S 37 AS 13511/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 13511/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Eröffnung elektronischer Kommunikation im regulären Austausch mit dem Bürger lässt allein noch keinen Schluss auf die Bereitschaft der Behörde zum Empfang gesicherter, elektronischer Widersprüche zu (keine konkludente Widmung).

2. Weder die Verpflichtung nach § 2 EGoVG noch die seit 1.1.2018 geltende Fassung von § 84 SGG noch § 36a SGB I eröffnen den Zugang für gesicherte E-Mail-Widersprüche.

3. Die technische Möglichkeit zum Empfang verschlüsselter E-Mail-Widersprüche macht die Widmung zur Eröffnung des elektronischen Widerspruchsverfahrens nicht entbehrlich.

4. Rechtsbehelfsbelehrungen ohne Hinweis auf die Möglichkeit der Erhebung eines Widerspruchs in elektronischer Form sind nur dann fehlerhaft, wenn die zuständige Behörde den elektronischen Zugangsweg ausdrücklich oder konkludent eröffnet hat.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin fristgemäß Widerspruch gegen einen vorläufigen Bewilligungsbescheid erhoben hat.

Die in einer Berufsausbildung befindliche Klägerin hatte ergänzend zu Ausbildungsvergütung und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) Alg II beantragt und mit vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 1.6.2018 für den Zeitraum Mai bis Oktober 2018 Leistungen erhalten unter zusätzlicher Anrechnung von Zahlungen ihrer Mutter als Einkommen.

In der Rechtsbehelfsbelehrung dieses Bescheides wird lediglich darüber belehrt, dass der Widerspruch "schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle" einzulegen ist.

Zu der im Briefkopf des Bescheides genannten Stelle, dem Jobcenter Steglitz-Zehlendorf, findet sich u.a. die Angabe einer E-Mail-Adresse: "Zehlendorf.Team651@jobcenter.de"

Anhaltspunkte gegen einen zeitnahen Zugang des im Juni 2018 abgesandten Bescheides liegen nicht vor.

Das Ausbildungsverhältnis der Klägerin wurde im Rahmen einer arbeitsgerichtlichen Klage zum 28.2.2018 gegen Zahlung einer Abfindung von 2.100 EUR beendet. Das letzte Entgelt ging zusammen mit der Abfindung am 15.8.2018 auf das Konto der Klägerin (2.521 EUR) und wurde vom Beklagten mit vorläufigem Änderungsbescheid vom 27.9.2018 dergestalt angerechnet, dass ab September 2018 350 EUR (1/6 der Abfindung) monatlich sowie weiterhin Unterstützungszahlungen der Mutter als Einkommen angerechnet werden. Auch der Änderungsbescheid belehrt zum Widerspruch allein über die schriftliche Form und die Niederschrift auf der Behörde.

Am 15.10.2018 hatte die Klägerin schriftlich Widerspruch gegen den Bescheid vom 27.9.2018 erhoben, den der Beklagte hinsichtlich des Einwandes zur Anrechnung von Unterstützungszahlungen der Mutter als Einkommen als unzulässig verwarf; insoweit enthalte der Bescheid vom 27.9.2018 gegenüber dem Ausgangsbescheid vom 1.6.2018 keine konstitutive Regelung (Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018).

Den mit Fax vom 23.10.2018 erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid vom 1.6.2018 wies der Beklagte als verfristet zurück (Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018).

Am 17. Dezember 2018 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie geltend macht, bei den Unterstützungszahlungen ihrer Mutter handele es sich um Darlehen, die zum Teil mit der Abfindung zurückgezahlt worden seien. Ihre Mutter sei wirtschaftlich außerstande, Unterhalt zu zahlen.

Der Widerspruch sei fristgemäß erhoben worden, weil die 1jährige Frist nach § 66 Abs. 2 SGG gelte. Denn gegen die seit 1.1.2018 maßgebende Fassung von § 84 SGG habe der Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht darauf hingewiesen, dass auch in elektronischer Form nach § 36a SGB I Widerspruch erhoben werden könne.

Technisch verfüge der Beklagte über die Möglichkeit, eine verschlüsselte Mail empfangen zu können.

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,

den Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 1.6.2018 und 27.9.2018 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen ohne Anrechnung von Unterstützungszahlungen der Mutter als Einkommen zu gewähren.

Die Beklagtenvertreterin beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 1.6.2018 sei verfristet erhoben worden. Die Rechtsbehelfsbelehrung habe zutreffend auf die bestehenden Zugangswege für einen Widerspruch belehrt. Ein Zugang nach § 36a SGB I sei noch nicht eingerichtet worden.

Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die beigezogene Leistungsakte verwiesen.

Eine endgültige Bewilligung für den Zeitraum Mai bis Oktober 2018 liegt noch nicht vor.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand der Klage ist allein die Anrechnung von Unterstützungszahlungen der Mutter der Klägerin als Einkommen nach § 11 SGB II. Die Anrechnung sonstiger Geldzuflüsse im Bewilligungszeitraum wird nicht angefochten.

Der Änderungsbescheid vom 27.9.2018 ist als bloß wiederholende Verfügung, was die Anrechnung der Zahlungen der Mutter betrifft, nur hinsichtlich des Eintritts der Bindungswirkung des Bescheides vom 1.6.2018 (verspäteter Widerspruch) tangiert.

Die Klage ist zulässig, insbesondere fehlt es nicht an der Beschwer. Denn obwohl der Bewilligungszeitraum, über den die streitbefangenen Bescheide verfügen, bereits abgelaufen ist, hat die Klägerin ein schützenswertes Interesse daran, dass die Problematik, ob es sich bei den Zahlungen der Mutter um Unterhalt oder bloße Darlehen handelt, schon im Rahmen der vorläufigen Bewilligungen geklärt wird; zum einen ist die Dauer des Verwaltungsverfahrens bis zur endgültigen Festsetzung nicht absehbar oder droht wegen § 41a Abs. 5 SGB II sogar die Fiktion einer endgültigen Einkommensanrechnung, zum anderen ist die Vorläufigkeit der Bewilligung mit der noch unbestimmten Höhe der Unterstützungszahlungen, nicht mit dem Charakter dieser Zahlungen begründet worden, d. h. der Beklagte hat die Anrechnung als Einkommen nicht unter einen Vorbehalt gestellt. Die Klage ist daher grundsätzlich geeignet, eine auch für die endgültige Bewilligung maßgebliche Rechtsfrage schon abschließend zu klären (vgl. dazu LSG NRW vom 10.4.2015 - L 19 AS 288/15 B).

Die Klage ist aber nicht begründet. Denn der Beklagte verweist zu Recht auf die Bestandskraft bzw. Bindungswirkung der vorläufigen Einkommensanrechnung, da der Widerspruch nicht fristgemäß erhoben wurde (1) und Wiedereinsetzungsgründe nicht vorliegen (2).

(1)

Nach einhelliger Auffassung und überzeugender, vom erkennenden Gericht geteilter Auffassung des BSG ist eine Rechtsbehelfsbelehrung auch dann unrichtig - mit der Folge der Eröffnung der einjährigen Widerspruchsfrist nach § 66 Abs. 2 SGG, wenn sie unvollständig verfasst wird.

Unvollständig im genannten Sinn wäre die hier zu beurteilende Rechtsbehelfsbelehrung, wenn der Beklagte den nach § 84 SGG in der seit 1.1.2018 geltenden Fassung möglichen, elektronischen Zugangsweg nach § 36a Abs. 2 SGB I eröffnet hätte, ohne hierüber zu belehren (insoweit zutreffend SG Berlin vom 25.10.2018 - S 121 AS 10417/18 ER; LSG Schleswig-Holstein vom 20.12.2018 - L 6 AS 202/18 B ER).

Es kommt mithin darauf an, ob der Beklagte die elektronische Form der Widerspruchserhebung i.S.v. § 36a SGB I eröffnet hatte. Denn weder aus § 2 EGoVG, den entsprechenden Landesregelungen, noch § 84 SGG folgt unmittelbar der Zugang zum Widerspruch mit verschlüsselter E-Mail oder per DE-Mail-Postfach. Dazu bedarf es noch eines besonderen Widmungsaktes der zuständigen Behörde (Steinbach in: Hauck/Noftz, SGB,I § 36a Rn 5; Denkhaus/Richter/Bostelmann, § 2 EGovG, Rn. 26 ff).

Ob im Einzelfall eine das Widerspruchsverfahren erfassende Widmung vorliegt, muss nach überzeugender Rechtsprechung des BVerwG zu der § 36a SGB I gleichlautenden Regelung des § 3a VwVfG (BVerwG vom 7.12.2016 - 6 C 12/15) unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung ermittelt werden.

Insoweit wird die Auffassung vertreten, dass die Eröffnung elektronischer Kommunikation mit den Leistungsberechtigten, die auch der Beklagte ermöglicht hatte, eine konkludente Widmung beinhalte, die sich auch auf Rechtsbehelfe beziehe (SG Berlin vom 25.10.2018 - S 121 AS 10417/18 ER; LSG Schleswig-Holstein vom 20.12.2018 - L 6 AS 202/18 B ER).

Dem kann nach Auffassung der Kammer nicht gefolgt werden. Denn mangels einer unstreitig fehlenden, ausdrücklichen Zugangseröffnung, wie sie beispielsweise die Sozialämter Berlins mit exakter Bezeichnung einer E-Mail-Adresse für Widersprüche verlautbaren, könnte im vorliegenden Fall allenfalls die E-Mail-Adresse im Briefkopf des Bescheides als konkludente Widmung gewertet werden. Dieser Wertung steht aber entgegen, dass der Beklagte mit der auf analoge Zugangswege beschränkten Rechtsbehelfsbelehrung zumindest ebenso konkludent dokumentiert, dass er die Widerspruchseinlegung durch elektronische Dokumente (noch) nicht eröffnet hat.

Aus diesem Grund genügt weder die bloße Angabe einer E-Mail-Adresse im Briefkopf eines Bescheides, um auf eine konkludente Widmung zu schließen, die die Bereitschaft zur Entgegennahme von Widersprüchen in elektronischer Form umfasst (so auch VG Freiburg vom 30.1.2018 - 13 K 881/16), erst recht kann der Behörde die erforderliche Widmung, ein Willensentschluss, nicht über den rein technisch möglichen Empfang einer verschlüsselten E-Mail aufgezwungen werden; letztlich liefe dies auf eine bloße Widmungsfiktion hinaus, um die verzögerte Umsetzung der Verpflichtung aus § 2 EGoVG zu sanktionieren.

Es bleibt somit festzustellen, dass hier die reguläre Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheides gilt, die unstreitig nicht gewahrt wurde.

(2)

Wiedereinsetzungsgründe liegen nicht vor, insbesondere hat der Beklagte nicht den Eindruck erweckt, dass ein Widerspruch auch elektronisch erhoben werden könne. Auch insoweit gilt, dass der im Briefkopf aufgeführten E-Mail-Adresse kraft der vollständigen und eindeutigen Rechtsbehelfsbelehrung keine irreführende Wirkung beigemessen werden kann.

Die Klage musste daher abgewiesen werden.

Außerhalb einer Anfechtung des Urteils mit der Berufung kann die Klägerin über einen Antrag auf abschließende Feststellung ihres Hilfebedarfs im Zeitraum Mai bis Oktober 2018 (§ 41a Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 SGB II) eine inhaltliche Prüfung der Einkommensanrechnung bewirken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Haupt- sache.
Rechtskraft
Aus
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