L 37 SF 218/19 EK AS

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 37 SF 218/19 EK AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Auch wenn § 198 Abs. 3 GVG keine ausdrückliche Regelung dazu enthält, bis wann eine Verzögerungsrüge spätestens bei Gericht eingegangen sein muss, bedeutet dies nicht, dass diese beliebig spät an das Gericht herangetragen werden kann.

Der Zeitpunkt, ab dem eine Verzögerungsrüge als verspätet anzusehen ist, ist an-hand des mit der Rüge verbundenen Zwecks, zum einen dem bearbeitenden Richter die Möglichkeit zu einer beschleunigten Verfahrensförderung zu eröffnen, zum ande-ren die Möglichkeit des Duldens und Liquidierens auszuschließen, zu bestimmen.

Hat ein Gericht Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und die Ladungs-schreiben bzw. Benachrichtigungen vom Termin abgesandt, ist eine danach einge-hende Verzögerungsrüge verspätet. Dies gilt unabhängig davon, für welchen Zeit-punkt der Eingang der Mitteilung vom Termin bestätigt wird.
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozi-algericht P unter dem Aktenzeichen S 45 AS 535/16 geführten Verfahrens. Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit seiner durch seinen jetzigen Bevollmächtigten für ihn am 23. März 2016 erhobe-nen Klage wandte der seinerzeit Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch beziehende Kläger sich gegen den Bescheid des beklagten Jobcenters vom 05. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 23. Februar 2016, mit dem dieses ihn aufgefordert hatte, einen Ren-tenantrag zu stellen. Zugleich beantragte er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Nachdem in dem unter dem Aktenzeichen S 45 AS 535/16 registrierten Verfahren am 20. April 2016 die Erwiderung des damaligen Beklagten beim Sozialgericht einge-gangen war, gewährte dieses dem Kläger mit Beschluss vom 22. April 2016 Pro-zesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten, übersandte letzterem die Klageerwiderung zur freigestellten Stellungnahme und verfügte den Vorgang in das Sitzungsfach.

Anfang Oktober 2016 übersandte das Sozialgericht die Gerichts- und die Verwal-tungsakten antragsgemäß dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zum Akten-zeichen L 14 AS 670/16 B ER. In diesem Verfahren hatte der 14. Senat mit Be-schluss vom 04. April 2016 unter Aufhebung einer anderslautenden erstinstanzlichen Entscheidung den Antrag des hiesigen Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 05. Januar 2016 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 23. Februar 2016 abgewiesen. Die Akten gelangten am 18. November 2016 an das Sozialgericht zurück und wurden dort erneut in das Sit-zungsfach verfügt.

Mit richterlicher Verfügung vom 14. Februar 2019 beraumte das Sozialgericht Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19. März 2019 an. Unter dem 18. Februar 2019 wurden der damalige Beklagte sowie der Kläger zum Termin geladen und dessen Bevollmächtigter vom Termin benachrichtigt. Während der damalige Beklagte den Empfang mit Datum vom 19. Februar 2019 bestätigte und dem Kläger die Ladung am 20. Februar 2019 zugestellt wurde, gab der Bevollmächtigte auf seinem am 28. Februar 2019 beim Sozialgericht eingegangenen Empfangsbekenntnis als Zeit-punkt des Empfangs den 21. Februar 2019 an. Am 20. Februar 2019 erhob er beim Sozialgericht Verzögerungsrüge.

In Vorbereitung der mündlichen Verhandlung richtete das Sozialgericht unter dem 12. März 2019 Anfragen an die dortigen Beteiligten. Der Bevollmächtigte des Klägers sowie der damalige Beklagte informierten daraufhin das Gericht erstmals, dass das Jobcenter bereits am 15. April 2016 den Ersetzungsantrag gestellt hatte, dem Kläger - nach Anerkennung eines Grades der Behinderung von 70 mit Bescheid des Ver-sorgungsamtes vom 10. Mai 2016 - auf seinen entsprechenden Antrag vom 17. Mai 2016 vom Rentenversicherungsträger mit Bescheid vom 06. Juni 2016 eine Alters-rente für Schwerbehinderte bewilligt worden war und das Jobcenter seine Akten in dem Verfahren bereits im Juli 2016 geschlossen hatte. Der Kläger erklärte schließlich am 15. März 2019 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.

Am 13. September 2019 hat sein Bevollmächtigter für ihn Entschädigungsklage er-hoben und die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung einer Entschädigung in Höhe von 2.634,75 EUR nebst Zinsen sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe be-gehrt. Der Kläger meint, ihm stehe zum einen eine Entschädigung in Höhe von 2.300,00 EUR zu, da das Verfahren bei einer Gesamtdauer von 35 Monaten eine ent-schädigungspflichtige Verzögerung im Umfang von 23 Monaten aufweise. Zum ande-ren habe er Anspruch auf Entschädigung seines materiellen Nachteils in Form der vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 334,75 EUR.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen überlanger Dauer des vor dem Sozi-algericht P unter dem Aktenzeichen S 45 AS 535/16 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von 2.634,75 EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte, der außergerichtlich die Zahlung einer Entschädigung abgelehnt hat, meint, es sei davon auszugehen, dass der Bevollmächtigte des Klägers Verzöge-rungsrüge erst nach Kenntnis von der Ladung zur mündlichen Verhandlung erhoben habe. Da dieser seine Kanzlei im selben Postleitzahlenbezirk wie der damalige Be-klagte habe, sei davon auszugehen, dass auch er am 19. Februar 2019 vom Termin zur mündlichen Verhandlung unterrichtet worden sei. Die Verzögerungsrüge sei da-her verspätet.

Nachdem der Senat mit Beschluss vom 15. November 2019 die Bewilligung von Pro-zesskostenhilfe abgelehnt hatte, hat er die Beteiligten unter dem 23. Januar 2020 zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Akten des Ausgangsverfahrens verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Maßgebend für das vorliegende Klageverfahren sind die §§ 198 ff. des Gerichtsver-fassungsgesetzes (GVG) sowie die §§ 183, 197a und 202 des Sozialgerichtsgeset-zes (SGG), jeweils in der Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei über-langen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV) vom 24. November 2011 (BGBl. I, S. 2302) und des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung wei-terer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargeset-zes vom 06. Dezember 2011 (BGBl. I, S. 2554). Gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG i.V.m. § 202 Satz 2 SGG ist in sozialgerichtlichen Verfahren für die Entscheidung über die Entschädigungsklage das LSG Berlin-Brandenburg zuständig.

Nach Anhörung der Beteiligten kann der Senat gemäß § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. §§ 202 Abs. 1 Satz 2, 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Gerichtsbescheid ent-scheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtli-cher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (zur grundsätzlichen Möglichkeit hierzu: vgl. BSG, Beschluss vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 8/14 B – juris).

Die auf Gewährung einer Entschädigung gerichtete Klage hat keinen Erfolg.

Zwar ist die als allgemeine Leistungsklage statthafte Entschädigungsklage zulässig. Insbesondere bestehen weder an der Wahrung der gemäß § 90 SGG für die Klage vorgeschriebenen Schriftform noch an der Einhaltung der nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG zu wahrenden Klagefrist von sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Ver-fahrens Zweifel. Die Entschädigungsklage ist jedoch unbegründet.

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unange-messener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergut-machung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 S. 2 GVG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG).

Vorliegend kann dahinstehen, ob das sich ab Klageeingang am 23. März 2016 bis zur Rücknahme der Klage am 15. März 2019 über etwa drei Jahre hinziehende Ver-fahren eine unangemessene Dauer aufweist. Zweifel daran erscheinen vorliegend durchaus geboten. Denn maßgebend für die Beurteilung der Verfahrensdauer sind gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG die Umstände des Einzelfalls, insbesondere das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritten sowie die Schwierigkeit, Komplexität und Bedeutung des Verfahrens, wobei nicht nur die Bedeutung für den auf Entschä-digung klagenden Verfahrensbeteiligten aus der Sicht eines verständigen Betroffenen von Belang ist, sondern auch die Bedeutung für die Allgemeinheit (BSG, Urteil vom 12.02.2015, B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 34, vgl. BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris). Schließlich ergibt erst eine wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/16 R - juris, Rn. 33). Vor diesem Hintergrund wäre vorlie-gend sehr wohl zu beachten, dass das Verfahren zwar tatsächlich seitens des Ge-richts über einen längeren Zeitraum hinweg nicht gefördert wurde, allerdings auch weder der hiesige Kläger bzw. sein Bevollmächtigter noch das damals beklagte Job-center es für nötig erachteten, das Gericht davon zu informieren, dass das Jobcenter am 15. April 2016 den Ersetzungsantrag gestellt hatte und dem Kläger auf seinen entsprechenden Antrag vom 17. Mai 2016 vom Rentenversicherungsträger mit Bescheid vom 06. Juni 2016 eine Altersrente für Schwerbehinderte bewilligt worden war. Spätestens ab diesem Zeitpunkt - und damit bereits knapp drei Monate ab Klageerhebung - dürfte kaum mehr ein echtes Interesse des Klägers am Verfahren bestanden haben, wofür auch spricht, dass seinerseits nicht eine einzige Sachstandsanfrage erfolgte.

Selbst wenn hier jedoch von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen sein sollte, wäre dies irrelevant. Denn es fehlt an einer ordnungsgemäßen Verzöge-rungsrüge. Die am 20. Februar 2019 erhobene Rüge ist verspätet.

Auch wenn § 198 Absatz 3 GVG - anders als in Satz 1 und 2 1. Halbsatz bzgl. des frühestmöglichen Zeitpunkts, zu dem eine Verzögerungsrüge wirksam erhoben wer-den kann - keine ausdrückliche Regelung dazu enthält, bis wann diese spätestens bei Gericht eingegangen sein muss, bedeutet dies entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass eine Verzögerungsrüge beliebig spät an das Gericht herangetragen wer-den kann. Im Gegenteil ergibt sich bereits aus der Gesetzesbegründung (vgl. inso-weit BT-Drucksache 17/3802, Seite 20 zu Absatz 3 Satz 1), dass ebenso wie das gänzliche Fehlen einer Verzögerungsrüge auch deren Verspätung von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Weiter lässt sich der Zeitpunkt, ab dem eine Verzögerungsrü-ge als verspätet anzusehen ist, unschwer anhand des sich ebenfalls aus der Geset-zesbegründung ergebenden, mit der Rüge verbundenen Zwecks bestimmen. Denn dort (BT-Drucksache 17/3802, Seite 20 zu Absatz 3 Satz 1) heißt es:

"Die Koppelung des Entschädigungsanspruchs an eine Rügeobliegenheit im Ausgangsverfahren verfolgt eine doppelte Intention: Zum einen soll die Verzö-gerungsrüge dem bearbeitenden Richter - soweit erforderlich - die Möglichkeit zu einer beschleunigten Verfahrensförderung eröffnen und insofern als Vorwar-nung dienen, ohne allerdings ein eigenständiges Verfahren einzuleiten oder eine Pflicht zur förmlichen Entscheidung auszulösen. Sie muss mit Blick auf diese "Warnfunktion" bei dem Gericht erhoben werden, bei dem das Verfahren an-hängig ist. Zum zweiten bewirkt die Obliegenheit der Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren gegenüber dem Betroffenen einen Ausschluss der Möglich-keit zum "Dulde und Liquidiere". Insgesamt dient die Rügeobliegenheit daher präventiv sowohl der Verfahrensbeschleunigung als auch der Missbrauchsab-wehr".

Gemessen daran ist die am 20. Februar 2019 bei Gericht eingegangene Verzöge-rungsrüge vom selben Tag verspätet. Sie wurde erstmals nach fast dreijähriger Ver-fahrensdauer erhoben, als das Sozialgericht bereits mit richterlicher Verfügung vom 14. Februar 2019 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19. März 2019 anbe-raumt und den damaligen Beklagten und den Kläger mit – diesen am 19. bzw. 20. Februar 2019 – zugestellten Schreiben vom 18. Februar 2019 zum Termin gela-den und dem Bevollmächtigten den Termin mit Schreiben vom selben Tage mitgeteilt hatte. Das Gericht hatte mit dem Absenden der Ladungen zur mündlichen Verhand-lung bzw. der Terminsmitteilung alles dafür getan, das Verfahren nunmehr am 19. März 2019 abzuschließen. Am 20. Februar 2019 konnte die Verzögerungsrüge das Gericht daher nicht mehr zur Verfahrensbeschleunigung veranlassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung.

Anlass, die Revision nach §§ 160 Abs. 2 Nr. 1, 202 Satz 2 SGG, 201 Abs. 2 Satz 3 GVG zuzulassen, bestand nicht.
Rechtskraft
Aus
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