierung eines Integrationshelfers als einkommens- und vermögensunabhängig zu gewährende Hilfe für eine angemessene Schulbildung zu Gunsten eines behinderten schulpflichtigen Kindes auch für die Zeit der Nachmittagsbetreuung in einer Grundschule mit offenem Ganztagsangebot beansprucht werden könne. Vorgelegt werden Stellungnahmen der Klassenlehrerin des Klägers, Frau E., zum Erfordernis der Teilnahme des Klägers am bestehenden Ganztagsangebot der D-schule. Nach der Rechtsprechung diverser Landessozialgerichte (LSG NRW, Beschluss vom 01.06.2015, L 9SO 89/15 B ER, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.04.2014, L 8 SO 506/13, LSG NRW, Beschluss vom 15.01.2014, L 20 SO 477/13 W, jeweils zitiert nach juris) sei die vorliegend streitige Frage danach zu beurteilen, ob der offene Ganztag eine objektiv finale Zielrichtung in Bezug auf die Schulbildung aufweise und es für die Frage, ob eine Hilfe eine solche zur angemessenen Schulbildung sei, darauf ankomme, ob die Veranstaltungen in einem - gemessen an dem Hilfezweck -hinreichenden zeitlichen, örtlichen und personellen Zusammenhang mit dem Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht stehe. Ein solcher Zusammenhang könne darin liegen, dass den Schülern in einer solchen freiwilligen Veranstaltung Lerninhalte vermittelt werden sollten, die die Teilnahme am regulären Schulunterricht erleichtern würden, indem sie auf diesen aufbauten und diesen ergänzten. Zwar reiche es nach dem Wortlaut des § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV) i.V.m. der Rechtsprechung der Sozialgerichte nicht aus, dass die zu ermöglichende Maßnahme lediglich förderlich sei. Die Maßnahme müsse vielmehr erforderlich und geeignet sein, um den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Geeignet sei die Maßnahme dann, wenn nach den Fähigkeiten und Leistungen des behinderten Menschen zu erwarten sei, dass er das Bildungsziel erreichen werde. Die Erforderlichkeit einer Teilnahme an einem freiwilligen nachmittäglichen Betreuungsangebot komme in Betracht, wenn eine Betreuung im häuslich-familiären Bereich aus zwingenden, insbesondere pädagogischen Gründen nicht in ähnlicher Weise möglich sei. Für den Kläger gelte, dass nach dem amtsärztlichen Gutachten vom 08.08.2016 der vom Kläger geltend gemachte und im Streit befindliche Bedarf insoweit geeignet und erforderlich sei. Auch die Schule des Klägers bestätige die Notwendigkeit und Geeignetheit einer gebärdensprachlichen Unterstützung im Rahmen der nachmittäglichen Schulangebote. Hieraus sei jedenfalls auf die Notwendigkeit einer durchgängigen gebärdensprachlichen Unterstützung des Klägers zu schließen. Da es sich bei der vom Kläger begehrten Eingliederungshilfe nicht um eine Maßnahme handele, die sich lediglich mittelbar auf die Erreichung des verfolgten Zweckes auswirke, sei im vorliegenden Fall von einer privilegierten Eingliederungshilfe gemäß § 92 Abs. 2 S. 1 in Form einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII auszugehen und diese unterliege gerade nicht, entgegen der Auffassung der Beklagten, den Bedürftigkeitskriterien in Form eines vorrangigen Einsatzes von Einkommen bzw. Vermögen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 02.09.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, für alle vom Kläger im Schuljahr 2016/2017 und 2017/2018 nachmittags unter Einsatz einer Assistenzkraft (Gebärdendolmetscher) besuchten schulischen Veranstaltungen (einschließlich Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung) die Kosten zuschussweise und ohne Kostenbeitrag zu tragen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Kläger begehre im Rahmen von Teilhabeleistungen nach den §§ 53, 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII die volle Kostenübernahme von Aufwendungen für einen Gebärdendolmetscher während des nicht verpflichtenden Nachmittagsangebotes der Regelgrundschule. Die D-schule nehme am sogenannten "Pakt für den Nachmittag" teil, wobei neben dem Pflichtcurriculum freiwillige Nachmittagsmaßnahmen angeboten und durchgeführt würden. Die Schulpflicht erstrecke sich nicht auf die Nachmittagsangebote, weshalb § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII ohnehin direkt nicht anwendbar sei. Eine gebundene Entscheidung nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII komme daher nicht in Betracht, sondern nur Ermessensleistungen nach § 53 Abs. 1 S. 2 SGB XII. Montags und freitags habe die D schule bisher keine Nachmittagsangebote angeboten. Die Kosten für einen Gebärdendolmetscher bei der Hausaufgabenbetreuung von Dienstag bis Donnerstag würden vollständig übernommen. Da die Beklagte auch die Kosten für die Assistenzkraft jeweils bei zwei Mittagessen und zwei Freizeitangeboten in der Zeit von Dienstag bis Donnerstag übernehme, gehe es nur um eine Begleitung pro Woche beim Mittagessen und eine Begleitung wöchentlich bei der Freizeit. Im Rahmen des ER-Verfahrens habe die Beklagte ohnehin alle Dolmetscherleistungen für den Nachmittagsbereich vorläufig übernommen, wenn auch nur darlehensweise. Unabhängig vom Umfang der zu fördernden Dolmetscherleistungen für die Nachmittagsangebote bleibe die Beklagte dabei, dass diese nicht einkommens- und vermögensunabhängig zu gewähren seien. Denn die freiwilligen Angebote der D-schule, bezüglich derer der Kläger die vollständige Kostenübernahme für den Gebärdendolmetschereinsatz verlange, seien auch unter Berücksichtigung der genannten BSG-Rechtsprechung und einem Beschluss des LSG Essen vom 01.06.2015 (L 9 SO 98/15 BER) für die Beklagte eindeutig nicht unmittelbar mit dem Schulbesuch verknüpft. Ausweislich der vorgelegten Rechnungen besuche der Kläger nunmehr an fünf Tagen in der Woche alle Nachmittagsangebote der Schule. Unter Berücksichtigung der zu der vorliegenden Problematik ergangenen Rechtsprechung sei es aus Sicht der Beklagten schon sehr zweifelhaft, ob bei der Hausaufgabenbetreuung und dem gemeinsamen Mittagessen in der D-schule pädagogische Inhalte durch qualifizierte Lehrkräfte vermittelt würden, für deren Kommunikation der Kläger einen Gebärdendolmetscher benötige. Warum die SGB II-Leistungen empfangende Mutter des Klägers nicht - zumindest einmal in der Woche, wie es letztlich streitgegenständlich sei -, das Mittagessen zubereiten und soweit erforderlich die Hausaufgabenbetreuung zu Hause übernehmen solle, könne nicht nachvollzogen werden. Wenn dem Kläger durch die einmal pro Woche stattfindende Mittags-und Nachmittagsbetreuung der Mutter ein pädagogischer Schaden entstehen solle, dürfe angefragt werden, was mit der überwiegenden Mehrheit der schulpflichtigen Kinder sein solle, die sich nach Schulschluss nach Hause begeben, dort versorgt und betreut würden. Es sei nicht Aufgabe der Sozialhilfe, den Kläger besser zu stellen als Nichtleistungsempfänger, und auch nicht, seine Mutter von elterlichen Obliegenheiten zu entlasten. Betont werden müsse, dass die D-schule keine anerkannte Ganztagsschule sei, sondern nur eine Schule mit Ganztagsangeboten im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 2 HSchG. Die Beklagte bleibe dabei, dass bei den Kosten der Nachmittagsbetreuung keine Vermögensberücksichtigung erfolgen müsse. Da der im Eigentum der Mutter des Klägers stehende Immobilienbesitz im Schwalm-Eder-Kreis mangels Angaben hierzu von der Beklagten bisher wertmäßig nicht habe beurteilt werden können, damit auch nicht dessen Verwertbarkeit, komme bis zur Klärung dieser Fragen nur eine darlehensweise Hilfegewährung in Betracht.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte des Verfahrens S 11 SO 12/17 ER und den beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, soweit deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die form-und fristgerecht beim zuständigen Sozialgericht Kassel erhobene Klage ist zulässig und wie austenoriert auch begründet. Anders als die Beklagte meint, hat sie im Falle des Klägers die Kosten des Gebärdendolmetscher auch für alle Nachmittagsangebote, die der Kläger in der Grundschule D-schule in A-Stadt nutzt, als Zuschussleistung im austenorierten Zeitraum zu übernehmen. Weder gibt es einen sachlichen noch rechtlichen Grund für die Begrenzung einer Förderung auf nur bestimmte Veranstaltungen am Nachmittag, noch ist die vom Beklagten gewählte bedürftigkeitsabhängige Förderung rechtmäßig, sodass eine bloß darlehensweise Leistungsgewährung ausscheidet.

Da die Beklagte ihre grundsätzliche Leistungsverpflichtung zur Erbringung von Teilhabeleistungen an den Kläger in Form der Kostenübernahme für einen Gebärdendolmetscher für die Nachmittagsangebote in der D-schule anerkennt, sind weitere Ausführungen des Gerichts im Rahmen des § 53 Abs. 1 SGB XII entbehrlich. Auch vor dem Hintergrund des Ergebnisses des amtsärztlichen Gutachtens vom 08.08.2016 zur Notwendigkeit des Einsatzes eines Gebärdendolmetschers anlässlich der schulischen Nachmittagsveranstaltungen erübrigen sich grundsätzliche Erwägungen zur Leistungsverpflichtung der Beklagten.

Soweit die Beklagte trotz Anerkennung ihrer (vorläufigen) Leistungsverpflichtung für die Kostenübernahme eines Gebärdendolmetscher bei allen schulischen Nachmittagsveranstaltungen im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (S 11 SO 12/17 ER) im Hauptsacheverfahren nunmehr eine Begrenzung auf bestimmte Nachmittagsveranstaltungen vornehmen will, vermag die erkennende Kammer hierfür keinen sachlich rechtfertigenden Grund erkennen. Soweit die Beklagte die Begrenzung des Hilfeumfangs mit den Zielen der Inklusion im Sinne einer Unterstützung der Verselbstständigung des Klägers sowie mit pädagogischen Erwägungen zur Sinnhaftigkeit der nachmittäglichen Betreuung des Klägers im häuslichen Bereich durch die Mutter begründet, verkennt sie einerseits die Inklusionsziele in der Grundschule sowie die Gesamtkonzeption der offenen Grundschule sowie andererseits die Auswirkungen der beim Kläger bestehenden Gehörlosigkeit, bei der die Gehörlosigkeit der Mutter die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gemeinschaft zusätzlich erschwert. Da der Kläger in die D-schule als Grundschüler aufgenommen wurde, hat er im Grundsatz bis zur Grenze des ihm tatsächlich Möglichen das Recht, wie jeder andere Schüler mitzumachen, insbesondere an den Nachmittagsveranstaltungen teilzunehmen. Ihn unter Begrenzung der Förderung von einzelnen Veranstaltungen auszuschließen, weil die erforderlichen Mittel des Klägers zur Finanzierung eines erforderlichen Gebärdendolmetschers fehlen, stellt eine unter Teilhabegesichtspunkten und Inklusionsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigende Diskriminierung des Klägers dar. Die Leistungsverpflichtung der Beklagten umfasst daher nach Ansicht der erkennenden Kammer alle nachmittäglichen schulischen Veranstaltungen, an denen der Kläger teilnimmt.

Hiervon ausgehend handelt es sich abweichend von der Auffassung der Beklagten bei den Kosten für den Einsatz des Gebärdendolmetschers für die Nachmittagsstunden in der Grundschule um eine gemäß § 92 Abs. 2 SGB XII einkommens- und vermögensabhängig zu gewährende Hilfe für eine angemessene Schulbildung i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII um keine anerkannte Ganztagsschule, sondern eine Schule mit Ganztagsangeboten im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 2 HSchG handelt. Die Schulpflicht erstreckt sich damit auf die Vormittagsveranstaltungen und nicht auf die Nachmittagsveranstaltungen, die insoweit "freiwillig" sind. Nach § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe, insbesondere Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht. Hierzu korrespondierend besteht neben der Einkommensprivilegierung nach §§ 85 ff. SGB XII bei behinderten Menschen eine Vermögensprivilegierung im Rahmen des § 92 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII. Keine Vermögensanrechnung erfolgt insoweit bei Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung.

Bei Auslegung der Norm des § 92 Abs. 2 SGB XII durch das Gericht ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 22.03.2012 (B 8 SO 30/10 R, zitiert nach juris) eine Bewertung der Kostenübernahme für den Gebärdendolmetscher am Schulnachmittag als vermögensunabhängig zu gewährende Hilfe für eine angemessene Schulbildung im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII. Zwar hat das BSG für die Abgrenzung der Hilfen zur angemessenen Schulbildung von den Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft relativ strenge Kriterien festgelegt. Hiernach muss die Betreuung speziell auf die schulischen Maßnahmen abgestimmt sein und zu einer noch zu erreichenden gewissen Schulbildung führen und einen überwiegenden Bezug zur schulischen Ausbildung haben. Nicht ausreichend ist es nach Ansicht des BSG, dass im Rahmen einer Maßnahme positive Nebeneffekte auch für die schulische Entwicklung eintreten können. Soweit vom Gericht recherchiert, haben auch diverse Landessozialgerichte unter Berücksichtigung der BSG-Kriterien in Einzelfallentscheidungen behinderungsbedingte Teilhabeleistungen an freiwilligen Nachmittagsveranstaltungen in der sogenannten offenen Ganztagsschule bzw. der Schule mit Ganztagsangeboten nicht der Schulbildung, sondern der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zugeordnet (vgl. Statt Vieler LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.08.2016, L 12 SO 435/14, zitiert nach juris; ebenso Urteil vom 17.03.2016, L 9 SO 91/13, zitiert nach juris). Diesen Entscheidungen liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, dass die Angebote der offenen Ganztagsschule bzw. der Schule mit Ganztagsangeboten nicht zum verpflichtenden Umfang des Schulbesuchs gehören, vielmehr ein schulisches Angebot darstellen, welches freiwillig wahrgenommen werden könne, und daher im Grundsatz davon auszugehen sei, dass das für den Schulbesuch maßgebliche Bildungsziel auch ohne Inanspruchnahme dieser Angebote erreicht werden könne. Auch wenn den Entscheidungen des BSG und der Landessozialgerichte zu den Privilegierungsfällen des § 92 Abs. 2 S. 1 SGB XII gemeinsam die Annahme ist, dass diese Fälle einen spezifischen Förderbedarf und eine entsprechende Förderung voraussetzen, zu dem die vermögens- und einkommensprivilegierte Hilfe einen (objektiven) finalen Bezug der Gestalt aufweisen müsse, dass der Schwerpunkt der zu erbringenden Leistung nicht allein oder vorrangig bei der allgemeinen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, sondern zumindest gleichwertig bei den von ihnen verfolgten schulischen Zielen liege (so auch Urteil des BSG vom 20.09.2012, B 8 SO 15/11 R, zitiert nach juris, Rn. 18), so ist auch all diesen Entscheidungen gemeinsam, dass sie eine individuelle Betrachtung im konkreten Einzelfall verlangen. Nur unter dieser individuellen Betrachtung im konkreten Einzelfall ist dann zu prüfen, ob die streitige Leistung unmittelbar mit dem Schulbesuch verknüpft ist und allein dieser spezifischen Fördermaßnahme dient und ob die Maßnahme die Verbesserung schulischer Fähigkeiten des behinderten Menschen zum Ziel hat.

Der gehörlose Kläger, der unstreitig durch Einsatz der Gebärdensprache kommuniziert und für den das Erlernen der deutschen Sprache quasi wie das Erlernen einer Fremdsprache ist, ist in dem ganz auf Kommunikation ausgerichteten schulischen Bereich in besonderem Maße beeinträchtigt. Mit Aufnahme des Klägers in die Grundschule D-schule im Rahmen der Inklusion hat der Kläger im Rahmen des dort seit dem Schuljahr 2016/2017 bestehenden "Paktes am Nachmittag" wie jeder andere Schüler der D-schule das Recht, auch an den Nachmittagsveranstaltungen teilzunehmen. Ein Ausschluss von einzelnen Veranstaltungen ist unter Teilhabegesichtspunkten und unter Beachtung des Verbots der Diskriminierung nicht zulässig. Nach Ansicht der erkennenden Kammer bedarf es also einer inklusiven Betrachtung der Grundschule unter Berücksichtigung des Konzepts für eine Grundschule mit Ganztagsangebot. Gerade unter Berücksichtigung dieses Konzepts und der vom Kläger besuchten Schulform "Grundschule" als Einstieg in die schulische Ausbildung überhaupt dürfen nach Ansicht der erkennenden Kammer die jeweiligen Elemente (Veranstaltungen am Vormittag und am Nachmittag) nicht einzeln betrachtet werden mit der Folge, dass der Kläger an ihnen teils teilnehmen und teilweise nicht teilnehmen dürfte. Insoweit folgt die erkennende Kammer einer Entscheidung des Sozialgerichts Gießen vom 02.09.2015 (S 18 SO 131/15 ER, zitiert nach juris, Rn. 10). In dieser Entscheidung wird ausgeführt, dass zur Vermeidung von Diskriminierungen auch das subjektive Empfinden eines Schülers, der die "Grundschule" als eine Einheit betrachtet, berücksichtigt werden müsse. Daher komme die Zuordnung der Hilfen bei den offenen Ganztagsschulen (Schulen mit Ganztagsangebot) zu den Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in der faktischen Auswirkung einem Verbot der Teilnahme an diesen freiwilligen Angeboten für einen Schüler mit Behinderung, der aus durchschnittlichen finanziellen Verhältnissen stamme, sehr nahe. Diese Benachteiligung entspreche nicht dem Eingliederungshilfegedanken. Dem kann sich das Gericht nur anschließen. Vor diesem Hintergrund ist eine enge Auslegung des Begriffs der angemessenen Schulbildung indessen im Falle des Klägers nicht geboten. Gerade weil § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII von Hilfen zur angemessenen Schulbildung spricht, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, wird durch die Formulierung "insbesondere" bereits eine Öffnungsklausel geschaffen. Dann aber kommt es gar nicht darauf an, ob für die Schulen mit Ganztagsangebot oder für die offene Ganztagsschule eine Schulpflicht besteht. Mit dem SG Gießen (a.a.O., zitiert nach juris, Rn. 11) geht auch die erkennende Kammer davon aus, dass das Kriterium des BSG für die Abgrenzung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, nämlich der Ausgangspunkt, dass die Betreuung speziell auf die schulischen Maßnahmen abgestimmt sein muss und zu einer noch zu erreichenden gewissen Schulbildung führen und ein überwiegender Bezug zur schulischen Ausbildung bestehen muss, während nicht ausreichend ist, dass im Rahmen einer Maßnahme positive Nebeneffekte auch für die schulische Entwicklung eintreten können, bei der D-schule als Schule mit Ganztagsangebot offensichtlich gegeben ist. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Stellungnahme der Klassenlehrerin Frau E. ist gerade im Falle des Klägers die schulische Bildung für das Ganztagsangebot im Rahmen des Paktes am Nachmittag nicht bloß ein positiver Nebeneffekt der Grundschule mit Ganztagsangebot, sondern ein ganz wesentlicher Bestandteil des Konzepts des Ganztagsangebots. Frau E. führt insoweit aus: "Die D-schule nimmt seit dem Schuljahr 2016/17 am "Pakt am Nachmittag" teil. Gemeinsam mit den Kooperationspartnern werden nach und nach die Ganztagsangebote erweitert.

Derzeit bietet der Ganztag von 11.30 Uhr – 14.30 Uhr folgende pädagogische Angebote:
1. Pädagogischer Mittagstisch
2. Pädagogische Hausaufgabenzeit
3. Pädagogische Freizeitangebote

Während der Mittagszeit werden den Kindern sozial-emotionale und praktische Kompetenzen vermittelt, wie z.B. Verhalten in Großgruppen, logistische Abläufe verstehen, Tischdienste versehen etc.

Die Hausaufgabenzeit wird von Lehrkräften geleitet, die dann auch bei Problemen helfen oder Defizite aufarbeiten.

Während der Freizeitangebote werden ebenfalls sozial-emotionale und praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten geschult, wie z.B. Training von Selbstständigkeit, Eingliederung in unterschiedliche Gruppen, Kommunikationsformen, motorische Trainingsmöglichkeiten.

Für A. ist es im Rahmen der inklusiven Beschulung dringend erforderlich an diesem erweiterten pädagogischen Angebot teilnehmen zu können. A. ist gut in die Klassengemeinschaft eingebunden. Derzeit nehmen 11 von 15 Kindern der Klasse 2c am Ganztagsangebot teil, darunter alle Freunde von A. Gerade die Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten können hier intensiver geschult werden als im Unterricht am Vormittag.

A. muss insbesondere Maße lernen sich in unterschiedlichsten Gruppierungen zurechtzufinden. Gehörlose treffen in der Regel auf Hörende, die die DGS nicht beherrschen. Die Kommunikation ist immer problematisch. A. soll trainieren sich auch selbständig ausdrücken zu können. Das geschieht gerade im Miteinander der Kinder, weniger im laufenden Unterricht.

Es wird im Freizeitangebot eine Gebären-AG angeboten. Da die DGS wie jede andere Fremdsprache anzusehen ist, dauert das Erlernen mehrere Jahre. Die hörenden Kinder und Lehrkräfte erlenen immer mehr einzelne Gebärden. Das reicht aber bei Weitem nicht für eine problemlose Kommunikation mit A. aus.

Besonders wichtig ist auch die Teilnahme an der Hausaufgabenzeit, da A. Deutsch als Zweitsprache erlernt und er gerade dort Unterstützung durch die Lehrkräfte braucht. Dies muss über die Zusammenarbeit mit den Dolmetscherinnen gehen."

Auch trotz Fehlens einer echten Teilnahmepflicht an den insoweit freiwilligen Nachmittagsangeboten müssen diese nach Ansicht des Gerichts im Rahmen einer wertenden und systematischen Betrachtung, insbesondere im Lichte der Inklusion und der Gesamtkonzeption der Schule mit Ganztagsangebot der angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII zugeordnet werden. Zwar befinden sich die Schulen mit Ganztagsangebot nach wie vor in der konzeptualen Entwicklung. Dies darf jedoch nicht zu Lasten des Klägers gehen, der bereits nach Ende des aktuell laufenden Schuljahres die Grundschule verlassen wird. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Regelung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII gerade nicht nur den Pflichtunterricht in der Schule umfasst. Denn dort heißt es lediglich: "Insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht". Hierzu hat das SG Gießen in der oben genannten Entscheidung (a.a.O., Zitiert nach juris, Rn. 15) ausgeführt:

Denn die OGS (offene Ganztagsschule) ist ein integraler Bestandteil der neuen Lernkultur in einem Gesamtkonzept. Dass dabei auch Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens zum Tragen kommen, ist gerade Teil des pädagogischen Gesamtkonzepts, das in der Grundschule natürlich dem Alter der Schüler besondere Rechnung trägt und sie im Rahmen des Lernens in der OGS noch nicht mit reinen Lerninhalten überfordern will. Nur deshalb besteht das Angebot zwischen Unterrichtsinhalten im engeren Sinne und außerunterrichtlichen Angeboten. Das ist aber gerade Teil des schulischen Konzepts und kein aliud zur Schule."

Vor diesem Hintergrund ordnet die erkennende Kammer im Falle des Klägers die vom Kläger wahrgenommenen Nachmittagsangebote in der D-schule zumindest gleichwertig der Schulbildung zu. Damit schadet die gleichzeitige Zuordnung auch zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Hinblick auf die Vermögensprivilegierung nicht.

Diese Sichtweise des Gerichts wird durch die ab dem 01.01.2018 geltende Rechtslage unterstützt. Durch das Bundesteilhabegesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I Seite 3234) ist in § 75 SGB IX eine neue Leistungsgruppe "Leistungen zur Teilhabe an Bildung" aufgenommen worden. Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (Bundestags-Drucksache 18/9522 Seite 62,195, 259) sind die Leistungen zur Teilhabe an Bildung geschaffen worden in Umsetzung des in Art. 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (UN-Behindertenrechtskonvention, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl. II Seite 1419, in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit 26.03.2009, BGBl. II Seite 812) verankerten Rechts auf Bildung. Gemäß § 75 Abs. 1 SGB IX werden unterstützende Leistungen erbracht, die erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderungen Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können. Als Unterstützungsleistungen kommen hiernach auch Leistungen in Betracht, die zur Teilnahme an der Vermittlung von Bildungsinhalten notwendig sind. Nach den Ausführungen der Bundesregierung im Gesetzesentwurf handelt es sich insoweit um eine Klarstellung, die das Leistungsspektrum der Rehabilitationsträger (ggf. der Sozialhilfeträger) zutreffend abbilden soll, ohne dass damit eine Leistungsausweitung beabsichtigt war (Bundestags-Drucksache 18/9522 Seite 259 f.).

Die vom Kläger begehrten Teilhabeleistungen richten sich nach alledem nach § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII und sind damit einkommens- und vermögensprivilegiert (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 und 3 SGB XII). Die Beklagte war danach, wie austenoriert, zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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