S 46 AS 536/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
46
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 46 AS 536/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei einer Sanktion nach § 31 SGB II sind Härtefall und Wohlverhalten nach den Vorgaben des BVerfG im Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, nicht zu prüfen, wenn der Sanktionszeitraum vor dem 05.11.2019 abgelaufen ist.
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 19. Februar 2018 Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2018 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen eine Sanktion in Höhe von 30 % des Regelbedarfs nach § 31 Abs. 1 SGB II wegen unzureichenden Eigenbemühungen um eine neue Beschäftigung.

Der 1982 geborene alleinstehende Kläger bezieht seit Jahren laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach SGB II vom Beklagten. Von Februar bis August 2017 war der Kläger als Lagerhelfer erwerbstätig und bezog keine Leistungen. Ab September 2017 wurde dem Kläger mit Bewilligungsbescheid vom 27.09.2017 Arbeitslosengeld II von monatlich 700,98 Euro bewilligt. Im September bewarb sich der Kläger bei seinem früheren Arbeitgeber und teilte dem Beklagten mit, dass er vorrangig dort arbeiten wolle.

Mit Eingliederungsvereinbarung vom 13.11.2017, gültig ab 13.11.2017 bis auf weiteres, vereinbarten die Beteiligten als Ziel die nachhaltige Integration des Klägers in den ersten Arbeitsmarkt. Für den Fall, dass die bisherige Arbeitssuche des Klägers bis 30.11.2017 ohne Erfolg bleibe, wurde Folgendes vereinbart: Der Kläger verpflichtete sich unter anderem dazu, monatlich acht Bewerbungsbemühungen zu tätigen und nachzuweisen, erstmals Anfang Januar 2018. Im Gegenzug verpflichtete sich der Beklagte, die Bewerbungsaktivitäten zu unterstützen durch Übernahme von angemessenen und nachgewiesenen Fahrkosten zu Vorstellungsgesprächen, sofern die Kostenübernahme vor Fahrtantritt beantragt werde.

Weil der Kläger einen Meldetermin am 11.12.2017 verpasste, erfolgte mit Bescheid vom 19.01.2018 eine Minderung des Arbeitslosengelds II um monatlich 10 % des Regelbedarfs für die Monate Februar, März und April 2018. Mit Bescheid vom 19.02.2018 erfolgte eine weitere Minderung des Arbeitslosengelds II um monatlich 10 % des Regelbedarfs für die Monate März, April und Mai 2018, weil der Kläger am 20.12.2017 zu einem Bewerbertag nicht erschienen sei. Nach Widerspruch wurde der Sanktionsbescheid vom 19.02.2018 mit Abhilfebescheid vom 14.12.2018 aufgehoben.

Weil der Kläger keine Bewerbungen nachwies, erfolgte mit Schreiben vom 26.01.2018 eine Anhörung zum möglichen Eintritt einer Sanktion mit Hinweis darauf, ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erhalten zu können. Mit Bescheid vom 19.02.2018 erfolgte eine Minderung des Arbeitslosengelds II um monatlich 30 % des Regelbedarfs (124,80 Euro) für März, April und Mai 2018. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, er könne von dem verbliebenen Geld nicht leben und er habe auch eine Darmerkrankung, weswegen er eine besondere Ernährung benötige. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2018 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger erhob bereits am 27.02.2018 Klage gegen die Sanktion von 30 % zum Sozialgericht München. Er suche sich selber eine Arbeitsstelle und könne sich die Kürzung nicht erlauben.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Sanktionsbescheid vom 19.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2018 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber unbegründet, weil der strittige Sanktionsbescheid dem Gesetz entspricht und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist.

Statthaft ist die reine Anfechtungsklage auf Aufhebung der Sanktion nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 Sozialgerichtsgesetz (BSG, Urteil vom 23.06.2016, B 14 AS 30/15 R, Juris Rn. 10). Bei einer Sanktion, die auf einem Pflichtverstoß gegen eine Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Abs. 2 SGB II beruht, erfolgt eine Inzidenzprüfung dieser Eingliederungsvereinbarung als öffentlich-rechtlicher Vertrag gemäß §§ 53 ff SGB X (BSG, a.a.O., Rn. 15). Eine Eingliederungsvereinbarung wird lediglich auf Nichtigkeit gemäß § 58 SGB X überprüft. Nach § 58 Abs. 2 Nr. 2 SGB X führt eine sonstige Rechtswidrigkeit nur dann zu einer Nichtigkeit, wenn diese Rechtswidrigkeit beiden Vertragschließenden bekannt war.

a) Der Sanktionstatbestand nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ist erfüllt, weil der Kläger sich weigerte, in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen. In der Eingliederungsvereinbarung vom 13.11.2017 wurden acht Bewerbungen pro Monat vereinbart. Der Kläger hat keine einzige Bewerbung nachgewiesen. Die Bewerbungsbemühungen waren zentraler Bestandteil der vom Kläger unterzeichneten Eingliederungsvereinbarung, sodass eine nicht vorsätzlicher Pflichtenverstoß ausscheidet. Ein wichtiger Grund für die Nichterfüllung der Pflicht gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II liegt hier nicht vor. Soweit der Kläger vorträgt, dass er sich selber eine Arbeit suchen wolle, ist festzuhalten, dass dies genau der Inhalt der strittigen Pflicht war.

b) Die Sanktion beruht auf einer wirksamen Eingliederungsvereinbarung.

Anhaltspunkte für einen Formenmissbrauch gemäß § 58 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 134 BGB (vgl. dazu BSG, a.a.O., Rn. 18, wobei dort die Grenze zur gesetzlich nicht vorgesehenen umfassenden Rechtmäßigkeitsprüfung undeutlich bleibt) bestehen nicht. So nahm der Beklagte etwa darauf Rücksicht, dass der Kläger im Vorfeld der Vereinbarung darauf Wert legte, sich im September 2018 zunächst nur bei seinem ehemaligen Arbeitgeber zu bewerben.

Es besteht auch kein Verstoß gegen das Kopplungsverbot nach § 58 Abs. 2 Nr. 4 SGB X wegen Vereinbarung einer unzulässigen Gegenleistung nach § 55 SGB X. Den in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Bewerbungsbemühungen steht eine angemessene Gegenleistung im Sinn von § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB X gegenüber, weil der Beklagte dem Grunde nach die Übernahme der Kosten für angemessenen und nachgewiesenen Fahrten zu Vorstellungsgesprächen zugesagt hatte (BSG, a.a.O., Rn. 21 ff).

c) Beginn, Höhe und Dauer der Sanktion entsprechen § 31a Abs. 1 Satz 1 sowie § 31b Abs. 1 SGB II. Der Sanktionszeitraum von März, April und Mai 2018 folgt dem Sanktionsbescheid vom 19.02.2018 nach und die Sanktion in Höhe von 30 % des Regelbedarfs des Klägers dauerte drei Monate. Weil die strittige Sanktion zusammen mit den beiden Sanktionen in Höhe von jeweils 10 % des Regelbedarfs wegen den Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II verhängt wurde, bestand nach § 31a Abs. 3 Satz 1 die Möglichkeit, auf Antrag ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erhalten. Diesen Antrag hat der Kläger trotz Hinweis auf diese Möglichkeit nicht gestellt.

d) Die strittige Sanktion ist auch nicht wegen der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Sanktionen herabzusetzen oder zu verkürzen. Härtefall und Wohlverhalten sind auch bei nicht bestandskräftigen Sanktionsbescheiden nicht zu prüfen, wenn der Sanktionszeitraum vor dem 05.11.2019 abgelaufen ist (ebenso Schiffendecker und Brehm, NZS 2020, Seiten 1 ff, 5; Greiser und Susnjar, NJW 2019, Seiten 3683 ff, 3685).

aa) Im Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, hat das BVerfG entschieden, dass § 31 Abs. 1 SGB II mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit die Höhe der Leistungsminderung 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs übersteigt (Deckelung auf 30 %). Weil vorliegend lediglich eine erstmalige Sanktion nach § 31 Abs. 1 SGB II in Höhe von 30 % des Regelbedarfs strittig ist, kommt diese Beschränkung der Sanktionen hier nicht zum Tragen. Die zusätzlichen Sanktionen wegen Meldeversäumnissen zählen hier nicht mit.

bb) Das BVerfG hat weiter festgestellt, dass es mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, eine Sanktion nach § 31 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB II zwingend zu verhängen, wenn eine außergewöhnliche Härte vorliegt (Härtefall) oder die Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt wird oder die künftige Bereitschaft hierzu ernsthaft und nachhaltig erklärt wird (Wohlverhalten).

Im vorliegenden Fall kommt ein Härtefall in Betracht, weil der Kläger im strittigen Sanktionszeitraum auch zwei Sanktionen wegen Meldeversäumnissen hinnehmen musste. Dabei ist auch die später aufgehobene Sanktion zu berücksichtigen, weil diese erst nach Ablauf dieses Sanktionszeitraumes aufgehoben wurde. Außerdem macht der Kläger besondere Kosten für die Ernährung wegen einer Darmerkrankung geltend.

Ein Härtefall kann im vorliegenden Fall aber nicht zu einer Aufhebung oder Reduzierung der Sanktion führen, weil Härtefall und Wohlverhalten für Sanktionszeiträume, die vor dem 05.11.2019 abgelaufen sind, nicht zu prüfen sind. Der Sanktionszeitraum war hier aber März, April und Mai 2018.

Diese zeitliche Einschränkung der Anwendung der Entscheidung des BVerfG ergibt sich aus Teil D II. dieses Urteils (Rn. 218 ff). Unter D II. Ziffer 1. (Rn. 218) stellte das BVerfG fest, dass die Sanktionsregelungen der § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b SGB II mit den titulierten Einschränkungen (Deckelung auf 30 % des Regelbedarfs, Härtefall- und Wohlverhaltensprüfung) weiterhin anwendbar sind. Dies bezieht sich auf die Zukunft, d.h. auf die Zeit ab Erlass dieses Urteils.

Für die Zeit vor dem 05.11.2019 wurde in D II. Ziffer 2. (Rn. 219 ff) eine differenzierte Regelung getroffen. Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, rückwirkend Leistungen ohne Minderungen nach § 31a SGB II festzusetzen (Rn. 219). Bestandskräftige Verwaltungsakte können gemäß § 40 Abs. 3 SGB II nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 44 SGB X überprüft werden (Rn. 220). Nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die vor der Urteilsverkündung am 05.11.2019 festgestellt wurden, - wie hier - bleiben wirksam (Rn. 221). Damit hat das BVerfG nicht bestandskräftige Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II aus der Regelung unter Ziffer 1. herausgenommen, wonach Sanktionen auf 30 % des Regelbedarfs gedeckelt werden und außerdem Härtefall sowie Wohlverhalten zu prüfen sind. Dann bleibt es für die Zeit ab der Urteilsverkündung bei der Deckelung auf 30 % des Regelbedarfs, die das BVerfG in Rn. 222 für die erste wiederholte Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II und die weitere wiederholte Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II festgelegt hat.

Diese zeitliche Abgrenzung ist auch in der Sache sinnvoll, weil ein Härtefall rückwirkend kaum mehr zu beheben ist und vor dem Urteil des BVerfG grundsätzlich, abgesehen von der vollständigen Sanktion gegen unter 25-Jährige nach § 31a Abs. 2 Satz 4 SGB II, kein Anlass für eine zeitnahe nachträgliche Mitwirkung oder deren Erklärung bestand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage nach dem Anwendungszeitraum des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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