S 3 AS 1283/18

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 3 AS 1283/18
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der SGB II Leistungsträger hat die Kosten für nicht ausleihbare Schulbücher nach § 21 Abs. 6 SGB II in verfassungskonformer Auslegung zu tragen.

2. Konflikte zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der Finanzierung der Schulbildung auch für Schüler, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, dürfen nicht auf dem Rücken der im SGB II-Leistungsbezug stehenden Schüler ausgetragen werden (BSG, Urteile vom 8. Mai 2019 - B 14 AS 6/18 R; B 14 AS 13/18 R; entgegen: BSG, Urteil vom 10. September 2013 - B 4 AS 12/13 R).

3. Der Bundesgesetzgeber hat in seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge) die Verantwortung zur Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums zu tragen. Diese Verantwortung ist über die der Kultushoheit der Länder einzuschätzen.
Der Bescheid vom 10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 (W 504/18) wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin weitere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von insgesamt 76,39 Euro zu zahlen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II).

Die 2003 geborene Klägerin lebt mit ihrer unter Betreuung stehende Mutter gemeinsam in der Gemeinde M ... Sie beziehen als Bedarfsgemeinschaft fortlaufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Mutter der Klägerin erhält Leistungen zur Eingliederung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.

Die Klägerin ist Schülerin am W.-R. Gymnasium in B ... Dort besuchte sie die 9. Klasse. Hierfür benötigte sie Schulbücher. Laut einer Schulbuchliste der Schule waren einige Bücher weder als Leih- noch als Schulexemplar zu nutzen. Diese Kaufexemplare beliefen sich auf insgesamt 76,39 Euro. Folgende Bücher waren von der Klägerin selbständig im Handel zu bestellen:

Duden 26,00 Euro,

Englisch, Workbook, Band 5, 8,75 Euro,

Geografie, Arbeitsheft, Klasse 9 3,95 Euro,

Französisch, Grammatisches Beiheft 7,95 Euro,

Französisch, Cahier d’activités 9,75 Euro,

Französisch, Wörterbuch 19,99 Euro.

Mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 gewährte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. November 2017 bis zum 31. Oktober 2018. Zusätzlich gewährte der Beklagte der Klägerin einen persönlichen Schulbedarf für den Monat August 2017 in Höhe von 70,00 Euro. Der Beklagte hatte für den Monat Februar 2017 bereits einen Betrag in Höhe von 30,00 Euro gewährt.

Unter dem 13. Juni 2018 beantragte die Betreuerin der Mutter per E-Mail die Übernahme der Schulbuchkosten für die Klägerin.

Mit "Schreiben" vom 14. Juni 2018 teilte der Beklagte der Betreuerin der Mutter der Klägerin mit, es müsse kein gesonderter Antrag auf Übernahme der Schulbuchkosten gestellt werden. Der Beklagte habe bereits mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 über die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf entschieden.

Mit Schreiben vom 3. Juli 2018 beantragte die Betreuerin der Mutter die Übernahme der Schulbuchkosten für die Klägerin. Aus dem Regelbedarf könnten die Kosten nicht bestritten werden, da der Regelsatz hierfür nur drei Euro monatlich vorsehe.

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs (Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Schulbüchern) mit Bescheid vom 10. Juli 2018 ab. Er habe der Klägerin bereits Leistungen für die Beschaffung von Schulbedarf gewährt. Weitere Schulmaterialen seien aus den Leistungen für den Regelbedarf zu finanzieren. Ein Mehrbedarf liege nicht vor.

Den dagegen erhobenen Widerspruch vom 23. Juli 2018 begründete die Klägerin dahingehend, dass die Kosten für die Schulbücher kein unabweisbarer Bedarf seien. Bereits das Bundesverfassungsgericht habe im Jahr 2010 entschieden, dass die notwendigen Ausgaben zur Erfüllung schulischer Pflichten zum existenziellen Bedarf von Kindern und Jugendlichen gehöre.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2018 zurück. Die Schulbücher seien aus dem Regelbedarf zu finanzieren. Dabei wären die Kosten bereits nach drei Monaten bei einer Rücklage von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs gedeckt. Der Regelbedarf sei eine Pauschale, die die Selbstverantwortung der Leistungsbezieher stärken solle. Eine darlehensweise Gewährung komme nicht in Betracht, da der Bedarf nicht unabweisbar sei. Es liege weder ein einmaliger noch ein Mehrbedarf vor. Die Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, mit welcher die Leistungen zugesprochen wurden, entfalte keine rechtliche Wirkung für den Fall der Klägerin.

Dagegen hat die Klägerin am 11. Oktober 2018 Klage vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben.

Der Beklagte habe die Kosten für die Beschaffung der Schulbücher zu tragen. Aus dem Regelbedarf könnten die Kosten nicht bestritten werden, da er der Höhe nach hierfür nicht ausgelegt sei. Bei den Schulbuchkosten handele es sich um einen unabweisbaren Bedarf.

Die Rechnung der Buchhandlung K. GmbH vom 9. August 2018 in Höhe von 76,39 Euro hat die Klägerin im Klageverfahren vorgelegt. Die Mutter der Klägerin hat im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 22. Februar 2019 zu Protokoll erklärt, dass sie den Betrag von 70,00 Euro für die Beschaffung von Schulmaterial (nicht aber für den Kauf von Schulbüchern) ausgegeben habe.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 (W 504/18) abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, den Klägerinnen weitere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von insgesamt 76,39 Euro zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte beruft sich auf seine Entscheidung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf den Verwaltungsvorgang und dabei insbesondere auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgang (Bl. 313 - 445), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

I.

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist unbegründet, § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG.

1.

Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 (W 504/18). Der Bescheid vom 25. Oktober 2017, mit welchem der Beklagte der Klägerin Leistungen für den persönlichen Schulbedarf gewährte, ist bestandskräftig geworden. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte nicht (konkludent) die Gewährung weiterer Leistungen (Übernahme der Kosten für Schulbücher) abgelehnt. Denn dieser Bedarf war dem Beklagten zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht bekannt gewesen. Vielmehr ist der Beklagte zunächst davon ausgegangen, mit der Gewährung von Leistungen für den persönlichen Schulbedarf den Bedarf der Klägerin gesichert zu haben. Allerdings ist der Antrag auf Gewährung weiteren Schulbedarfs in Form der Übernahme von Kosten für die Beschaffung der Schulbücher als Änderungs- bzw. Überprüfungsantrag zum Bewilligungsbescheid zu verstehen. Eine isolierte Leistungsgewährung ist im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht vorgesehen, weswegen auch der Bewilligungsbescheid vom 25. Oktober 2017 streitgegenständlich ist.

Das Schreiben des Beklagten vom 14. Juni 2018 ist nach Auslegung ein Verwaltungsakt. Ein Regelungscharakter ist insoweit enthalten, als dass der Beklagte im Ergebnis die Übernahme der Kosten für die Schulbücher ablehnt, insbesondere indem er auf seine Leistungsentscheidung mit Bescheid vom 25. Oktober 2018 verweist. Dieser Bescheid steht aber einer Gewährung weiterer Leistungen (Übernahme der Kosten für die Schulbücher) nicht entgegen. Die Klägerin hat einen erneuten Antrag mit Schreiben vom 3. Juli 2018 gestellt. Hierüber hat der Beklagte erneut, und zwar mit Bescheid vom 10. Juli 2018 entschieden. Hierbei handelt es sich um einen sogenannten Zweitbescheid, der den Bescheid vom 14. Juni 2018 ersetzt. Der Beklagte hat das Begehren der Klägerin erneut geprüft und nicht nur auf eine vorhergehende Entscheidung verwiesen, sondern sämtliche in Betracht kommende Anspruchsgrundlagen erörtert.

2.

Der Bescheid vom 25. Oktober 2017 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Schulbücher in Höhe von 76,39 Euro.

a)

Die Klägerin ist dem Grunde nach leistungsberechtigt im Sinne des SGB II. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhalten Leistungsberechtigte, die erwerbsfähig und hilfebedürftig sind. Die Klägerin bildet eine Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II. Sie beziehen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund des Bescheides vom 25. Oktober 2017.

b)

Die Klägerin hat - einen über den mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 festgestellten - höheren Leistungsanspruch.

Der Antrag vom 3. Juli 2018 ist ein Antrag auf Überprüfung der Leistungsbewilligung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialverwaltungsrecht und Sozialdatenschutz).

Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.

Die Änderung der Tatsachen ist mit Zahlung der Kosten für die Schulbücher im Monat August 2018 eingetreten. Hierzu hat die Klägerin im Klageverfahren eine nachvollziehbare Rechnung der Buchhandlung K. GmbH in Höhe von 76,39 Euro vorgelegt. Der Monat August 2018 ist von der Leistungsbewilligungsentscheidung mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 erfasst.

aa)

Ein Anspruch besteht nicht bereits aus § 28 SGB II. Nach § 28 SGB II werden Bedarfe bei Kindern und Jugendlichen für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft zusätzlich gewährt. Die Bedarfe umfassen nach § 28 Abs. 2 SGB II die tatsächlichen Aufwendungen für Schulausflüge (Nr. 1) und mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen (Nr. 2). Zu den Bedarfen für Bildung und Teilhabe gehören aber auch die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf (§ 28 Abs. 3 SGB II), die Kosten der Schülerbeförderung (§ 28 Abs. 4 SGB II), zusätzliche ergänzende angemessene Lernförderung (§ 28 Abs. 5 SGB II), die Teilnahme an der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung ( § 28 Abs. 6 SGB II) und die Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Musik, Kultur und Freizeit (§ 28 Abs. 7 SGB II).

Die hier zunächst in Betracht kommende Regelung des § 28 Abs. 3 SGB II - Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf - umfasst die Kosten für die Schulbücher nicht. Von der pauschalen Leistung in Höhe von insgesamt 100,00 Euro für das Schuljahr sind die Schulbücher nicht zu finanzieren (vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 104). Die Pauschale dient dem Erwerb von Gegenständen zur persönlichen Ausstattung für die Schule, beispielsweise Schulranzen, Schulmaterialen und Sportsachen, und für Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterialen, beispielsweise Füller, Tintenpatronen, Bleistifte, Malstifte, Hefte, Blöcke, Papier, Lineal, Buchhüllen, Taschenrechner und Geodreieck (vgl. BT-Drs. 17/3404 und 16/10809).

bb)

Die Kosten für die Schulbücher sind - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht aus dem Regelbedarf finanzierbar. Zwar hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass die Pauschale des Regelbedarfs auch "Bücher und Broschüren" umfasst. Mit dem Beklagten übereinstimmend soll die Pauschale das selbständige Wirtschaften befördern. Diese Flexibilität ermöglicht grundsätzlich auch über den in dem Regelbedarf vorgesehenen Anteil hinaus Ausgaben zu tätigen. Vermieden werden muss jedoch eine evidente Bedarfsunterdeckung (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09. Die Klägerin musste im Monat August 2018 zwingend die Ausgaben für die Beschaffung von Schulbüchern tätigen. Diese Bücher konnte die Klägerin nicht ausleihen, weil es sich hierbei um sogenannte Arbeitshefte handelt. Für diesen Monat war der Bedarf der Klägerin unterdeckt.

cc)

§ 73 SGB XII kann als Auffangnorm für die Übernahme der Schulbuchkosten nicht herangezogen werden. § 73 SGB XI kann gerade nicht als allgemeine Auffangregelung für Leistungsempfänger nach dem SGB II "mutieren". Zudem liegt eine atypische Bedarfslage im Sinne des § 73 SGB XII gerade nicht vor, da der Schulbedarf ein Bedarf im Sinne des SGB II ist (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 19. August 2010 - B 14 AS 13/10 R).

dd)

Der Anspruch auf Übernahme der Kosten für Schulbücher begründet sich auf § 21 Abs. 6 SGB II.

Nach § 21 Abs. 6 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht.

Der Kauf von Pflichtexemplaren an Schulbüchern fällt in einem Schuljahr nur einmal an. Innerhalb eines Bewilligungszeitraums, der in der Regel auf 12 Monate festgelegt ist, entsteht er in der Regel ebenfalls nur ein einziges Mal. In anderer Höhe dürfte er aber im nächsten Schuljahr erneut anfallen (für die Annahme eines einmaligen Bedarfs: vgl. Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11. Dezember 2017 - L 11 AS 349/17). Dies darf aber nicht der Maßstab sein. Denn dann würde die Norm für Schüler einer Abschlussklasse nicht mehr anwendbar sein. Damit greift § 21 Abs. 6 SGB II dem Wortlaut nach nicht. Hier bedarf es einer verfassungskonformen Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II (so BSG, Urteile vom 8. Mai 2019 - B 14 AS 6/18 R; B 14 AS 13/18 R - nur Terminbericht). Denn das Bundesverfassungsgericht hat 2010 entschieden, dass es einer Härtefallregelung bedarf - die dann zum 3. Juni 2010 durch den Bundesgesetzgeber eingeführt worden war -, um Sondersituationen, in denen ein höherer überdurchschnittlicher Bedarf auftritt, und sich der Regelbedarf als unzureichend erweist, Rechnung zu tragen (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1BvL 3/09, 1 BvL 4/09).

Nur unter diesem Aspekt ist eine verfassungskonforme Auslegung gerechtfertigt. Bedenklich erscheint sie im Hinblick auf das in der Bundesrepublik geltende Föderalismusprinzip. Die Regelungen des Schulrechts verbleiben in der Gesetzgebungskompetenz der Länder, Art. 70 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Hierbei haben sich einige Bundesländer für und einige gegen die sogenannte Lernmittefreiheit entschieden, bei der Schüler keine Aufwendungen für ihre für den Schulunterricht benötigten Lernmittel einschließlich der Schulbücher und Arbeitsmaterialien haben sollen. Die verfassungskonforme Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II mit dem Ziel einer Kostentragung durch den SGB II-Träger führt letztendlich zu einer Verlagerung der Finanzierung dieser Kosten auf den Bund.

Noch im Jahr 2013 hat das Bundessozialgericht entschieden dass die Deckung von Bedarfen für den Schulunterricht, die der Durchführung des Unterrichts selber dienen, in der Verantwortung der Schule liege. Die Verantwortung dürfe von den Schulen oder Schulträgern nicht auf das Grundsicherungssystem abgewälzt werden (BSG, Urteil vom 10. September 2013 - B 4 AS 12/13 R).

Nunmehr hat das Bundessozialgericht mit seiner letzten Entscheidung im Jahr 2019 - und insoweit folgt die Kammer einer verfassungskonformen Auslegung - betont, dass der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge) die Verantwortung für die Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums trägt. Diese Gesetzgebungskompetenz wäre über die der Kultushoheit der Länder einzuschätzen. Konflikte zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der Finanzierung der Schulbildung auch für Schüler, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, dürfen nicht auf dem Rücken der im SGB II-Leistungsbezug stehenden Schüler ausgetragen werden.

Der Bedarf ist deswegen unabweisbar, weil die Klägerin die Bücher für den Schulunterricht benötigt. Die unentgeltliche Ausleihe war nicht möglich. Dies ergibt sich aus der vorliegenden Bücherbestellliste der Schule. Nachvollziehbar ist die Unmöglichkeit einer Ausleihe, da in die Arbeitshefte von den Schülern hineingeschrieben wird. Die Arbeitsmaterialen können dann nicht mehr von einem anderen Schüler verwendet werden. Dies macht eine Ausleihe quasi unmöglich. In Sachsen-Anhalt gilt anders als beispielsweise in Sachsen nicht die Lernmittelfreiheit. Die Schüler müssen die nicht ausleifähigen Arbeitsbücher käuflich erwerben.

II.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

III.

Der Beschwerdewert liegt unter 750,00 Euro, so dass die Berufung nicht von Gesetzes wegen zulässig ist, § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Zum Zeitpunkt der hiesigen Kammerentscheidung hat das Bundessozialgericht zwar bereits mit Urteilen vom 8. Mai 2019 entschieden (B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R). Dabei war eine Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zurückgewiesen worden. Die Entscheidungsgründe lagen bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung im hiesigen Verfahren noch nicht vor. Daher war die Berufung (noch) zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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