L 4 AS 604/18 NZB

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 28 AS 5122/14
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 604/18 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerden werden zurückgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat der Beschwerdegegnerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Beklagte und Beschwerdeführer (im Folgenden: Beschwerdeführer) begehrt die Zulassung der Berufung gegen vier Urteile des Sozialgerichts (SG) Halle und die Durchführung der Berufungsverfahren.

Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) wendet sich mit ihren Klagen gegen die Berücksichtigung von fiktivem Einkommen aufgrund eines unterlassenen Wechsels der Einkommensteuerklasse durch ihren Ehemann für Oktober und November 2013 (L 4 AS 604/18 NZB), für Dezember 2013 (L 4 AS 603/18 NZB), für April und Mai 2014 (L 4 AS 602/18 NZB) und Dezember 2014 bis Mai 2015 (L 4 AS 605/18 NZB).

Die Beschwerdegegnerin und ihr Ehemann bezogen laufend ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Dabei berücksichtigte der Beschwerdeführer das vom Ehemann der Beschwerdegegnerin erzielte Erwerbseinkommen. Mit Schreiben vom 15. Mai 2013 forderte der Beschwerdeführer den Ehemann der Beschwerdegegnerin auf, von seiner bisherigen Lohnsteuerklasse IV in die Lohnsteuerklasse III zu wechseln. Dieser Aufforderung kam er nicht nach. In der Folge bewilligte der Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin vorläufig Grundsicherungsleistungen. Er begründete die Vorläufigkeit damit, dass das Einkommen des Ehemannes noch nicht abschließend bestimmt werden könne.

Mit Bescheiden vom 7. April 2014 setzte der Beschwerdeführer die Leistungsansprüche der Beschwerdegegnerin und ihres Ehemannes für Oktober bis Dezember 2013 endgültig fest und berücksichtigte bei der Ermittlung der Leistungsansprüche neben dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen weitere 187,93 EUR aus der im September 2013 zugeflossenen Einkommensteuererstattung von 1.127,61 EUR. Darüber hinaus minderte er die Leistungsansprüche der Beschwerdegegnerin und ihres Ehemannes um insgesamt 94,06 EUR (Oktober 2013), 133,69 EUR (November 2013) und 83,98 EUR (Dezember 2013). Dies entspricht dem Betrag, welchen der Ehemann der Beschwerdegegnerin bei einem Lohnsteuerklassewechsel als zusätzliches Nettoentgelt erhalten hätte.

Mit weiterem Bescheid vom 7. April 2014 bewilligte der Beklagte für die Monate April und Mai 2014 zunächst vorläufig Grundsicherungsleistungen.

Die Beschwerdegegnerin erhob gegen diese Verwaltungsakte jeweils am 8. Mai 2014 Widerspruch, die mit Widerspruchsbescheiden vom 3. bzw. 4. November 2014 zurückgewiesen wurden.

Mit Bescheid vom 24. November 2014 entschied der Beklagte endgültig über die Leistungsansprüche für April und Mai 2014. Unter dem 1. Juli 2015 hat er schließlich einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid erlassen, welchen die Beschwerdegegnerin mit Widerspruch vom 28. Juli 2015 angegriffen und über den der Beschwerdeführer nach Erteilung eines Änderungsbescheides vom 9. Februar 2016 mit Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2016 entschieden hat. Konkret hat der Beschwerdeführer jeweils 80,41 EUR für April und Mai 2014 als fiktives Einkommen anspruchsmindernd berücksichtigt.

Die Beschwerdegegnerin hat am 5. Dezember 2014 bezüglich der endgültigen Festsetzungen für die Monate Oktober bis Dezember 2013 und die vorläufige Bewilligung für April und Mai 2014 Klagen beim SG erhoben und im Hinblick auf die endgültigen Festsetzungen ausgeführt: Ein Lohnsteuerklassewechsel sei nicht erfolgt, die Anrechnung fiktiven Einkommens sei rechtswidrig. Sie hat die übrige Einkommensanrechnung ebenso wie den vom Beschwerdeführer zugrunde gelegten Bedarf der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung nicht beanstandet. Schließlich habe sie die Berechnung der vorläufig bewilligten Leistungen für April und Mai 2014 nicht nachvollziehen können.

Mit weiterem Bescheid vom 1. Juli 2015 hat der Beklagte die Leistungsansprüche der Klägerin und ihres Ehemannes für die Zeit vom 1. Dezember 2014 bis zum 31. Mai 2015 endgültig festgesetzt und dabei ebenfalls fiktiv erzieltes Erwerbseinkommen wie folgt berücksichtigt: 52,85 EUR (Dezember), 111,57 EUR (Januar), 90,20 EUR (Februar), 65,09 EUR (März) und 76,49 EUR (April) sowie 93,94 EUR (Mai). Auch hiergegen hat die Klägerin am 28. Juli 2015 Widerspruch erhoben, der mit Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2016 zurückgewiesen worden ist. Die Klägerin hat daraufhin am 15. Februar 2016 Klage erhoben und zur Begründung ihre Argumentation aus den bereits rechtshängigen Klageverfahren wiederholt bzw. vertieft.

Der Beklagte ist der Argumentation zur rechtswidrigen Berücksichtigung von fiktivem Einkommen entgegengetreten.

Das SG hat den Klagen mit Urteilen vom 29. Juni 2018 stattgegeben und den Beschwerdeführer jeweils verurteilt, über die Leistungsansprüche ohne Anrechnung eines fiktiv erzielten Einkommens zu entscheiden. Hierbei handele es sich nicht um tatsächlich zugeflossene Einnahmen, die den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft als "bereite Mittel" zur Deckung ihres Bedarfs zur Verfügung stünden. Das SG hat die Berufung in den einzelnen Verfahren nicht zugelassen.

Mit Schreiben vom 27. August 2016 hat der Beschwerdeführer gegen die ihm am 27. Juli 2018 zugestellten Urteile Nichtzulassungsbeschwerden beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt erhoben. Die Berufung sei zuzulassen, weil die Rechtsfrage der Anrechnung fiktiven Einkommens aufgrund eines unterlassenen Wechsels der Lohnsteuerklasse grundsätzliche Bedeutung habe. Dies ergebe sich insbesondere aus der bundesweiten Praxis der Jobcenter, die auf der Grundlage der fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit (vergleiche Wissensdatenbank der Bundesagentur für Arbeit, WDB-Beitrag Nummer 020001, Stand: 06.02.2017, www.arbeitsagentur.de/wissensdatenbank-sgbii/2-grundsatz-des-forderns) dasjenige Nettoeinkommen anrechneten, das sich bei der Wahl der günstigeren Steuerklasse ergebe. Insbesondere sei die aufgeworfene Rechtsfrage zur Einhaltung der Rechtseinheit und Weiterentwicklung des Rechts erforderlich. Das Bundessozialgericht (BSG) habe hierzu bislang keine Entscheidung gefällt. In der Rechtsprechung der Landessozialgerichte sei dies umstritten (für eine fiktive Anrechnung: Beschluss des LSG Schleswig-Holstein vom 10. Juli 2008 – L 11 B 392/08 AS ER; dagegen Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 14. Oktober 2013 – L 2 AS 4231/13 B – juris). Die Rechtsfrage lasse sich auch nicht anhand der vom BSG entwickelten Rechtssätze beantworten. Zudem weiche das SG auch von der Rechtsprechung des BSG ab.

Im Verfahren L 4 AS 602/18 NZB hat der Beschwerdeführer darüber hinaus einen Verfahrensfehler gerügt. Das SG habe über Verwaltungsakte, die gem. § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden seien, nicht entschieden. Dies betreffe den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 1. Juli 2015, den Änderungsbescheid vom 9. Februar 2016 und letztlich den Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2016. Zudem beruhe die Entscheidung auch auf diesem Verfahrensfehler. Mit diesen Bescheiden habe er eine bis dahin nicht bekannte Einkommenssteuererstattung für 2013 anspruchsmindernd berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer beantragt zusammengefasst schriftsätzlich,

die Berufungen gegen die Urteile des Sozialgerichts Halle vom 29. Juni 2018 – Aktenzeichen: S 28 AS 5120/14, S 28 AS 5121/14, S 28 AS 5122/14 und S 28 AS 446/16 – zuzulassen.

Die Beschwerdegegnerin beantragt sinngemäß,

die Beschwerden zurückzuweisen.

Eine weitergehende Stellungnahme hat sie nicht abgegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

II.

Die Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Berufung sind zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 145 SGG eingelegt worden.

Sie sind jedoch unbegründet. Nachdem die Berufungen aufgrund des Streitgegenstands nicht bereits gesetzlich eröffnet sind (hierzu unter 1.), hat das SG die Berufungen gegen die Urteile vom 29. Juni 2018 zu Recht nicht zugelassen, weil keiner der gesetzlichen Zulassungsgründe vorliegt (hierzu unter 2.).

1. Ohne Zulassung ist die Berufung nur bei wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), was bei einer endgültigen Festsetzung von Leistungen für maximal sechs Monate nicht der Fall ist. Das Begehren der Beschwerdegegnerin überschreitet zudem nicht den Wert von 750 Euro, ab dem bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, eine Berufung ohne Zulassung eröffnet ist (§ 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGG).

2. Ist die Berufung nicht bereits gesetzlich eröffnet, ist sie gemäß § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr.3).

a) Den Entscheidungen in den Rechtssachen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine grundsätzliche Bedeutung liegt vor, wenn ein Verfahren bisher nicht geklärte, aber klärungsbedürftige und -fähige Rechtsfragen aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Auflage, zu § 144, Rn. 28).

Ungeklärte Rechtsfragen sind aber weder von den Beteiligten aufgeworfen noch aus dem Inhalt der Verfahrensakten für den Senat ersichtlich. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist in der Rechtsprechung des BSG bereits geklärt, dass Einkommen, welches Leistungsberechtigten zu keinem Zeitpunkt zugeflossen ist (sogenanntes fiktives Einkommen), bei der Ermittlung von Leistungsansprüchen nicht (bedarfsmindernd) zu berücksichtigen ist. Der Beschwerdeführer verkennt, dass es auf die Frage bereiter Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts erst dann ankommt, wenn das Einkommen tatsächlich zugeflossen ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG – welcher der Senat nach eigener Prüfung folgt – sind nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich abzusetzender Beträge und mit Ausnahme diverser – konkret bezeichneter – Einnahmen. Dabei ist Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB II grundsätzlich alles das, was jemand nach der Antragstellung wertmäßig dazu erhält und Vermögen das, was der Leistungsberechtigte vor der Antragstellung bereits hatte (modifizierte Zuflusstheorie – vgl. BSG – Urteile vom 30. Juli 2008 – B 14/11b AS 17/07 R – Rn. 20 ff., vom 30. September 2008 – B 4 AS 29/07 R und vom 6. Oktober 2011 – B 14 AS 94/10 R – Rn. 18 – juris). Auszugehen ist vom tatsächlichen Zufluss, es sei denn rechtlich wird ein anderer Zufluss als maßgeblich bestimmt (st. Rspr. seit BSG – Urteil vom 30. Juli 2008 – B 14 AS 26/07 R – Rn. 23; vergleiche auch BSG – Urteil vom 17. Februar 2015 – B 14 KG 1/14 R – Rn. 16 – juris). Voraussetzung für die Berücksichtigung von Einkommen ist damit stets der tatsächliche Zufluss. Wörtlich führt das BSG aus: "Nur eine tatsächlich zugeflossene Einnahme ist als "bereites Mittel" geeignet, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken; die Anrechnung einer fiktiven Einnahme zur Bedarfsminderung ist nach dem System des SGB II dagegen ausgeschlossen" (BSG – Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 161/11 R – Rn. 18 – juris).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Beschwerdeführer zitierten Entscheidungen (BSG - Urteile vom 29. April 2015 – B 14 AS 10/14 R und vom 10. Mai 2011 – B 4 KG 1/10 R sowie vom 16. Mai 2012 – B 14 AS 132/11 R – juris). Diese stützen seine Auffassung nicht, sondern fügen sich in die ständige Rechtsprechung des BSG ein. Der Beschwerdeführer übersieht, dass allen vom BSG entschiedenen Rechtsstreiten Sachverhaltskonstellationen zugrunde lagen, in denen nach den Feststellungen der Obergerichte Einkommen tatsächlich zugeflossen war, das heißt, es in irgendeiner Art und Weise zu einem wertmäßigen Zuwachs bei den Leistungsberechtigten gekommen war (vgl. BSG – Urteile vom 10. Mai 2011 – B 4 KG 1/10 R – Rn. 27 ff., Rn. 30 und vom 16. Mai 2012 – B 4 AS 132/11 R – Rn. 21 – juris). Hiervon geht das BSG auch in weiteren Urteilen aus (BSG – Urteile vom 30. September 2008 – B 4 AS 29/07 R – Rn. 20; vom 24. Mai 2017 – B 14 AS 32/16 R – Rn. 22; vom 19. August 2015 – B 14 AS 43/14 R – Rn. 14 und vom 29. November 2012 – B 14 AS 33/12 R – Rn. 2 in Verbindung mit Rn. 12 und 15 – juris). Dies entspricht auch der vom Beschwerdeführer zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung (Sächsisches LSG – Urteil vom 21. September 2017 – L 3 AS 480/12 – Rn. 23-25 – juris). Dieses führt in Weiterentwicklung der soeben zitierten Rechtsprechung aus: "Zutreffend sind demnach der Beklagte und das Sozialgericht davon ausgegangen, dass die auf Mietschulden einbehaltenen Beträge den Klägern als Einkommen zugeflossen sind. Die Verbindlichkeiten der Kläger gegenüber dem Vermieter sind durch den Einbehalt des Guthabens, dem die Kläger zumindest nicht entgegengetreten sind, um einen entsprechenden Betrag reduziert worden, die Kläger haben wertmäßigen Zuwachs um diesen Betrag erzielt" (Sächsisches LSG – Urteil vom 22. März 2018 – L 3 AS 907/16 – juris).

Auch der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass eine fiktive Einkommensanrechnung gemäß §§ 11,11 a SGB II im Zusammenhang mit dem in § 34 SGB II geregelten Ersatzanspruch wegen sozialwidrigen Verhaltens rechtlich nicht zulässig ist (LSG Sachsen-Anhalt – Beschluss vom 20. August 2014 – L 4 AS 272/14 B ER – Rn. 34 – juris; vergleiche auch Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz zu § 11 SGB II, Rn. 253 – Stand: 01/2015; Becker, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage, zu § 11 SGB II Rn. 11 f.; ähnlich auch Geiger, in: Münder, SGB II, 4. Auflage, zu § 11, Rn. 42; vgl. auch Schmidt, in: Eicher, SGB II, 4. Auflage, zu § 11, Rn. 28 mit Verweis auf die Rechtsprechung des BSG). Die fiktive Anrechnung von Einkommen und die hiermit einhergehende (teilweise) Ablehnung existenzsichernder Leistungen läuft auf eine Sanktionsvorschrift "sui generis" hinaus. Hätte der Gesetzgeber eine solche Sanktionswirkung beabsichtigt, hätte er dies ausdrücklich im Kontext von § 34 SGB II regeln müssen. Damit ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets auf die gegenwärtige Sachlage abzustellen (vgl. auch BVerfG – Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – Rn. 28 – juris). Ein Verstoß gegen die Selbsthilfeobliegenheiten des SGB II kann damit allenfalls über die Sanktionsvorschriften der §§ 31 ff. SGB II geahndet werden (vgl. zur grundsätzlichen Zulässigkeit von Sanktionen bei Verstoß gegen Mitwirkungspflichten: Urteil des BVerfG vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – Rn. 129 ff. – juris; vgl. auch Becker, a.a.O., Rn. 11, 12 mit Verweis auf die Rechtsprechung des BSG zum Anwendungsbereich der §§ 31 ff., insbesondere des § 34 SGB II, vgl. auch Geiger, a.a.O., Rn. 42 sowie Schmidt, a.a.O., Rn. 28).

Legt man dies zu Grunde, so ist die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Rechtsfrage, ob fiktives Einkommen (zum Beispiel aus einem unterlassenen Wechsel der Einkommensteuerklasse) angerechnet werden kann, nach der Rechtsprechung des BSG auch unter Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht klärungsbedürftig, weil Einkommen lediglich dann anspruchsmindernd berücksichtigt werden darf, falls die Einnahmen tatsächlich und nicht nur fiktiv erzielt worden sind.

Auf den konkreten Fall bezogen bedeutet dies: Die vom Beschwerdeführer im Rahmen der Anspruchsberechnung aufgrund des unterlassenen Wechsels der Lohnsteuerklasse berücksichtigten "sonstigen" Einnahmen von 94,06 EUR und 133,69 EUR (Oktober und November 2013) bzw. 83,98 EUR (Dezember 2013) sowie 80,41 EUR (April und Mai 2014), 52,85 EUR (Dezember 2014), 111,57 EUR (Januar 2015), 90,20 EUR (Februar 2015), 65,09 EUR (März 2015) und 76,49 EUR (April 2015) sowie 93,94 EUR (Mai 2015) haben zu keinem Zeitpunkt zu einem wertmäßigen Zuwachs bei der Beschwerdegegnerin bzw. ihrem Ehemann geführt. Diese können deshalb – was das SG zutreffend erkannt hat – die Ansprüche der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nicht mindern. Auf die Frage bereiter Mittel kommt es nicht an.

Soweit sich der Beschwerdeführer ergänzend auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG – Urteil vom 11. Oktober 2012 – 5 C 22/11) bezieht, ist diese schon nicht im Anwendungsbereich des SGB II, sondern in dem des Kinder- und Jugendhilferechts ergangen. Im Übrigen würde eine solche Berücksichtigung nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen, was nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aber erforderlich ist (ähnlich auch Hengelhaupt, a.a.O., Rn. 253). Dem Beschluss des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 10. Juli 2008 in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (L 11 B 392/08 AS ER) ist unter Berücksichtigung der zeitlich nachfolgend ergangenen ständigen bundessozialgerichtlichen Rechtsprechung nicht zu folgen.

b) Das SG weicht mit seiner Entscheidung auch nicht von der Rechtsprechung der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte ab (Divergenz). Divergenz ist anzunehmen, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das SG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhanden abstrakten Rechtssatz der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte aufgestellt hat. Solche Rechtssätze hat das SG nicht aufgestellt. Insbesondere beruft es sich (zutreffend) auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 161/11 – Rn. 18 – juris).

c) Schließlich hat der Beschwerdeführer im Verfahren L 4 AS 602/18 NZB zwar einen Verfahrensmangel im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG – die fehlende Berücksichtigung diverser Bescheide – gerügt. Dieser liegt auch vor, weil das Sozialgericht den Rücknahmebescheid vom 1. Juli 2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 9. Februar 2016 und dieser in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 2016 – soweit sie die Monate April und Mai 2014 betreffen – nicht berücksichtigt hat. Indes kann die Entscheidung des SG nicht auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Der Senat schließt aus, dass dieser die Entscheidung (zulasten des Beschwerdeführers) beeinflusst hat (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Auflage, zu § 144, Rn. 35 sowie ders., a.a.O., zu § 160, Rn. 23 jeweils m.w.N.). Auch wenn das SG die vom Beschwerdeführer zutreffend benannten Bescheide berücksichtigt hätte, wäre es zu keiner – für den Beschwerdeführer günstigeren – Entscheidung gelangt.

Das SG hat das Jobcenter mit einem Grundurteil im Sinne von § 130 SGG verurteilt, über die Leistungsansprüche der Beschwerdegegnerin für die Monate April und Mai 2014 erneut zu entscheiden. Dabei seien (ausschließlich) tatsächlich zugeflossene Einnahmen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Lediglich das als sonstige Einnahme berücksichtigte fiktive Einkommen des Ehemannes der Beschwerdegegnerin habe unberücksichtigt zu bleiben. Auch wenn dies im Tenor des Urteils vom 29. Juni 2018 nicht eindeutig zum Ausdruck kommt, ergibt sich dies mit hinreichender Deutlichkeit aus den Entscheidungsgründen. Das Sozialgericht hat seine Entscheidung in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG entscheidend darauf gestützt, dass nur zugeflossene – nicht jedoch fiktive – Einnahmen anspruchsmindernd berücksichtigt werden könnten, weil nur diese zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stünden. Dies gilt aber nicht nur für das vom SG in seinen Überlegungen berücksichtigte tatsächlich zugeflossene Erwerbseinkommen, sondern auch für die vom Beschwerdeführer in weiteren – vom SG fälschlich nicht berücksichtigten – Bescheiden bedarfsmindernd berücksichtigte Einkommensteuererstattung. Beide Einnahmen standen der Beschwerdeführergegnerin und ihrem Ehemann tatsächlich zur Verfügung. Dies wird von der Beschwerdegegnerin auch nicht bestritten. Sie hat weder gegen den Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2016 Klage erhoben (vgl. Rechtsmittelbelehrung), noch hat sie sich anderweitig gegen die Anrechnung des Einkommens aus der Einkommensteuererstattung gewandt. Vielmehr hat zwischen den Beteiligten – mit Ausnahme der Berücksichtigung fiktiver Einnahmen – Einigkeit über die Berechnung der Leistungsansprüche für April und Mai 2014 bestanden. Es ist somit konsequent, dass sich das SG in den Entscheidungsgründen auf die nicht zu berücksichtigenden fiktiven Einnahmen konzentriert und keine vollständige Berechnung vorgenommen hat.

In der Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles konnte der Senat deshalb ausschließen, dass das Urteil des SG auf der unterlassenen Berücksichtigung der gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens gewordenen Verwaltungsakte beruht. Damit war auch die Nichtzulassungsbeschwerde im Verfahren L 4 AS 602/18 NZB zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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