L 15 SO 15/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 195 SO 1733/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 15/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass Unionsbürger, die - zugleich - Staatsangehörige eines Signatarstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens - wie hier Italien - und gemäß den §§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II), 23 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII, idF ab 29. Dezember 2016), wegen der Art ihres materiellen Freizügigkeitsrechts oder des Fehlens eines materiellen Freizügigkeitsrechts von Leistungen zur Sicherung des laufenden Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe ausgeschlossen sind, aufgrund der Inländergleichstellung des EFA einen Anordnungsanspruch auf einstweilige Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt aus der Sozialhilfe haben können (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017, Az. L 15 SO 104/17 B ER).
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Januar 2019 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zum Lebensunterhalt dem Grunde nach für die Zeit seit Zugang dieses Beschlusses per Telefax bis zum 30. Juni 2019, längstens bis zum Eintritt der Bestandskraft in der Hauptsache, zu gewähren. Für Zeiten des Aufenthaltes des Antragstellers in einem Krankenhaus sind lediglich Leistungen der Krankenhilfe zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Antragsteller, der italienischer Staatsbürger ist, wendet sich mit seiner Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Januar 2019, mit dem dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner oder den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. Arbeitslosengeld II zu zahlen.

Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet. Der Antragsteller hat Anspruch auf - vorläufige - Bewilligung von Leistungen der Sozialhilfe für die Zeit ab der Entscheidung des Senats, begrenzt bis zum 30. Juni 2019.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist. Dem Antragsteller sind Leistungen auf Grund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05, dokumentiert in juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: "Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern" (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26). Die Entscheidung in der Hauptsache hängt hier von schwierigen, bisher höchstrichterlich nicht abschließend entschiedenen Rechtsfragen ab, insbesondere davon, ob das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA; juris: EuFürsAbk) auch dann gilt, wenn dem Antragsteller kein materielles Aufenthaltsrecht zusteht. Für den Senat ist ein Anspruch des Antragstellers auf Hilfe zum Lebensunterhalt aufgrund der Inländergleichstellung des Art. 1 EFA hinreichend wahrscheinlich. Nach dieser Vorschrift verpflichtet sich jeder der Vertragschließenden des EFA, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge ("Fürsorge") zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Als "Fürsorge" ist dabei gemäß Art. 2 EFA jede Fürsorge bezeichnet, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teil seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass Unionsbürger, die - zugleich - Staatsangehörige eines Signatarstaats des EFA - wie hier Italien - und gemäß den §§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II), 23 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII, idF ab 29. Dezember 2016), wegen der Art ihres materiellen Freizügigkeitsrechts oder des Fehlens eines materiellen Freizügigkeitsrechts von Leistungen zur Sicherung des laufenden Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe ausgeschlossen sind, aufgrund der Inländergleichstellung des EFA einen Anordnungsanspruch auf einstweilige Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt aus der Sozialhilfe haben können (vgl. Landessozialgericht - LSG - Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017, Az. L 15 SO 104/17 B ER, dokumentiert in juris und zu finden unter www.sozialgerichtsbarkeit.de; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Juli 2018, Az. L 28 AS 1066/18 B ER, nicht veröffentlicht). Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Frage, wann ein Aufenthalt "erlaubt" ist im Sinn des Art. 1 EFA, zwar in mehreren Entscheidungen dahingehend beantwortet, dass ein materielles Aufenthaltsrecht notwendig ist, so zuletzt im Urteil vom 9. August 2018 (Az. B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 34) mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung des BSG. Dies widerspricht jedoch nach Auffassung des Senats der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) als für die Frage von Aufenthaltsrechten von Ausländern zuständigem obersten Bundesgericht. Nach dessen Rechtsprechung spricht bei Unionsbürgern eine Vermutung für ein Freizügigkeitsrecht, welche (erst dann) nicht greift, wenn gegen die Betroffenen eine bestandskräftige und weiterhin wirksame Ausweisungsverfügung ergangen ist, die mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot verknüpft ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016, Az. 1 C 13.16, juris Rn. 20 = BVerwGE 157, 34; so auch Urteile vom 16. Juli 2015, Az. 1 C 22/14, juris Rn. 12 = Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4; sowie vom 11. Januar 2011, Az. 1 C 23/09, juris Rn. 12 = BVerwGE 138, 353). Dies entspricht nach den Gesetzesmaterialien auch der Auffassung der Bundesregierung. Sie hat im Gesetzentwurf zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 7. Februar 2003, Bundestags-Drucksache 15/420, Seite 106, zu § 11 Absatz 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) ausgeführt: "Auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nicht oder nicht mehr nach Gemeinschaftsrecht freizügigkeitsberechtigt sind und auch kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 5 genießen, findet dieses Gesetz keine Anwendung, sondern die Betroffenen unterliegen dem allgemeinen Ausländerrecht. Entsprechend dem Grundsatz, dass Unionsbürger und ihre Angehörigen weitestgehend aus dem Geltungsbereich des allgemeinen Ausländerrechts herausgenommen werden, setzt dies einen - nicht notwendigerweise unanfecht-baren - Feststellungsakt der zuständigen Behörde voraus. Damit gilt für den in § 1 beschriebenen Personenkreis zunächst eine Vermutung der Freizügigkeit". Für den Antragsteller ist keine wirksame Ausweisungsverfügung ergangen. Für ihn besteht daher die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts, so dass auch das EFA für ihn anwendbar sein dürfte, da sein Aufenthalt damit als erlaubt gelten würden. Die in Rede stehende Frage ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht endgültig zu klären, so dass ein Folgenabwägung vorzunehmen ist. Diese geht im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers aus. Da er nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt und insbesondere die notwendigen medizinischen Behandlungen anderweitig zu sichern, sind die Nachteile, die ihm entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nachgekommen würde und er für einen längeren Zeitraum unterhalb des Existenzminimums leben müsste, sehr viel gravierender als die Nachteile der öffentlichen Hand, die rein fiskalischer Natur sind und die entstehen würden, wenn dem Antragsteller Leistungen zu bewilligen wären, auf die er nach endgültiger Prüfung keinen Anspruch hätte. Selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, dass das EFA für den Antragsteller nicht greift, wären ihm Leistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII zu gewähren. Nach dieser Vorschrift werden Leistungsberechtigten nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von § 23 Abs. 1 SGB XII gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Sozialgerichts, dass über Leistungen auf Grund der Härtefallregelung nicht zu befinden sei, weil es sich um einen anderen Streitgegenstand handeln würde. Der Antragsteller hat um Leistungen nachgesucht, die sein Existenzminimum betreffen. Unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes ist daher über sämtliche Leistungen zu befinden, die das Existenzminimum sicherstellen sollen. Die Befassung mit den Härtefallleistungen scheitert auch nicht an einem fehlenden Antrag. Ein solcher ist nicht erforderlich, sondern es gilt auch hier der Kenntnisgrundsatz des § 18 SGB XII. Kenntnis von der Notlage, auch der Erkrankung des Antragstellers, hat der Antragsgegner bereits seit längerem, da er ihm ja auch bereits auf Grund des Beschlusses des 28. Senats des LSG Berlin-Brandenburg Leistungen zu gewähren hatte.

Auf Grund der Angaben der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B vom S. Krankenhaus Berlin in dem vom Senat eingeholten Befundbericht vom 28. Februar 2019 wären, sofern nicht nach Auffassung des Senats bereits das EFA greifen würde, dem Antragsteller Leistungen auf Grund der Härtefallregelung zu gewähren, dann in dem in § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII geregelten Umfang. Frau Dr. B hat ausgeführt, dass der Antragsteller gesundheitlich nicht in der Lage ist, Deutschland zu verlassen und sich nach Italien oder Tunesien zu begeben. Sofern er dies dennoch müsste, würden die Dekompensation der psychischen Grunderkrankung drohen mit Psychosen, Suizidalität, Fehlhandlungen, sozialer Desintegration, Verwahrlosung und Hilflosigkeit. Dies ist ausreichend, um eine Härte anzunehmen. Das Ermessen wäre auf Null reduziert. Insbesondere wenn wegen der Notwendigkeit von unaufschiebbaren Krankenbehandlungsmaßnahmen das Recht auf Leben (Gesundheit) und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz berührt ist, muss die Erbringung von entsprechenden Leistungen bei Mittellosigkeit gewährleistet sein; das Ermessen ist dann auf Null reduziert (BSG, Urteil vom 18. November 2014, Az. B 8 SO 9/13 R, juris Rn. 28 = SozR 4-3500 § 25 Nr. 5, allerdings zu § 23 SGB XII in der vor dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung).

Da der Antragsteller sich zurzeit im Krankenhaus aufhält und nicht absehbar ist, wann er dieses wird verlassen können und ob nicht auch danach weitere Krankenhausaufenthalte notwendig werden, hat der Senat nur zu Leistungen dem Grunde nach verpflichtet. Für die Zeit des Krankenhausaufenthaltes sind keine weiteren Leistungen als Krankenhilfe zu gewähren, da der Antragsteller im Krankenhaus verköstigt wird. Sofern er entlassen wird, sind ihm dann Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und ggfs. Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren bzw. die Kosten der Unterbringung in einem Wohnheim.

Der Beginn der Leistungen war auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats festzulegen. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller zur Abwendung einer Notlage dringend auf Leistungen auch für die Zeit vor der Entscheidung des Senats angewiesen ist, sind nicht ersichtlich. Insoweit war die Beschwerde zurückzuweisen.

Die einstweilige Anordnung war nur bis zum 30. Juni 2019 vorzunehmen, damit möglichen Änderungen Rechnung getragen werden kann. Für den darüber hinausgehenden Antrag war die Beschwerde ebenfalls zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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