S 38 AS 2700/19 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
38
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 38 AS 2700/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig für die Zeit 29.06.2019 bis zum 28.12.2019 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen.

Gründe:

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Insbesondere streiten sie darum, ob der Antragstellerin zu 2. wegen ihres Schulbesuches aufgrund von Art. 10 der VO 492/2011 ein originäres Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland und der Antragstellerin zu 1. ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht.

Die Antragstellerinnen sind eine 19xx geborene Mutter und ihre 20xx geborene Tochter. Beide sind bulgarische Staatsangehörige.

Die Antragstellerinnen leben seit November 2015 wieder in der Bundesrepublik Deutschland; von 2012-2015 haben sie in Bulgarien gelebt.

Am 18.02.2019 stellte die Antragsgegnerin eine Notwendigkeitsbescheinigung gemäß § 22 SGB II für den Umzug in die jetzige Wohnung aus.

Am 01.03.2019 bezogen die Antragstellerinnen ihre Wohnung in D. Sie ist 40,18 m² groß und dafür ist ein monatlicher Mietzins i.H.v. 250 EUR zu begleichen.

Zuvor haben sie im Frauenhaus bzw. in der Jugendschutzstelle in E. gelebt. Hintergrund war, dass es in F., dem vorherigen Wohnsitz der Antragstellerinnen, aufgrund des Lebensgefährten der Mutter zu Gewalttätigkeiten kam.

Durch Schreiben des Vermieters vom 23.4.2019 wurde die Kündigung bezüglich der Wohnung in D. erklärt, weil die Antragstellerin zu 1. mit der Miete 780 EUR im Rückstand war. Gleichzeitig wurde das Mietverhältnis zum 31.07.2019 gekündigt. Laut telefonischer Auskunft des Vermieters hat die Antragstellerin zu 1. seit März 2019 noch keine Miete bezahlt. Am 03.07.2019 hat der Vermieter wohl nochmals fristlos gekündigt. Die Antragstellerinnen scheinen aber noch weiterhin in ihrer Wohnung am E.platz Hausnummer x in D. zu wohnen; eine Räumungsklage ist noch nicht erhoben worden.

Ausweislich der Schulbescheinigung vom 20.05.2019 besuchte die Antragstellerin zu 2. die eine Sekundarschule R. Ihr Schulbesuch soll voraussichtlich bis zum 31.7.2022 andauern.

Den Antragstellerinnen bewilligte die Antragsgegnerin durch Bescheid 21.06.2019 Leistungen nach dem SGB II aufgrund eines nachwirkenden Arbeitnehmerstatus der Mutter nach dem SGB II vom 1.3.2019 bis 12.3.2019 i.H.v. 278,10 Euro. Laut Arbeitsbescheini-gung arbeite die Antragstellerin zu 1. als Reinigungskraft in der Zeit vom 14.06.2018 bis 12.09.2018 in F. Aufgrund der Kündigung der Arbeitnehmerin (Antragstellerin zu 1.) wurde das Arbeitsverhältnis beendet.

Am 17.05.2019 hat die Antragstellerin zu 1. wohl eine Beschäftigung als Obstsortiererin aufgenommen.

Durch Bescheid vom 21.06.2019 lehnte die Antragsgegnerin einen Leistungsanspruch der Antragstellerinnen ab 13.03.2019 ab. Die ablehnende Entscheidung wurde auf § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II gestützt.

Am 29.06.2019 haben die Antragstellerinnen durch ihre Prozessbevollmächtigte einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Antragstellerin zu 1. aufgrund des originären Aufenthaltsrechts der Tochter, die die Schule besucht, eine abgeleitetes Aufenthaltsrecht besitze. Deshalb seien beide leistungsberechtigt und nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II erfasst.

Die Antragstellerinnen beantragen, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellerinnen vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und geht aufgrund aktueller Weisungen davon aus, dass der Schulbesuch der 14-jährigen Tochter nicht zu Bezug von SGB II-Leistungen berechtige.

II.

Der statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begrün-det. Statthaft ist ein Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag, der gemäß § 86b Abs. 3 SGG bereits vor Klageerhebung zulässig ist, zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie eines Anordnungsgrundes, d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, voraus. Anordnungsan-spruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 3, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO). Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ wahrscheinlich ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände alles für diese Möglichkeit spricht. Die mit einer einstweiligen Anordnung auf die Durchführung einer Maßnahme in der Regel verbundene Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache erfordert darüber hinaus erhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes. Da der einstweilige Rechtsschutz trotz des berechtigten Interesses des Rechtssuchenden nicht zu einer Vorverlagerung der Entscheidung des Hauptsacheverfahrens führen darf, ist für eine gerichtliche Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz das Vorliegen einer gegenwärtigen und dringenden Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht, erforderlich. Eine solche besondere Eilbedürftigkeit, die den Anordnungsgrund kennzeichnet, wird bejaht, wenn dem Antragsteller bei Versagen des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Verletzung seiner Rechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, droht. Es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe dem entgegenstehen (Bundesverfassungsgericht, Be-schluss vom 16.05.1995, 1 BVR 10 87/91).

Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in Anfechtungs- und Vornahmesachen dürfen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache gestützt werden (vergl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6.8.2014, 1 BvR 1453/12, und vom 6. 2.2013, 1 BvR 2366/12; LSG NRW, Beschluss vom 14.09.2017; L 21 AS 1459/17 B ER, L 21 AS 1460/17 B, juris, Rn. 32 ff.). Soweit existenzsichernde Leistungen infrage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch hierbei weniger streng zu beurteilen; die Folgenabwägung hat unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragstellerinnen zu erfolgen (Bundesverfassungsge-richt, Beschluss vom 12.1.2005, 1 BvR 569/05). Ferner kann sich die summarische Prüfung, insbesondere bei schwierigen Fragen, sich auch auf Rechtsfragen beziehen (Kel-ler, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12. Aufl. 2017, § 86 b Rn. 16), wobei dann die Interessen und die Folgenabwägung stärkeres Gewicht gewinnt. Hierbei ist dem Gewicht der infrage stehenden gegebenenfalls miteinander abzu-wägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeiten zu verhindern (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13.04.2010, 1 BvR 116/07).

Steht eine ungeklärte unionsrechtliche Rechtsfrage im Raum, bei der im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den Gerichtshof naheliegt, kann sich das Tatsachengericht nicht mehr mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten zufrieden geben, sondern es ist eine Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Antragstellerinnen vorzunehmen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17.1.2017, 2 BvR 2013/16, juris, Rn. 18 und 23).

Nach diesen Maßstäben kommt die Kammer zu einer Abwägung der Interessen der An-tragstellerinnen an einer Gewährung existenzsichernder Leistungen mit dem von der Antragsgegnerin vertretenen öffentlichen Interessen zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerinnen im Wege der Regelungsanordnung zur vorläufigen Leistungsgewährung im tenorierten Umfang zu verpflichten ist.

Grund hierfür ist der Beschluss des Landessozialgerichts NRW vom 14.2.2018, Az. L 19 AS 1104/18 ER B, mit dem eine Vorabentscheidung dem Europäischen Gerichtshof vor-gelegt wurde. Es soll geklärt werden, ob der Ausschluss von Unionsbürgern, die über ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Richtlinie 492/2011 verfügen, vom Bezug von Sozialhil-feleistungen im Sinne von Art. 24 Abs. 2 EGRL 38/2004 mit dem Gleichbehandlungsge-bot aus Art. 18 AEUV i.V.m. Art. 10 und Art. 7 EUV 492/2011 vereinbar ist.

Die Antragstellerinnen erfüllen zwar die Anspruchsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, werden jedoch von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB II erfasst. Die Kammer verkennt ihre Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG nicht. Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung ist sie aber von Verfassungswegen ebenfalls verpflichtet, in die Abwägung den Umstand einzubeziehen, dass gegen den nationalen Leistungsaus-schluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB II gewichtige europarechtliche Bedenken erhoben werden. Ob diese Bedenken durchgreifen, wird sich im Ergebnis erst nach einer entsprechenden Befassung des Europäischen Gerichtshofs mit ihnen zeigen.

Bei der gebotenen Interessenabwägung ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass ein in anderen Sachverhaltskonstellationen möglicherweise in Betracht kommende andere Sozialleistungen nach dem SGB XII hier von vornherein ausscheiden, weil Bulgarien auch kein Unterzeichnerstaat des Europäischen Fürsorgeabkommens ist (LSG NRW, Beschluss vom 14.09.2017, L 21 AS 1459/ 17 B ER).

Die Antragstellerinnen erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen eines Leistungsanspruchs nach Alter, Erwerbsfähigkeit, gewöhnlichem Aufenthalt und Hilfebedürftigkeit gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II.

Die Antragstellerinnen werden von dem gesetzlichen Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB II erfasst. Danach sind EU-Ausländer sowie ihre Familienangehörigen von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen, die ihr Aufent-haltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe B aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union ableiten, von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgeschlossen.

Die Antragstellerinnen leiten ihr Aufenthaltsrecht allein aus Art. 10 der Freizügigkeitsverordnung ab. Der Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin zu 1. wirkt nach dem 13.03.2019 nicht mehr fort.

Die Antragstellerin zu 2. ist 14 Jahre alt und besucht derzeit die Sekundarschule in D., so dass sie aufgrund des Schulbesuches ein originäres Aufenthaltsrecht besitzt.

Art. 10 Abs. 1 der Freizügigkeitsverordnung lautet:

Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats im allgemeinen sowie an der Lehrlings- und Berufsausübung teilnehmen. Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die den Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzu-nehmen."

Die Antragstellerin zu 1. hat bereits in der Bundesrepublik Deutschland abhängig gearbeitet, besitzt die alleinige elterliche Sorge für die Antragstellerin zu 2., die die Schule besucht.

Die Kammer geht deshalb davon aus, dass Antragstellerin zu 2. ein originäres Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage von Art. 10 der Freizü-gigkeitsverordnung besitzt (EuGH, Urteil vom 23.02.2010, C-310/08).Die Antragstellerin zu 1. besitzt ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

Aufgrund der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte geht deshalb die Kammer davon aus, dass die Antragstellerin zu 2. ein originäres Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Freizügigkeitsverordnung und die Antragstellerin zu 1. ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland besitzt. Aufgrund der vorzunehmenden Folgenabwägung hält es die Kammer deshalb für gerechtfertigt, dass die Antragsgegnerin vorläufig zur Erbringung von Leistungen nach dem SGB II verpflich-tet wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und trägt dem Unterliegen der Antragsgegnerin Rechnung.

Bei der Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen eines Eilantrages ist auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz - hier 29.6.2019 - abzustellen. Die Dauer der vor-läufigen Bewilligung ist regelmäßig auf sechs Monate, also bis zum 28.12.2019, zu beschränken.
Rechtskraft
Aus
Saved