L 5 P 86/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 27 P 229/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 P 86/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 2/19 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 23.06.2017 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 23.12.2014 und vom 18.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2015 verurteilt, dem Kläger für die Zeit von Juli 2013 bis Oktober 2014 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe I in Form von Pflegegeld für die Zeit von Juli 2013 bis Oktober 2014.

Der am 00.00.2003 geborene Kläger, der bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert ist, erkrankte an einem bösartigen Hirntumor (anaplastisches Medulloblastom). Nach Erstdiagnose am 29.05.2013 (im Klinikum S und sofortiger Verlegung) erfolgte eine neurochirurgische Tumorentfernung am 31.05.2013 (Freitag) in der Uni-Klinik L.

Zu einem Erstkontakt mit dem Sozialdienst der Klinik kam es am 03.06.2013. Die für den Kläger zuständige Mitarbeiterin des Sozialdienstes war die Zeugin N. Am 07.06.2013 fand ein ärztliches Aufklärungsgespräch statt, an dem neben dem Kläger und seinen Eltern Prof. Dr. T - Leiter der Pädiatrischen Onkologie und Hämatologie der Uni-Klinik L - und die Zeugin N teilnahmen.

Die Entlassung des Klägers aus der stationären Behandlung erfolgte am 10.06.2013. Zum Beginn bzw. zur Durchführung und Überwachung einer anschließenden kombinierten Strahlen-/Chemotherapie wurde der Kläger nochmals in den Zeiträumen vom 24. bis 28.06.2013 vom 17. bis 19.07.2013 und vom 05. bis 08.08.2014 in der Uni-Klinik L aufgenommen. Im Übrigen erfolgte die Anschlusstherapie im Wege tagesklinischer Behandlung.

Zu Hause wurde der Kläger von seinen Eltern betreut und gepflegt, wobei in der Zeit von Sommer 2013 bis September 2014 eine Unterstützung durch eine Haushaltshilfe stattfand. Die Kosten dafür trug der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung des Klägers ebenso wie die Kosten einer im August 2013 erfolgten Versorgung mit einem Rollstuhl.

In der Zeit vom 20.10. bis 17.11.2014 absolvierte der Kläger (gemeinsam mit seinen Eltern) eine familienorientierte stationäre Reha-Maßnahme. Anlässlich eines Infoabends in der Reha-Klinik erfuhren die Eltern des Klägers von der Möglichkeit, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung für den Kläger zu erhalten.

Sie stellten am 18.11.2014 für den Kläger einen Antrag auf Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung (insbesondere Pflegegeld) bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten. Dabei baten sie gleichzeitig um Prüfung, ob auch für die vergangene pflegeintensive Zeit Leistungen gewährt werden könnten.

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten zog den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) hinzu, der in einem Gutachten vom 18.12.2014 zu dem Ergebnis kam, dass bei dem Kläger seit November 2014 die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt seien (täglicher Grundpflegebedarf 81 Minuten; davon 25 Minuten bei der Körperpflege, 18 Minuten bei der Ernährung und 38 Minuten bei der Mobilität).

Mit Bescheid vom 23.12.2014 bewilligte die Rechtsvorgängerin der Beklagten dem Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe I für die Zeit ab dem 18.11.2013.

Im Widerspruchsverfahren wandte der Kläger dagegen ein, Pflegebedürftigkeit sei kurz nach Aufnahme der Bestrahlungstherapie aufgetreten. So habe er etwa nur noch im Bett gelegen, sei zu Toilette getragen worden u.s.w. Leider sei er vom Sozialdienst der Uni-Klinik L nicht auf die Möglichkeit hingewiesen, Pflegegeld zu beantragen. Die Zahlungen stünden ihm jedenfalls ab Mitte Juli 2013 zu.

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten holte eine ergänzende Stellungnahme beim MDK ein. Darin heißt es, bei der Schwere der Erkrankung und einem aktuellen grundpflegerischen Hilfebedarf von 81 Minuten täglich sei die Pflegestufe I ab Juli 2013 nachvollziehbar (Stellungnahme vom 13.02.2015).

Mit Teilabhilfebescheid vom 18.03.2015 führte die Rechtsvorgängerin der Beklagten aus, der MDK habe Pflegebedürftigkeit ab Juli 2013 festgestellt. Die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung würden auf Antrag gewährt. Werde der Antrag später als einen Monat nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit gestellt, würden die Leistungen vom Beginn des Monats der Antragstellung an gewährt (§ 33 Abs. 1 S. 2 SGB XI). Damit könne der Kläger ausgehend von der Antragstellung am 18.11.2014 Pflegegeld ab dem 01.11.2014 - nicht jedoch früher - erhalten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.10.2015 wies die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Widerspruch (im Übrigen) zurück.

Am 06.11.2015 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Köln erhoben. § 33 (Abs. 1 S. 2) SGB XI schließe es nicht aus, Leistungen auch für die Zeit vor Antragstellung zu gewähren, wenn - wie hier - ein Härtefall vorliege. Nicht nur der Sozialdienst der Uni-Klinik L habe es pflichtwidrig versäumt, auf die Möglichkeit der Antragstellung hinzuweisen. Auch der (Rechtsvorgängerin der) Beklagten hätten mit Blick auf die Bewilligung der Haushaltshilfe und des Rollstuhls hinreichende Informationen vorgelegen, aus denen sie auf eine Pflegebedürftigkeit des Klägers hätte schließen müssen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 23.12.2014 und vom 18.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2015 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit von Juli 2013 bis Oktober 2014 Leistungen mindestens nach der Pflegestufe I zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch wenn etwa dem Antrag auf Gewährung einer Haushaltshilfe der Entlassungsbericht der Uni-Klinik L vom 08.07.2013 beigefügt gewesen sei, habe die damalige Informationslage keine Rückschlüsse auf eine Pflegebedürftigkeit des Klägers zugelassen. Es liege weder ein eigener noch ein ihr zurechenbarer (ärztlicher) Pflichtverstoß (der Uni-Klinik L) vor.

Das Sozialgericht hat bei der Uni-Klinik L angefragt, ob die Eltern des Klägers um ihr Einverständnis gebeten worden seien, die Beklagte über eine etwaige sich abzeichnende Pflegebedürftigkeit des Klägers zu informieren. Der Antwort (der Zeugin N) vom 23.08.2016 lässt sich entnehmen, dass nicht versucht worden ist, ein entsprechendes Einverständnis der Eltern des Klägers einzuholen. Hinsichtlich der Einzelheiten der Ausführungen der Zeugin N wird auf Blatt 35 der Gerichtsakte verwiesen.

Ferner hat das Sozialgericht zwei Erörterungs-/Beweisaufnahmetermine durchgeführt. In dem ersten (Erörterungs-) Termin am 17.06.2016 sind die Eltern des Klägers näher zu den konkreten Abläufen bzw. den Kontakten mit Mitarbeitern der Uni-Klinik L befragt worden. Sie haben u.a. angegeben, dass sie relativ frühzeitig darauf hingewiesen worden seien, einen Schwerbehindertenausweis für den Kläger beantragen zu können. Dies hätten sie damals aber noch nicht für nötig gehalten. Im Juni 2013 - vor Beginn der Bestrahlungen - sei ihnen außerdem mitgeteilt worden, dass sie eine Haushaltshilfe beantragen könnten, was sie dann auch getan hätten. Über eine Pflegestufe sei aber nie geredet worden.

In dem zweiten Termin (zur Erörterung des Sachverhaltes und) zur Beweisaufnahme am 20.01.2017 ist die Zeugin N zur Frage der Beratung des Klägers bzw. seiner Eltern gehört worden. Wegen des Inhalts und des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme im Einzelnen wird auf Blatt 56 bis 58 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Mit Urteil vom 23.06.2017- der Klägerbevollmächtigten zugestellt am 26.07.2017 - hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen:

Ausgehend von der (förmlichen) Antragstellung im November 2014 komme eine Zuerkennung von Pflegegeldleistungen vor dem 01.11.2014 nicht in Betracht (§ 33 Abs. 1 SGB XI).

Der Kläger sei auch im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches nicht so zu behandeln, als habe er den Antrag bereits im Juli 2013 gestellt.

Nach § 7 Abs. 2 S. 1 SGB XI hätten die Pflegekassen zwar eine Beratungspflicht, die jedoch nur beim Vorliegen konkreter, den Eintritt von Pflegebedürftigkeit nahelegender Umstände ausgelöst werde. Die bloße Kenntnis einer medizinischen Diagnose oder die Verschreibung eines Aktivrollstuhls reiche hierfür im vorliegenden Fall nicht aus. So sei etwa der Verschreibung des Rollstuhls nicht zu entnehmen, wofür konkret bzw. in welchem Umfang dieser benötigt werde. Es könne daher dahinstehen, ob sich die Beklagte die Kenntnis der Krankenkasse zurechnen lassen müsse.

Auch aus § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI lasse sich eine den Herstellungsanspruch begründende (Beratungs-)Pflichtverletzung nicht herleiten. Denn nach den überzeugenden Ausführungen der Zeugin N hätten der Uni-Klinik L keine Erkenntnisse über die Pflegebedürftigkeit des Klägers vorgelegen. Die Zeugin habe dargelegt, der Fall des Klägers sei im Rahmen der sog. Mittwochsgespräche häufiger behandelt worden. Dabei habe ihr der Pflegebereich nicht signalisiert, dass nach dortiger Einschätzung Pflegebedürftigkeit im Sinne der gesetzlichen Pflegeversicherung vorgelegen habe. Weiter habe die Zeugin bekundet, es sei von ihr damals alles installiert worden, was nach ihrer Auffassung habe installiert werden können. Ferner habe sie ausgeführt, im Rahmen des Vorabgesprächs werde u.a. über sozialrechtliche Belange gesprochen, wobei üblicherweise auch die Pflegestufe thematisiert werde. Sie gehe davon aus, dass dies im vorliegenden Fall ebenfalls so gewesen sei. Konkrete Unterlagen darüber habe sie aber nicht. Früher habe sie in ihren Unterlagen nicht ausformuliert, dass eine entsprechende Beratung stattgefunden habe. Unter Berücksichtigung dieser Angaben der Zeugin könne es nicht als erwiesen angesehen werden, dass die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch erfüllt seien.

Dagegen richtet sich die am 23.08.2017 eingelegte Berufung des Klägers. Unter Aufrechterhaltung seines Vorbringens im Übrigen ist er der Meinung, im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches so gestellt werden zu müssen, als habe er Pflegegeldleistungen bereits im Juli 2013 beantragt. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB XI seien erfüllt. Aus der Vernehmung der Zeugin ergebe sich nichts anderes. Sie habe sich nicht an den Einzelfall erinnern können. Im Übrigen habe sie lediglich bekundet, mit den Eltern des Klägers u.a. auch über Leistungen aus der Pflegeversicherung gesprochen zu haben.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 23.06.2017 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 23.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2015 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 01.07.2013 bis zum 31.10.2014 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Der Senat hat eine Auflistung der von dem Kläger über seine Krankenkasse in der Zeit von Mai 2013 bis November 2014 in Anspruch genommenen Leistungen beigezogen.

Ferner ist Beweis erhoben worden durch die nochmalige Vernehmung der Zeugin N im Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.11.2018. Zum Inhalt und zum Ergebnis dieser Zeugenvernehmung wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift Blatt 128 bis 130 der Gerichtsakten.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird verwiesen auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Akten (Verwaltungsvorgänge der Beklagten, Verwaltungsvorgänge der Krankenkasse, Patientenakte der Uni-Klinik L), der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

A) Die zulässige Berufung ist begründet.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe I, den er zulässigerweise im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 4 SGG) geltend machen kann, in dem Zeitraum von Juli 2013 bis Oktober 2014 zu.

Gegenstand der Klage sind die Bescheide vom 23.12.2014 und 18.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2015 (§ 95 SGG). Diese formell rechtmäßigen Bescheide sind materiell rechtwidrig und der Kläger ist dadurch beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

Der Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 SGB XI (in der hier maßgebenden bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung - a.F.) hängt neben einer entsprechenden Antragstellung (dazu III.) davon ab, ob der Kläger im streitigen Zeitraum schon pflegebedürftig gewesen ist (dazu I.) und die Pflege in geeigneter Weise selbst sichergestellt hat (dazu II.).

I. Die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit sind (spätestens) seit Juli 2013 erfüllt.

Pflegebedürftig sind gemäß § 14 Abs. 1 SGB XI a.F. Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen der Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürften. Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen sind gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI a.F.:
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,
4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung, das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Für die Gewährung von Leistungen sind pflegebedürftige Personen gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 SGB XI a.F. einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XI a.F. Personen, die bei der Grundpflege für wenigstens zwei Verrichtungen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Person für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt gemäß § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI a.F. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.

Bei der Feststellung des Zeitaufwandes ist gemäß § 15 Abs. 3 S. 2 SGB XI ein Zeitaufwand für erforderliche verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zu berücksichtigen, wobei für Kinder besondere Maßstäbe bei der Ermittlung des Pflegebedarfs gelten (vgl. dazu die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches, Stand: 2013, D 4.0 / III. / 9).

Durch das Gutachten des MDK vom 18.12.2014 sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 13.02.2015 ist hinreichend belegt und von der Beklagten jedenfalls bis zur Entscheidung des Senates am 15.11.2018 nicht bestritten, dass der Kläger schon im Juli 2013 - und danach durchgehend - die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllte. Obwohl das Gutachten und die ergänzende Stellungnahme in verhältnismäßig großem zeitlichen Abstand zu dem Beginn des hier fraglichen Zeitraums erstellt wurden, sind die dort gezogenen Schlüsse insbesondere mit Blick auf die aktenkundigen Berichte der Uni-Klinik L und den daraus ersichtlichen Krankheitsverlauf plausibel. So sind den Unterlagen neben den belastenden Therapiemaßnahmen noch weitere Komplikationen wie etwa ein Infekt im Juli 2013 sowie eine Nierenfunktionsstörung zu entnehmen. Zusätzlich wird die Nachhaltigkeit der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers durch die Chemotherapie dadurch deutlich, dass er noch bis einschließlich Juli 2016 Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten hat.

II. Dass die hauswirtschaftliche und grundpflegerische Versorgung des Klägers - abgesehen von den Zeiten der (teil-)stationären Aufenthalte - durch seine Eltern in geeigneter Weise sichergestellt wurde, ergibt sich nachvollziehbar aus dem Klagevortrag und dem Gutachten des MDK vom 18.12.2014. Dies wird von der Beklagten auch nicht angezweifelt.

III. Die (verspätete) Antragstellung am 18.11.2014 steht einer Leistungsgewährung bereits ab Juli 2013 nicht entgegen.

Nach den gesetzlichen Vorgaben des § 33 Abs. 1 (S. 3) SGB XI kommt - wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat - eine Gewährung von Pflegegeld vor dem 01.11.2014 ausgehend von einer Antragstellung im November 2014 zwar nicht in Betracht. Der Kläger ist jedoch nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches so zu behandeln, als hätte er den Antrag bereits entsprechend früher gestellt.

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt voraus (vgl. dazu im Einzelnen etwa Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: 100. EL Juni 2018, vor § 38 SGB I Rn. 141 ff.), dass einem Versicherten (hier dem Kläger) durch eine Pflichtverletzung eines Leistungsträgers oder eines Dritten (hier der Beklagten/Uni-Klinik L) (dazu 1.), ein Nachteil entstanden sein muss (dazu 2.).

1. Als Pflichtverletzungen werden insbesondere eine fehlerhafte Beratung oder Auskunft (§§ 14, 15 SGB I) sowie eine fehlerhafte Aufklärung (§ 13 SGB I) angesehen (vgl. dazu Seewald a.a.O. Rn. 143 ff., 151, 154), wobei es auch denkbar ist, dass sich der zuständige Leistungsträger unter bestimmten Voraussetzungen Pflichtverletzungen Dritter zurechnen lassen muss (Seewald a.a.O. Rn. 183 ff.)

Davon ausgehend steht für den Senat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass hier eine Pflichtverletzung der Uni-Klinik L vorliegt (dazu a)), die der Beklagten zuzurechnen ist (dazu b)).

a) Die Uni-Klinik L hat ihre Benachrichtigungspflicht aus § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI verletzt.

aa) Nach dieser Vorschrift, auf die die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches Anwendung finden (vgl. Koch in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: 100. EL Juni 2018, § 7 SGB XI Rn. 7 m.W.N.; LSG Berlin Brandenburg, Urteil vom 23.09.2010 - L 27 P 5/09; LSG Bayern, Urteil vom 23.01.2013 - L 2 P 61/12), obliegt es u.a. den behandelnden Ärzten und Krankenhäusern, mit Einwilligung der Versicherten unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird. Ob eine entsprechende Nachricht an die Pflegekasse tunlich ist, haben die Krankenhäuser aufgrund der ihnen aus der konkreten Behandlungssituation bekannten Umstände zu entscheiden (vgl. Dalichau, SGB XI, § 7 Rn. 45).

bb) Danach hat hier objektiv eine Mitteilungspflicht der Uni-Klinik L bestanden.

Denn nach den vorliegenden Feststellungen (s.o. I.) war der Kläger in dem fraglichen Zeitraum pflegebedürftig. Die Pflegebedürftigkeit war für die Uni-Klinik L bzw. deren Mitarbeiter auch erkennbar. Denn der Kläger befand sich dort laufend zur Strahlen- bzw. Chemotherapie weiter in (z.T. sogar stationärer) Behandlung. Sein Zustand ist anhand der Patientenakte auch gut dokumentiert. Selbst wenn sich daraus eine Pflegebedürftigkeit nicht unmittelbar ableiten lässt, muss zumindest eine sich abzeichnende Pflegebedürftigkeit des Klägers erkennbar gewesen sein.

Ob der Zeugin N der (sich abzeichnende) Pflegebedarf des Klägers bekannt war oder ob die Mitarbeiter der Uni-Klinik L insgesamt insoweit einer Fehleinschätzung unterlagen bzw. Kommunikationsdefizite bestanden, ist unerheblich. Es kommt insoweit nur auf die objektiv vorliegende und für das Klinikpersonal grundsätzlich erkennbare Sachlage an, weil Adressat der Verpflichtung aus § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI "das Krankenhaus" als Organisationseinheit ist und nicht die einzelnen Mitarbeiter.

cc) Es liegt auch eine Verletzung der Mitteilungspflicht aus § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI vor. Denn es ist weder vorgetragen noch sonst aus den Akten ersichtlich, dass der Beklagten von der Uni-Klinik L mitgeteilt worden wäre, dass bei dem Kläger Pflegebedürftigkeit bestand bzw. sich eine solche abzeichnete. Unabhängig davon ist eine Pflichtverletzung jedenfalls darin zu erkennen, dass der Kläger bzw. dessen Eltern nicht - wie nach § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI vorgegeben - um ihr Einverständnis gebeten wurden, die entsprechenden Informationen an die Beklagte zu übermitteln (vgl. zur Einholung der Einverständniserklärung im Einzelnen etwa Wagner in Hauck/Noftz, SGB XI, Stand: 07/15, K § 7 Rn. 20). Die Zeugin N hat hierzu in der Vernehmung durch den Senat bekundet, hierüber mit den Eltern des Klägers nicht gesprochen zu haben. Ein solches Unterlassen stellt im Rahmen von § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI eine den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auslösende Pflichtverletzung dar (ähnlich LSG Berlin Brandenburg a.a.O. Rn. 29 f.).

dd) Ob daneben auch noch eine Pflichtverletzung der Krankenkasse vorliegt, die ebenso wie die Uni-Klinik L der Benachrichtigungspflicht des § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI unterworfen ist, kann danach für die Entscheidung des vorliegenden Falles letztlich offenbleiben. Nach dem bisherigen Sachstand dürfte die Krankenkasse mit Blick auf die Hilfsmittelversorgung, den Antrag auf Haushaltshilfe und die sonstigen "abstrakten" Informationen über die Inanspruchnahme von Leistungen durch den Kläger jedoch - jedenfalls im Juli 2013 noch - keine hinreichenden Erkenntnisse über eine sich abzeichnende oder sogar bereits bestehende Pflegebedürftigkeit des Klägers gehabt haben.

b) Die Pflichtverletzung der Uni-Klinik L ist der Beklagten zuzurechnen.

Das Verhalten eines anderen (Leistungs-) Trägers/Dritten wird dem zuständigen Leistungsträger zugerechnet, wenn zwischen beiden eine "Funktionseinheit" besteht. Der betreffende (andere) Leistungsträger muss insoweit arbeitsteilig bzw. funktionell in den Verwaltungsablauf bzw. in die Wahrnehmung der Aufgaben des zuständigen Leistungsträgers eingebunden sein. Der zuständige Leistungsträger hat in diesen Fällen nicht nur für Fehler der eigenen Bediensteten, sondern auch für Fehler der in das Verwaltungsverfahren eingeschalteten Organisationseinheit (und deren Bediensteten) einzustehen, wenn deren Handeln oder Unterlassen zu Nachteilen für den Berechtigten geführt hat. (zum Ganzen Seewald a.a.O. Rn. 183 m.w.N.)

Die arbeitsteilige bzw. funktionelle Einbeziehung der Krankenhäuser und damit hier der Uni-Klinik L in die Verwaltungsabläufe der Beklagten bei bzw. zur Antragstellung im Bereich der Pflegeversicherung ist gerade der Regelungsgegenstand des § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Denn die Benachrichtigungspflicht steht nicht für sich, sondern hat gerade den Zweck die Leistungserbringung der Beklagten zu beschleunigen bzw. effektiver zu machen (so etwa LSG Berlin Brandenburg a.a.O. Rn. 31 m.w.N. sowie Wagner a.a.O. Rn. 19).

2. Dem Kläger ist durch die beschriebene Pflichtverletzung auch ein Nachteil im Sinne eines sozialrechtlichen Schadens (dazu im Einzelnen Seewald a.a.O. Rn. 168 ff.) entstanden.

Dieser besteht darin, dass der Kläger (jedenfalls) bereits ab Juli 2013 Leistungen in Form von Pflegegeld hätte erhalten können, wenn die Uni-Klinik L mit dem Einverständnis seiner Eltern die erforderlichen Informationen nach § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI an die Beklagte übermittelt hätte. Denn nach Eingang dieser Informationen wäre die Beklagte ihrerseits verpflichtet gewesen, den Kläger über die denkbaren Pflegeleistungen bzw. die hierfür erforderliche Antragstellung zu informieren (vgl. Wagner a.a.O.).

Zur Begründung des zudem erforderlichen ursächlichen Zusammenhanges zwischen Pflichtverletzung und Schaden reicht es beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch aus, wenn die Pflichtverletzung nicht die alleinige, jedoch die (allein) "wesentliche" Ursache für die ausgleichsbedürftige Situation ist. Die dabei vorzunehmende Bewertung hat zu berücksichtigen, dass der Berechtigte (also hier der Kläger) als Beteiligter an dem Sozialrechtsverhältnis und Inhaber des Anspruchs einerseits durch sein Verhalten äquivalent-ursächlich mitwirkt, andererseits in der Regel dem Leistungsträger hinsichtlich der Einschätzung der Rechtslage weit unterlegen ist und somit dessen Verhalten im Wesentlichen vertrauen muss. Eine mitwirkende Verursachung (erst recht ein mitwirkendes Verschulden) des Betroffenen ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich nicht zu berücksichtigen; der in § 254 BGB steckende allgemeine Rechtsgedanke findet somit keine Anwendung. (vgl. zum Ganzen Seewald a.a.O. Rn. 176 ff.)

Davon ausgehend hat die Pflichtverletzung der Uni-Klinik ursächlich dazu geführt, dass der Kläger Pflegegeld nicht schon ab Juli 2013 erhalten hat. Denn es kann nach den Umständen des Falles mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass seine Eltern bei entsprechender Anfrage der Uni-Klinik L ihre Einwilligung zur Information der Beklagten erteilt hätten und auf entsprechende Aufklärung durch die Beklagte umgehend einen Antrag auf Pflege(geld)leistungen für den Kläger gestellt hätten.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann nicht angenommen werden, die Pflichtverletzung der Uni-Klinik L sei nicht ursächlich für den Schaden gewesen, weil der Kläger bzw. seine Eltern schon durch die Zeugin N über die Möglichkeit, Pflegeleistungen nach dem SGB XI zu beantragen, informiert waren. Denn es kann ebenso wenig festgestellt werden, dass die Zeugin diese Information an die Eltern erteilt hat, wie festgestellter werden kann, dass sie die Information nicht erteilt hat. Die Zeugin hat im Rahmen ihrer Vernehmung durch den Senat noch einmal bekräftigt, dass sie keine konkreten Erinnerungen an die damals geführten Gespräche mehr habe. Sie konnte lediglich ausschließen, die Eltern des Klägers um eine Einwilligung nach § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI gebeten zu haben. Im Übrigen waren ihre Aufzeichnungen mit Blick auf eine Information der Eltern über die Möglichkeit, einen Antrag auf Pflegeleistungen zu stellen, nicht eindeutig.

3. Sind die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches erfüllt, ist der Kläger nach dem Grundsatz der Naturalrestitution (dazu Seewald a.a.O. Rn. 192 ff.) so zu stellen wie er stehen würde, wenn er den Antrag zu dem für ihn sinnvollsten Zeitpunkt gestellt hätte.

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass von einer Antragstellung auszugehen ist, die einen Leistungsbeginn mit dem 01.07.2013 ermöglicht.

IV. Da sich der Kläger vor November 2014 nicht länger als vier Wochen wieder in stationärer Behandlung befunden hat, stand ihm der volle Anspruch auf Pflegegeld auch durchgehend in dem hier streitigen Zeitraum zu (vgl. § 34 Abs. 2 S. 2 SGB XI).

B) Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 193 Abs. 1 S. 1, 183 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Rechtskraft
Aus
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