L 9 SO 48/20 B ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 22 SO 5/20 ER (SG Kiel)
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 9 SO 48/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Weder die Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente noch die Nichtinformation des Sozialhilfeträgers über von diesem erwartete Mitwirkungshandlungen im Erwerbsminderungsrentenverfahren vermag grundsätzlich eine Teilversagung von Hilfe zum Lebensunterhalt zu rechtfertigen.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 18. März 2020 aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller seit dem 6. April 2020 vorläufig bis zum 30. Juni 2020, längstens jedoch bis zum Eintritt der Bestandskraft des Teilversagungsbescheids vom 19. Februar 2020 Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des vollen Regelsatzes von 432,00 EUR zu zahlen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I.

Mit Schreiben vom 15. Januar 2020 forderte der Antragsgegner den Antragsteller, der bei ihm seit Jahren im Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt steht, zum wiederholten Mal unter Bezugnahme auf den sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz und seine Mitwirkungspflichten dazu auf, mit der Deutschen Rentenversicherung Nord einen Termin zur Weiterverfolgung seines Antrags auf Rente wegen voller Erwerbsminderung zu vereinbaren und diesen auch wahrzunehmen sowie auf Anforderung der Deutschen Rentenversicherung Nord medizinische Unterlagen über seinen Gesundheitszustand vorzulegen. Er setzte dem Antragsteller eine Frist zum Nachweis der verlangten Handlungen bis zum 12. Februar 2020, die der Antragsteller verstreichen ließ.

Mit Bescheid vom 19. Februar 2020 versagte der Antragsgegner die Leistungen ab März 2020 bis zur Nachholung der Mitwirkung in Höhe von 50 Prozent des Regelsatzes. Zur Begründung nahm er auf die Mitwirkungspflichten des Antragstellers gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Nord Bezug. Insbesondere verstoße die langjährige Weigerung, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, gegen die Verpflichtung aus § 62 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Im Rahmen der Ermessensentscheidung führte er aus, dass keine Gründe ersichtlich seien, warum es dem Antragsteller nicht zuzumuten sei, an der Rentenantragstellung mitzuwirken.

Mit Bewilligungsbescheid vom 25. Februar 2020 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für den Monat März 2020 Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 829,86 EUR und berücksichtigte dabei neben Unterkunfts- und Heizkosten sowie den Krankenversicherungsbeiträgen einen gekürzten Regelsatz in Höhe von 216,00 EUR. Er wies den Antragsteller darauf hin, dass der Bescheid kein Dauerverwaltungsakt sei, sondern die Leistungen für die Folgemonate durch Zahlung dieses Betrags konkludent weiterbewilligt würden, sofern kein neuer Bescheid ergehe.

Gegen diese Bescheide legte der Antragsteller am 26. Februar 2020 Widerspruch ein.

Den am 27. Februar 2020 beim Sozialgericht Kiel gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet auf Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des vollen Regelsatzes hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 18. März 2020 abgelehnt. Der Antragsgegner könne den Antragsteller zur Mitwirkung im Rentenverfahren verpflichten und Leistungen bei einer ausgebliebenen Mitwirkung entsprechend kürzen. Dies entspreche der ständigen Rechtsprechung des Sozialgerichts Kiel wie auch des 9. Senats des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts. Dabei sei der tatsächliche Stand des Rentenverfahrens für die Leistungsminderung nicht entscheidungserheblich. Die Verletzung der Mitwirkungspflicht liege nicht direkt im Handeln des Antragstellers gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Nord, sondern darin, dass der Antragsteller Unterlagen über seine Mitwirkung im Rentenverfahren nicht beim Antragsgegner eingereicht habe. Der Antragsgegner habe den Antragsteller über seine Mitwirkungspflicht ordnungsgemäß belehrt und sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Insbesondere sei der Umfang der Versagung nicht zu beanstanden.

Gegen den ihm am 19. März 2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 24. März 2020 Beschwerde beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben.

Zur Begründung macht er u.a. geltend, dass der Antragsgegner die ihm auferlegten Mitwirkungshandlungen von Rechts wegen nicht verlangen könne. Er habe außerdem in der Vergangenheit stets mitgewirkt, insbesondere der Deutschen Rentenversicherung Nord wiederholt Schweigepflichtsentbindungserklärungen übersandt. Eine Pflicht, selbst bei der Deutschen Rentenversicherung Nord vorstellig zu werden, um einen Termin zu vereinbaren, habe er nicht. Wenn die Deutsche Rentenversicherung Nord eine ärztliche Begutachtung verlangt, habe sie ihn dazu aufzufordern. Es sei allerdings zu berücksichtigen, dass er seit Langem arbeits- und reiseunfähig sei.

Er beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 18. März 2020 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er nimmt auf Bezug auf seine Bescheide und den angefochtenen Beschluss und verweist auf einen mutmaßlich versagenden Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Nord vom 11. Dezember 2019, dessen Inhalt ihm nicht bekannt sei, weil der Antragsteller ihn bisher nicht vorgelegt und die Deutsche Rentenversicherung Nord aus Datenschutzgründen die Übersendung verweigere.

Dem Senat haben die Leistungsakten des Antragsgegners vorgelegen. Auf diese Akten und auf die Gerichtsakte wird wegen des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg.

Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Sie ist statthaft, weil die Berufung in der Hauptsache nicht der Zulassung bedürfte (§§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Angesichts der Kürzung des Regelsatzes um monatlich 216,00 EUR und eines maximalen Verpflichtungszeitraums im Eilverfahren von sechs Monaten ist die Wertgrenze von 750,00 EUR überschritten.

Die Beschwerde ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG, die das Sozialgericht im Einzelnen zutreffend definiert hat – der Senat nimmt darauf gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG Bezug –, liegen vor, weil der Antragsteller sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht hat.

Der Antragsteller hat Anspruch auf Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des ungekürzten Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 gemäß § 27a Abs. 3 i.V.m. der Anlage zu § 28 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in Höhe von 432,00 EUR. Er gehört unstreitig zum leistungsberechtigten Personenkreis der Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 SGB XII), verfügt unstreitig über kein zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen und es liegen unstreitig keine Anhaltspunkte für eine abweichende Regelsatzfestsetzung (§ 27a Abs. 4 SGB XII) vor. Die Zahlung von lediglich 50 Prozent des Regelsatzes der Regelbedarfsstufe 1 beruht vielmehr ausschließlich auf der Teilversagungsentscheidung des Antragsgegners vom 19. Februar 2020, an deren Rechtmäßigkeit ernstliche Zweifel bestehen (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts lässt sich diese Entscheidung nicht auf § 66 Abs. 1 SGB I stützen. Nach dieser Vorschrift kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt, hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird und soweit deshalb die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Diese Vor¬aussetzungen liegen nicht vor.

Soweit der Antragsgegner in seinem Bescheid vom 19. Februar 2020 auf Mitwirkungspflichten gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Nord abhebt, für deren Erfüllung der Antragsteller innerhalb der in der Mitwirkungsaufforderung vom 15. Januar 2020 gesetzten Frist keinen Nachweis erbracht habe, ist § 66 Abs. 1 SGB I schon deshalb keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für eine Versagungsentscheidung, weil diese Vorschrift nur die Folgen eines Verstoßes gegen Mitwirkungsobliegenheiten in dem von dem in § 66 Abs. 1 SGB I genannten Leistungsträger geführten Verwaltungsverfahren betrifft, nicht dagegen Mitwirkungsverstöße in einem Verwaltungsverfahren eines anderen Leistungsträgers, die sich im Hinblick auf den Nachranggrundsatz lediglich mittelbar auf den materiellen Leistungsanspruch auswirken können. Davon geht inzwischen erkennbar auch der Bundesgesetzgeber aus, wenn er durch Gesetz vom 26. Juli 2016 (BGBl. I S. 1824) mit Wirkung vom 1. Januar 2017 in § 5 Abs. 3 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) explizit einen gesonderten Versagungs- und Entziehungstatbestand gerade für den Fall geschaffen hat, dass vorrangige Leistungen von einem anderen Träger bestandskräftig versagt oder entzogen worden sind. Eine solche Regelung hat der Gesetzgeber im Zwölften Buch aber gerade nicht getroffen und die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II lägen hier wahrscheinlich – insbesondere was die Bestandskraft einer Versagungs- oder Entziehungsentscheidung der Deutschen Rentenversicherung Nord anbelangt – auch nicht vor, so dass sich die Frage einer analogen Anwendung nicht stellt.

Soweit das Sozialgericht im angefochtenen Beschluss darauf abstellt, dass Gegenstand der Versagungsentscheidung nicht die Mitwirkungsverletzung im Rentenverfahren, sondern die unterbliebene Einreichung von Nachweisen über Mitwirkungshandlungen gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Nord sei, trägt auch dies eine auf § 66 Abs. 1 SGB I gestützte Versagungsentscheidung nicht. Denn die Mitwirkungshandlungen gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Nord, über deren Erfüllung der Antragsgegner mit den dem Antragsteller im Schreiben vom 15. Januar 2020 auferlegten Nachweispflichten Auskunft begehrt, sind nicht im engeren Sinne leistungsrelevant, so dass durch die Verletzung dieser Nachweispflichten die Aufklärung des – entscheidungserheblichen – Sachverhalts auch nicht wesentlich erschwert werden kann. Deshalb kann offenbleiben, ob diese Nachweise nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I überhaupt verlangt werden können. Weder die Vereinbarung eines Termins zur ärztlichen Begutachtung noch die Übergabe von medizinischen Unterlagen an die Deutsche Rentenversicherung Nord können sich für sich genommen auf die Leistungsberechtigung dem Grunde nach oder auf die Höhe des Leistungsanspruchs auswirken; der Kenntnis von diesen Umständen, deren Durchsetzung das Versagungsverfahren dient, bedarf die leistungssachbearbeitende Person für die Bestimmung des Leistungsanspruchs des Antragstellers nicht. Etwas Anderes könnte ggf. für die Übermittlung des Bescheids der Deutschen Rentenversicherung Nord vom 11. Dezember 2019 gelten, bei dem es sich auch um einen Bewilligungsbescheid handeln könnte. Doch einerseits geht der Antragsgegner davon selbst nicht aus und andererseits hat er seine Versagungsentscheidung gerade nicht auf die fehlende Übermittlung dieses Bescheids gestützt.

Der für die Bewilligung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt erhebliche Sachverhalt ist insoweit auch nach Auffassung des Antragsgegners insoweit geklärt, als der Antragsteller über kein Einkommen oder Vermögen verfügt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs führen würde (§ 27 Abs. 2 Satz 1 SGB XII).

Etwas Anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn die Mitwirkung im Verwaltungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung Nord materiellrechtliche Leistungsvoraussetzung für den Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt wäre. Diesen Zusammenhang versucht der Antragsgegner herzustellen, indem er sowohl in seinem Mitwirkungsschreiben vom 15. Januar 2020 als auch in seinem Teilversagungsbescheid vom 19. Februar 2020 auf den Nachranggrundsatz und die Selbsthilfeobliegenheit aus § 2 Abs. 1 SGB XII abhebt. Allerdings hat das Bundessozialgericht bereits wiederholt entschieden, dass der Nachranggrundsatz nach § 2 Abs. 1 SGB XII kein negatives Tatbestandsmerkmal des Leistungsanspruchs im Sinne einer eigenständigen Ausschlussnorm ist und dass eine auf § 2 Abs. 1 SGB XII gestützte Ablehnung des Leistungsanspruchs ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII allenfalls in extremen Ausnahmesituationen denkbar ist, etwa wenn sich der Leistungsberechtigte generell eigenen Bemühungen verschließt und vorrangige Ansprüche ohne Weiteres realisierbar sind (BSG, Urteil vom 22. März 2012 – B 8 SO 30/10 RBSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 6, juris Rn. 25 m.w.N.).

Eine solche Ausnahmesituation liegt hier nicht vor. Dabei braucht nicht vertieft zu werden, ob der Antragsteller sich vorliegend generell eigenen Bemühungen zur Realisierung eines Anspruchs auf Erwerbsminderungsrente verschließt. Dagegen spricht allerdings, dass der Antragsteller sich auch gegen die Versagungsentscheidungen der Deutschen Rentenversicherung Nord gerichtlich zur Wehr gesetzt hat, mit der Folge, dass eine bestandskräftige Entscheidung soweit ersichtlich bis heute nicht vorliegt und dass er in Verfahren bis zum Bundessozialgericht den Anspruch auf materielle Bescheidung seines Rentenanspruchs verfolgt hat. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Antragsteller auch in diesem Verfahren eine ärztliche Bescheinigung seines Hausarztes vom 7. Januar 2020 beigebracht hat, der ihn für nicht reisefähig hält.

Zumindest aber ist der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente nicht offensichtlich und ohne Weiteres durchsetzbar. Denn selbst wenn der Antragsteller heute als voll erwerbsgemindert zu gelten hat, wovon auch der Antragsgegner ersichtlich ausgeht, ist nicht sicher, dass er bereits zu einem Zeitpunkt erwerbsgemindert war, in dem auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (insbesondere die 3/5-Bele-gung) noch vorgelegen haben. Ebenso wenig ist sicher, dass eine medizinische Begutachtung heute dies für den besagten früheren Zeitpunkt zwingend ergeben würde.

Soweit der Senat diese Frage in der Vergangenheit, insbesondere in seinem Beschluss vom 14. April 2016 – L 9 SO 47/16 B ER noch anders beurteilt hat, hält er an dieser Rechtsprechung nicht mehr fest.

Der Antragsteller hat für die Zukunft auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Die Sache ist eilbedürftig, weil dem Antragsteller existenzsichernde Leistungen in erheblichem Umfang vorenthalten werden.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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