S 7 SO 552/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SO 552/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Leitsätze: Eine positive Feststellung der vollen dauerhaften Erwerbsminderung ist während des Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) nicht notwendig, um einen Grundsicherungsanspruch zu begründen. Die volle Erwerbsminderung kann vielmehr fingiert werden.

Orientierungssätze: § 45 Satz 3 SGB XII bedeutet eine Einschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes, nicht aber eine Beschränkung des in § 41 SGB XII abschließend definierten Personenkreises der Grundsicherungsberechtigten. Sinn und Zweck der Vorschrift ist ausschließlich die Vermeidung von Doppelbegutachtungen und der damit verbundenen Belastungen für die Betroffenen und finanziellen Aufwendungen der öffentlichen Hand. Bei § 45 SGB XII handelt es sich dem Wesen nach um eine verfahrensrechtliche Bestimmung , nicht aber um eine anspruchsbegründende oder anspruchsbegrenzende Bestimmung. Der Grundsicherungsanspruch kann nicht deswegen abgelehnt werden, weil eine Begutachtung der Erwerbsfähigkeit noch nicht stattgefunden hat und aktuell nach § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII auch nicht zulässig wäre.
1. Der Bescheid des Beklagten vom 16.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.1.2018 wird aufgehoben. 2. Der Beklagte wird dem Grunde nach verpflichtet, der Klägerin Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII ab dem 1.7.2017 zu bewilligen. 3. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von laufenden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII ab Juli 2017.

Die am 19 ... geborene Klägerin ist an Trisomie 21 ("Down-Syndrom") erkrankt. Dies äußert sich in einer geistigen Behinderung. Bei der Klägerin besteht ein genereller geistiger Entwicklungsrückstand; außerdem eine Hörstörung und sprachliche Artikulationsstörung. Die Klägerin ist als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und den Merkzeichen G und B anerkannt. Die Pflegeversicherung hat bei ihr einen Pflegegrad von 4 (vormals Pflegestufe 2) festgestellt.

Die Eltern der Klägerin sind für sie als Betreuer bestellt. Die Klägerin lebt im Haushalt ihrer Eltern in M., gemeinsam mit zwei weiteren Geschwistern. Die Familie bewohnt ein Eigenheim, für das monatliche Kosten (Heizkosten, sonstige Nebenkosten sowie Zins und Tilgung für einen zur Renovierung des Hauses aufgenommenen Kredit) von monatlich 1.209,20 EUR entstehen. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern der Klägerin sind nicht bekannt.

Die Klägerin wurde am 12.12.2016 in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), dem Werkzentrum S. e. V. in M., aufgenommen, den sie seither absolviert. Zuvor besuchte sie ein Sonderschulzentrum.

Die Klägerin bezieht monatlich 728,00 EUR Pflegegeld von der Pflegeversicherung sowie 75,24 EUR Ausbildungsgeld im Rahmen von Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben nach dem SGB III von der Bundesagentur für Arbeit. Ihre Eltern beziehen für sie Kindergeld. Die Klägerin verfügt über ein Sparguthaben, welches im Juli 2017 2.915,31 EUR betrug.

Am 28.7.2017 beantragte die Mutter der Klägerin als Betreuerin für diese die Gewährung von laufenden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII beim Beklagten.

Mit Bescheid vom 16.10.2017 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die beantragte Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung im Sinne des § 41 Abs. 3 SGB XII könne nicht gewährt werden, weil nicht feststehe, das die Klägerin tatsächlich auf Dauer voll erwerbsgemindert im Sinne des Rentenversicherungsrechts sei. Dies werde in der Regel durch eine Begutachtung durch den Rentenversicherungsträger auf Ersuchen des Sozialhilfeträgers hin geklärt, § 45 Abs. 1 SGB XII. Diese Ersuchen sei aber vorliegend nicht erfolgt, weil es für Personen, die – wie die Klägerin – den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM durchlaufen, nach § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII nicht gestellt werden könne. Es sei vielmehr das Ergebnis dieser Phase abzuwarten. Sie diene gerade dazu, das individuelle Leistungsvermögen des Betroffenen auszuloten. Erst an deren Ende gebe der Fachausschuss der Werkstatt eine entsprechende Stellungnahme ab. Dem könne nicht vorgegriffen werden. Die positive Feststellung des Vorliegens einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer – als Voraussetzung für einen Grundsicherungsanspruch - könne daher erst nach Abschluss des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs der WfbM erfolgen. Die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII komme ebenfalls nicht in Betracht. Denn Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II seien diesen gegenüber vorrangig. Soweit die Einkommens- und Vermögenssituation der Familie der Klägerin dies erforderlich mache, könnten die Eltern der Klägerin gemeinsam mit ihren Kindern als Bedarfsgemeinschaft Arbeitslosengeld II nach dem SGB II beim Jobcenter beantragen. Auch ein Anspruch auf Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) komme in Betracht. Leistungen nach dem SGB XII könnten aber nicht gewährt werden.

Am 2.11.2017 legte die Mutter der Klägerin als Betreuerin für diesen Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.10.2017 ein. Der Beklagte verneine rechtsfehlerhaft den Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung, weil er annehme, dass das Vorliegen oder Fehlen voller Erwerbsminderung der Klägerin nicht ermittelt werden könne bzw. dürfe, weil nach § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII kein Ersuchen zur Begutachtung an den Rentenversicherungsträger gestellt werden könne. Richtigerweise sei aber ein entsprechendes Ersuchen deswegen nicht nötig, weil bereits von voller Erwerbsminderung der Klägerin auf Dauer auszugehen sei. Dafür sprächen ihre Behinderung sowie die Tatsache, dass sie überhaupt in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM aufgenommen worden sei. Denn die Mehrzahl dieser Personen arbeite anschließend in einer WfbM weiter, weil sie in der Tat voll erwerbsgemindert seien. Für die Annahme voller Erwerbsminderung spreche auch der Vergleich mit den weiteren Fallgruppen des § 45 Satz 3 SGB XII. Bei sämtlichen dort genannten Personengruppen finde kein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger statt, weil ihre volle Erwerbsminderung bereits in anderem Kontext positiv festgestellt worden sei, oder aber weil aufgrund von anderen Umständen von einer vollen Erwerbsminderung auszugehen sei. Das gleiche müsse daher auch für Personen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich gelten. Diese seien andernfalls für bis zu zwei Jahre und drei Monate von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, was gegenüber bereits regulär in einer WfbM arbeitenden Behinderten oder nicht bzw. noch nicht in eine WfbM aufgenommenen Behinderten eine gravierende Benachteiligung und damit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstellen würde. Zwar könnte die Klägerin – als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern – einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II haben; dies hinge aber – anders als im Rahmen der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des SGB XII – von der Einkommens- und Vermögenssituation der Eltern ab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.1.2018 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die fehlende Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung der Klägerin könne nicht fingiert werden. Dies lasse sich § 45 Satz 3 SGB XII nicht entnehmen. Sämtlichen der dortigen weiteren Fallgruppen, bei denen ein Begutachtungsersuchen an die Rentenversicherung entbehrlich ist, sei gemeinsam, dass bereits eine anderweitige fachlich fundierte Beurteilung vorliege, die sichere Schlüsse auf die Erwerbsfähigkeit zulasse. Dies sei aber gerade zu Beginn des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer WfbM noch nicht der Fall. Der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/9984, S. 101ff.) lasse sich ein anderslautender Wille des Gesetzgebers ebenfalls nicht entnehmen. Die bis zum 30.6.2017 geltende Rechtslage, nach der der Personenkreis der Klägerin nicht in § 45 Satz 3 SGB XII aufgeführt war, aber gleichwohl aufgrund entsprechender Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keine Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII erhielt, sollte sich in der Sache nicht ändern. Auch der Sinn und Zweck des Eingangs- und Berufsbildungsverfahrens würde ins Leere laufen, wenn bei allen Betroffenen von Anfang an volle Erwerbsminderung auf Dauer angenommen würde. Denn Ziel dieser Maßnahme sei, die Leistungs- bzw. Erwerbsfähigkeit der Betroffenen nicht zu festzustellen, sondern auch – soweit möglich – aktiv zu erhalten, zu entwickeln bzw. wiederherzustellen. Das Ergebnis dieses Prozesses könne nicht vorweggenommen werden. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG sei nicht erkennbar.

Am 31.1.2018 hat die Mutter der Klägerin als Betreuerin für diese Klage beim Sozialgericht Freiburg erhoben.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid des Beklagten vom 16.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.1.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin laufende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII ab dem 1.7.2017 zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die mit der Klage angefochtenen Bescheide für rechtsfehlerfrei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Vortrag der Beteiligten im Verfahren sowie auf die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte des Beklagten (Stand 5.2.2018), die das Gericht zum Verfahren beigezogen hat, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht erhoben und als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft nach § 54 Abs. 1 SGG.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat dem Grunde nach ab dem 1.7.2017 einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII gegen den Beklagten.

Der anderslautende Bescheid des Beklagten vom 16.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.1.2018 ist daher rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Der Anspruch beruht auf § 8 Nr. 2, § 17 Abs. 1, § 19 Abs. 2, §§ 41 ff. SGB XII, nach denen volljährige, auf Dauer voll erwerbsgeminderte Personen Grundsicherungsleistungen erhalten, wenn sie nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen bedürftig sind. Neben den hier nicht streitigen weiteren Voraussetzungen - Volljährigkeit und gewöhnlicher Aufenthalt im Inland – sind sich die Beteiligten uneinig darüber, ob die Klägerin auf Dauer voll erwerbsgemindert ist bzw. ob dies unterstellt oder vermutet werden kann. Eine abschließende Prüfung der Bedürftigkeit der Klägerin hat der Beklagte nicht vorgenommen; die Bedürftigkeit erscheint aber wahrscheinlich (siehe dazu unten).

Die dauerhafte volle Erwerbsminderung im Sinne des Grundsicherungsrechts (§ 41 Abs. 3 SGB XII bestimmt sich nach den Vorschriften des Rentenversicherungsrechts (§ 43 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB VI). Gemeint sind demnach Personen, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Die volle Erwerbsminderung auf Dauer wird im Rahmen eines Antrags auf Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII nicht vom Sozialhilfeträger, sondern vom Rentenversicherungsträger festgestellt. Der Sozialhilfeträger richtet zu diesem Zweck ein Begutachtungsersuchen an den Rentenversicherungsträger (§ 45 Satz 1 SGB XII). Die Feststellungen des Rentenversicherungsträgers sind, damit es nicht zu abweichenden Beurteilungen ein und desselben Sachverhalts kommt, für den Sozialhilfeträger bindend (§ 45 Satz 2 SGB XII).

Ein solches Ersuchen ist im vorliegenden Fall nicht gestellt worden. Eine Prüfung der Erwerbsfähigkeit bzw. Erwerbsminderung der Klägerin durch den Rentenversicherungsträger hat bislang – auch in einem andere Kontext - nicht stattgefunden.

Es ist aber gleichwohl aktuell von einer vollen Erwerbsminderung der Klägerin auf Dauer auszugehen.

Die positive Feststellung dieses Umstandes kann allerdings nicht bereits aus ihrer Behinderung gefolgert werden. Zwar ist die Klägerin ausweislich der vorliegenden Unterlagen (GdB von 100 mit Merkzeichen G und B, Bl. 29ff. der Verwaltungsakte; Attest des behandelnden Arztes Dr. R. vom 28.10.2015 über die Notwendigkeit "dauerhafter Hilfe in allen Lebensbereichen", Bl. 27 der Verwaltungsakte; Pflegegrad 4 (vormals Pflegestufe 2) in der gesetzlichen Pflegeversicherung, Bl. 99 der Verwaltungsakte) erheblich behindert. Das genaue Ausmaß der daher naheliegenden Erwerbsminderung nach den Maßstäben des Rentenversicherungsrechts ergibt sich daraus aber nicht mit der erforderlichen Sicherheit.

Auch kann allein aus der Aufnahme der Klägerin in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM noch nicht positiv auf die volle dauerhafte Erwerbsminderung der Klägerin geschlossen werden. Für die Klägerin wird zwar vorgetragen, dass die Mehrheit der Personen, die diese Phase durchlaufen, anschließend auch im regulären Arbeitsbereich der WfbM tätig werden und daher nach § 45 Satz 3 Nr. 3 2. Alternative SGB XII als auf Dauer voll erwerbsgemindert gelten. Zwingend ist dieser Übergang jedoch nicht. Im Gegenteil verzeichnen die WfbM im Durchschnitt Abgänge aus dem laufenden Eingangs- und Berufsbildungsbereich von zwischen 25 und 40 %. Wohin sich diese Personen, die nicht in den Arbeitsbereich wechseln, stattdessen orientieren, wird statistisch nicht erhoben. Insbesondere ist unbekannt, wie viele dieser Personen "doch" auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig werden können und daher nicht voll erwerbsgemindert sind, und wie viele dieser Personen aufgrund der Schwere ihrer Behinderung dagegen "nicht einmal" in einer WfbM tätig werden können. Bekannt ist dagegen, dass im Anschluss an die vollständig absolvierte Berufsbildungsphase lediglich 2 – 3 % der Betroffenen in den ersten Arbeitsmarkt übergehen (Quelle: Bericht der Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik gGmbH "Entwicklung der Zugangszahlen in Werkstätten für behinderte Menschen" im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 2008, insb. S. 87 und S. 123 - www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/forschungsbericht-f383.pdf? blob=publicationFile). Mangels belastbarer Datengrundlage ist die Aufnahme der Klägerin in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM daher ein Indiz aber kein positiver Beweis für ihre volle dauerhafte Erwerbsminderung.

Der Beklagte beruft sich darauf, dass ein Begutachtungsersuchen nach § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII derzeit nicht zulässig wäre. Einschränkungen in der Erwerbsfähigkeit der Klägerin seien daher aus Rechtsgründen derzeit nicht feststellbar. Damit sei aber auch die Tatbestandsvoraussetzung der vollen Erwerbsminderung auf Dauer nach § 41 Abs. 3 SGB XII, § 43 Abs. 3 SGB VI nicht positiv feststellbar, so dass ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII nicht bejaht werden könne.

Nach Auffassung des Gerichts trifft es zu, dass ein entsprechendes Ersuchen an den Rentenversicherungsträger aktuell nicht statthaft wäre. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII, nach dem das Ersuchen bei denjenigen Personen unterbleibt, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Eingangs- und Berufsbildungsbereich durchlaufen. Der Beklagte hat daher zu Recht abgelehnt, zum derzeitigen Zeitpunkt ein entsprechendes Ersuchen zu stellen.

Nach Auffassung des Gerichts zieht der Beklagte allerdings daraus den fehlerhaften Schluss, dass eine volle Erwerbsminderung der Klägerin auf Dauer aktuell gar nicht angenommen werden könne. Der Beklagte versteht § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII als anspruchsbegrenzende Norm, die den Personenkreis der nach § 41 SGB XII Grundsicherungsberechtigten einschränkt. Diese Auslegung geht nach Auffassung des Gerichts aber fehl. Eine positive Feststellung der vollen dauerhaften Erwerbsminderung der Klägerin ist während ihres Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs der WfbM nicht notwendig, um einen Grundsicherungsanspruch zu begründen. Sie kann vielmehr – entgegen der Auffassung des Beklagten - fingiert werden, so dass die Klägerin aktuell zum anspruchsberechtigten Personenkreis der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des SGB XII gehört.

Der Beklagte beruft sich darauf, dass die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit von Personen, die in eine WfbM aufgenommen werden, der zum Ende der Eingangs- und Berufsbildungsphase vorgesehenen Stellungnahme des Fachausschusses der WfbM vorbehalten bleibt. Diese Beurteilung dürfe nicht vorweggenommen werden. Das Gericht versteht aber §§ 41, 45 SGB XII nicht so, dass bei Personen, die in eine WfbM aufgenommen wurden, der Grundsicherungsanspruch überhaupt erst nach Abschluss der Eingangs- und Berufsfindungsphase erstmalig entstehen kann. Zwar ist dem Beklagten zuzustimmen, dass ausgerechnet in dieser Phase, die nicht nur der Evaluierung, sondern – im Rahmen der jeweiligen individuellen Möglichkeiten – auch dem Ausbau und der Steigerung des Leistungsvermögens der Betroffenen dient – eine positive Feststellung voller Erwerbsminderung auf Dauer in der Regel noch nicht möglich und auch nicht sinnvoll wäre. Dem ist entgegenzuwirken, indem die volle dauerhafte Erwerbsminderung währen dieser Phase lediglich fingiert wird. Die Gefahr der Vorwegnahme der Beurteilung durch den Fachausschuss besteht dann nicht, weil es sich ja– mangels positiven Feststellungen – gerade nur um eine Fiktion handelt. Dies kann zur Folge haben, dass im Anschluss an die Eingangs- und Berufsbildungsphase – nach positiver Feststellung des Ausmaßes der Erwerbsfähigkeit durch den Fachausschuss zu diesem Zeitpunkt – der Grundsicherungsanspruch eines Betroffenen wieder entfällt. Einen generellen Ausschluss aller Personen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich hat der Gesetzgeber aber nach Überzeugung des Gerichts nicht beabsichtigt.

Gegen eine solche Intention des Gesetzgebers (im Sinne der Auslegung des Beklagten) spricht zunächst die generelle Systemwidrigkeit dieser Konstruktion.

Falls man § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII in der Tat als leistungsbegrenzenden Tatbestand auslegt, würde daraus folgen, dass einem tatsächlich von Anfang an bereits dauerhaft voll erwerbsgeminderten Betroffenen während einer Eingangs- und Berufsbildungsphase in der WfbM ggf. Leistungen verwehrt würden, obwohl er alle notwendigen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt; allein deswegen, weil das Gesetz – in Abweichung vom Amtsermittlungsgrundsatz - dem Leistungsträger verwehrt, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen (hier: die volle Erwerbsminderung auf Dauer) zu prüfen. D. h. der Sozialhilfeträger wäre ggf. aufgrund einer reinen Verfahrensvorschrift genötigt, in der Sache eigentlich berechtigte Ansprüche abzulehnen. Eine solche Zirkelschluss-Konstruktion ist der Sozialhilfe nach dem SGB XII (und generell dem Recht der sozialen Sicherung) fremd und wäre auch rechtsstaatlich bedenklich (so auch SG Augsburg, Urteil vom 16.2.2018, Az. S 8 SO 143/17 – juris).

In der Tat bedeutet § 45 Satz 3 SGB XII eine Einschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes. Die Intention dieser Einschränkung ist allerdings nicht die Beschränkung des eigentlich in § 41 SGB XII abschließend definierten Personenkreises der Grundsicherungsberechtigten an sich. Sinn und Zweck der Vorschrift ist vielmehr die Vermeidung von Doppelbegutachtungen und der damit verbundenen Belastungen für die Betroffenen und finanziellen Aufwendungen der öffentlichen Hand. Der Vorschrift liegt daher ein reiner Effizienzgedanke zugrunde. Denn in den Fallgruppen Nr. § 45 Satz 3 Nr. 1 und Nr. 2 SGB XII wird eine (erneute) Begutachtung durch den Rentenversicherungsträger durch eine frühere Begutachtung aus einem Renten- bzw. Grundsicherungsverfahren ersetzt. In den Fallgruppen des § 45 Satz 3 Br. 3 2. Alternative und Nr. 4 SGB XII wird die rentenversicherungsrechtliche Begutachtung durch gleichwertige, ebenso fachkompetente Begutachtungen von anderer Seite ersetzt. Einen darüber hinausgehenden Sinn erfüllt die Regelung nicht. Dies stützt die Auffassung des Gerichts, dass es sich bei § 45 SGB XII dem Wesen nach um eine verfahrensrechtliche Bestimmung handelt, nicht aber um eine anspruchsbegründende oder anspruchsbegrenzende Bestimmung in Form einer Modifikation des von § 41 Abs. 3 SGB XII als leistungsberechtigt normierten Personenkreises.

Auch weitere systematische Erwägungen sprechen gegen die Auslegung des Beklagten und für eine Fiktion der vollen dauerhaften Erwerbsminderung. Denn bei allen anderen Fallgruppen des § 45 Satz 3 SGB XII, einschließlich der zweiten Alternative der Nummer 3, wird von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer ausgegangen, ohne dass eine (erneute) gutachterliche Feststellung erfolgt. In dieser Systematik würde die vom Beklagten vertretene Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII einen Fremdkörper darstellen. Denn nach der vom Beklagten vertretenen Auffassung hätte die Entbehrlichkeit des Begutachtungsersuchens für die Fallgruppe der Klägerin (§ 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII) völlig andere Rechtsfolgen als für alle anderen Personengruppen des § 45 Satz 3 SGB XII. Während § 45 Satz 3 SGB XII für alle anderen Gruppen das Antragsverfahren in der Grundsicherung erleichtert und beschleunigt, würde er für die Gruppe der Klägerin das Gegenteil, nämlich einen generellen Anspruchsausschluss, bewirken. Wäre dies tatsächlich die Absicht des Gesetzgebers gewesen, hätte es nahegelegen, die sprachlich klarzustellen; entweder durch eine explizite entsprechende Wortwahl oder zumindest durch eine separate Regelung. Dass dies nicht geschehen ist, spricht dafür, dass der Gesetzgeber die Personengruppe der Klägerin gerade gleich behandeln wollte wie die übrigen Fallgruppen des § 45 Satz 3 SGB XII und nicht als einzige Personengruppe anders (so auch SG Augsburg, Urteil vom 16.2.2018, Az. S 8 SO 143/17 – juris).

Zu der Frage der Vereinbarkeit dieser Auffassung mit der Gesetzesbegründung im Übrigen hat das SG Augsburg (a. a. O.) folgendes ausgeführt:

"Die vom Beklagten angewandte Rechtsauslegung, die nicht von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer ausgeht, ist zwar zuzugeben, dass sie mit dem Wortlaut der neuen Nummer 3 des § 45 Satz 3 SGB XII in Einklang zu bringen ist. Ebenso steht ihr die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/9984) nicht zwingend entgegen. Dort ist die Rede davon, dass die Dauerhaftigkeit einer Erwerbsminderung erst nach Beendigung des Berufsbildungsbereichs festgestellt werden könne und deswegen kein Ersuchen auf gutachterliche Feststellung der Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderung erfolge. Allerdings ergibt sich nach Ansicht des Gerichts aus der Gesetzesbegründung nicht der vom Beklagten bzw. dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales gezogene Schluss, dass in dieser Phase des Aufenthalts in einer WfbM gerade bzw. noch nicht von der Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung auszugehen sei. Alleine deutlich zu sehen ist, dass der Gesetzgeber die Amtsermittlungspflicht des Sozialhilfeträgers dahin einschränken wollte, dass dieser sich nicht an den Rentenversicherungsträger zu wenden hat. Mit anderen Worten können also aus der Begründung der Neuregelung und aus ihrem Wortlaut keine zwingenden Schlüsse für die eine oder andere Ansicht gezogen werden. Beides wäre damit vereinbar."

Dieser Auffassung schließt sich das hier erkennende Gericht nach eigener Prüfung ausdrücklich an.

Zuletzt sieht das Gericht seine Auslegung des § 45 Satz 3 SGB XII auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, als geboten.

Denn wie für die Klägerin zutreffend vorgetragen worden ist, wäre es durchaus denkbar, dass bei einem jungen behinderten Menschen bereits eine Feststellung der vollen dauerhaften Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger oder eine ähnlich kompetente Stelle getroffen wurde, bevor er in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM aufgenommen wurde. In diesem Fall müssten dem Betroffenen Grundsicherungsleistungen nach §§ 41 SGB XII gewährt werden, ohne dass ein sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung – im Vergleich zur Klägerin - vorläge. Es hinge dann in der Tat im Wesentlichen vom Zufall ab, bei welcher Person schon zuvor ein Begutachtungsanlass aufgetreten war und bei wem noch nicht, was unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG zumindest bedenklich wäre.

Dies ist im Übrigen – anders als der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 15.1.2018 nahezulegen scheint - kein theoretisches Problem, sondern dürfte häufig auftreten. Nach statistischen Erhebungen des Dachverbandes "Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG:WfbM)" sind etwa die Hälfte aller neu in eine WfbM aufgenommenen Personen "Quereinsteiger", die zuvor schon Berührung mit dem ersten Arbeitsmarkt bzw. mit dem Rentenversicherungsträger hatten und bei denen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit schon ein Begutachtungsanlass vorlag (Quelle: Jahresbereicht 2017 der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG:WfbM), www.rehadat-statistik.de/de/berufliche-teilhabe/WfbM/BAG WfbM/index.html).

In der Gesamtschau der Argumente stellt sich die Auffassung des Beklagten, dass die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII bei der Fallgruppe der Klägerin nicht überprüfbar und daher als nicht gegeben anzusehen sind, als nicht vertretbar dar. Nach Überzeugung des Gerichts ist § 45 Satz 3 Nr. 3 1. Alternative SGB XII nur so unproblematisch anzuwenden, dass das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen ohne weitere Ermittlungen des Sozialhilfeträgers oder des Rentenversicherungsträgers während der Eingangs- und Berufsfindungsphase in der WfbM zu fingieren sind; eine Präjudizwirkung für die abschließende Stellungnahme des Fachauschusses der WfbM ist damit nicht verbunden.

Die Klägerin ist daher grundsätzlich anspruchsberechtigt nach § 41 SGB XII.

Da der konkrete Bedarf sowie das ggf. anzurechnende Einkommen bisher nicht ermittelt wurde und der Streit der Beteiligten sich ausschließlich um die grundsätzliche Leistungsberechtigung der Klägerin dreht, beschränkt sich das Gericht analog § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG (zu dieser Möglichkeit: BSG, Urteil vom 9.12.2016, B 8 SO 15/15 R - juris) auf eine Verpflichtung des Beklagten zur Leistungsgewährung dem Grunde nach. Es ist allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit für den streitigen Zeitraum davon auszugehen, dass die Klägerin hilfebedürftig ist, denn ihr Einkommen in Form des Ausbildungsgeldes nach dem SGB III von 75,24 EUR monatlich sowie des Kindergeldes von 194,00 EUR dürfte den voraussichtlichen Bedarf (Regelleistung 409,00 EUR (2017) bzw. 416,00 EUR (2018) zzgl. Kosten der Unterkunft) unterschreiten. Das vorhandene Vermögen von ca. 2.900,00 EUR liegt deutlich unter dem der Klägerin nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 der DurchführungsVO zu § 90 SGB XII zustehenden Freibetrag von 5.000,00 EUR und ist daher nicht zu berücksichtigen. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern der Klägerin sind nach § 43 Abs. 6 SGB XII bzw. in Ermangelung einer dem § 27 Abs. 2 Satz 3 SGB XII entsprechenden Vorschrift im Grundsicherungsrecht nicht relevant.

Die Leistungspflicht des Beklagten beginnt am 1.7.2017, da der für die Klägerin am 28.7.2017 gestellte Antrag auf den Monatsbeginn zurückwirkt, § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII.

Der Klage war daher in dem soeben dargelegten Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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