S 43 AS 3703/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
43
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 43 AS 3703/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Fehlgeldentschädigungen, die einem im Kassen- und Zähldienst tätigen Leistungsberechtigten (hier: Taxifahrer) vom Arbeitgeber mit dem Lohn gezahlt werden, sind – unabhängig von ihrer Höhe (hier: 16,00 € monatlich) – Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Sinne des § 11b Abs. 3 SGB II.
Der Beklagte wird unter Änderung des endgültigen Festsetzungsbescheides vom 02.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2016 verurteilt, den Klägern weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für März 2015 von 3,20 EUR, für April 2015 von 1,60 EUR und für Mai 2015 von 1,60 EUR zu gewähren.

Die Erstattungsbescheide vom 02.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2016 werden aufgehoben, soweit von den Klägern insgesamt ein Betrag von mehr als 842,05 EUR erstattet verlangt wird.

Der Beklagte hat den Klägern deren notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren höhere Leistungen unter Berechnung des Erwerbstätigenfreibetrages auch aus den dem Kläger zu 1) von seinem Arbeitgeber gewährten Fehlgeldentschädigungen.

Der 1989 geborene Kläger zu 1) war 2015 als Taxisfahrer bei der N. GmbH angestellt. Er bezog mit seiner Frau, der 1990 geborenen Klägerin zu 2) und der gemeinsamen Tochter, der 2014 geborenen Klägerin zu 3), Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (ALG II) vom Beklagten.

Der Beklagte gewährte den Klägern auf deren Weiterbewilligungsantrag mit Bescheiden vom 25.11.2014 und 01.12.2014 für den Zeitraum vom 01.12.2014 bis 31.05.2015 zunächst – wegen des schwankenden Einkommens des Klägers zu 1) – vorläufig ALG II.

Nach Vorliegen der Lohnabrechnungen (Bl. 726-729 und 760-761 des Verwaltungsvorgangs) gewährte der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 02.11.2015 für den Zeitraum vom 01.12.2014 bis 31.05.2015 endgültig ALG II und verlangte die Erstattung von vorläufig zu Unrecht erbrachten Leistungen von insgesamt 848,45 EUR (jeweils 368,36 EUR von den Klägern zu 1) und 2) und 111,73 EUR von der Klägerin zu 3)). Hierbei berücksichtigte der Beklagte die im Zeitraum vom 01.12.2014 bis 31.05.2015 nach den vorliegenden Lohnabrechnungen erzielten Netto-Löhne sowie die vom Arbeitgeber im Zeitraum vom 01.03.2015 bis 31.05.2015 gewährten und ebenfalls in den Lohnabrechnungen ausgewiesenen Fehlgeldentschädigungen von monatlich 16,00 EUR. Von den so erzielten Einnahmen zog der Beklagte Freibeträge ab, die er (nur) aus den Brutto-Löhnen gemäß der Lohnabrechnungen, nicht aber auch aus den ab März 2015 gewährten Fehlgeldentschädigungen berechnete.

Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2016 zurück und führte zur Begründung aus, Berechnungsgrundlage für den Freibetrag nach § 11b Abs. 3 SGB II sei bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gemäß § 2 Abs. 1 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (ALG II-VO) das monatliche Bruttoeinkommen im Sinne des § 14 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). § 17 Abs. 1 SGB IV sehe vor, dass durch Rechtsverordnung bestimmt werden könne, dass einmalige Einnahmen oder laufende Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse oder ähnliche Einnahmen, die zusätzlich zu Löhnen oder Gehältern gewährt werden und steuerfreie Einnahmen ganz oder teilweise nicht als Arbeitsentgelt gelten, wobei eine möglichst weitgehende Übereinstimmung mit den Regelungen des Steuerrechts sicherzustellen sei. Insoweit sei die Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (Sozialversicherungsentgeltverordnung – SvEV) vom 21.12.2006 erlassen worden. Nach Maßgabe dieser gesetzlichen Vorgaben sei die dem Widerspruchsführer im streitigen Zeitraum von März bis Mai 2015 gewährte Fehlgeldentschädigung von monatlich 16,00 EUR nicht dem laufenden Bruttoarbeitsentgelt hinzuzurechnen, so dass nicht aus diesem Gesamtbetrag die Erwerbstätigenfreibeträge hätten errechnet werden müssen. Bei der Fehlgeldentschädigung handele es sich nicht um Arbeitsentgelt im Sinne des § 14 Abs. 1 SGB IV. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 SvEV seien dem Arbeitsentgelt nicht zuzurechnen einmalige Einnahmen, laufende Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, die zusätzlich zu Löhnen und Gehältern gewährt werden, soweit sie lohnsteuerfrei sind. Nach R 19.3 I Nr. 4 der maßgeblichen Lohnsteuerrichtlinie 2011/2013 (LStR) würden zum Arbeitslohn pauschale Fehlgeldentschädigungen gehören, die Arbeitnehmern im Kassen- und Zähldienst gezahlt würden, soweit sie 16,00 EUR im Monat überstiegen. Daraus folge, dass für Fehlgeldentschädigungen, soweit sie über den Betrag von 16,00 EUR hinausgingen, Steuerpflicht und damit auch Beitragspflicht in der Sozialversicherung bestehe. Da die Fehlgeldentschädigung des Klägers lediglich 16,00 EUR monatlich betrage, ist sie in vollem Umfange steuer- und sozialversicherungsfrei. Dementsprechend habe der Arbeitgeber des Widerspruchsführers – wie ein Blick in die Entgeltabrechnungen erhelle – insoweit auch keine Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge entrichtet. Stelle die Fehlgeldentschädigung sonach kein Einkommen im Sinne des § 14 SGB IV dar, sei dieses auch nicht dem laufenden Grundgehalt des Widerspruchsführers zuzurechnen und die Erwerbstätigenfreibeträge nicht daraus zu ermitteln.

Mit ihrer Klage vom 10.03.2016 verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie sind der Auffassung, die Freibeträge hätten aus dem Bruttoeinkommen gemäß der Lohnbescheinigungen zuzüglich der Fehlgeldentschädigungen berechnet werden müssen. Der Beklagte habe im Widerspruchsbescheid umfangreich ausgeführt, dass es sich bei der berücksichtigten Fehlgeldentschädigung nicht um Arbeitseinkommen im Sinne des § 14 SGB IV handele. Diese Ausführungen seien jedoch für die Berechnung des Einkommens nach dem SGB II irrelevant. Da die Fehlgeldentschädigung aus der Erwerbstätigkeit erzielt worden sei, sei dieses mithin auch in die Freibetragsberechnung einzubeziehen.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Änderung des endgültigen Festsetzungsbescheides vom 02.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2016 zu verurteilen, ihnen weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate März bis Mai 2015 in gesetzlicher Höhe zu gewähren sowie

die Erstattungsbescheide vom 02.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2016 entsprechend teilweise aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist zur Begründung im Wesentlichen auf seine Ausführungen in den angegriffenen Bescheiden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte mit den Schriftsätzen der Beteiligten nebst Anlagen sowie den Inhalt der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Kläger haben Anspruch auf (etwas) höhere Leistungen, weil vom Einkommen des Klägers zu 1) Freibeträge auch auf die ihm gewährten Fehlgeldentschädigungen abzusetzen sind.

Gemäß § 11b Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ist bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die erwerbstätig sind, von dem monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit ein weiterer Betrag abzusetzen. Dieser beläuft sich 1. für den Teil des monatlichen Einkommens, das 100,00 EUR übersteigt und nicht mehr als 1000,00 EUR beträgt, auf 20 Prozent und 2. für den Teil des monatlichen Einkommens, das 1000,00 EUR übersteigt und nicht mehr als 1200,00 EUR beträgt, auf 10 Prozent.

Vorliegend handelt es sich bei den Fehlgeldentschädigungen unstreitig um anrechenbares Einkommen im Sinne des § 11 SGB II. Streitig zwischen den Beteiligten ist allein, ob es sich bei den Fehlgeldentschädigungen um Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Sinne des § 11 Abs. 3 SGB II handelt, auf das dann (noch) ein Freibetrag von 20% oder 10% zu gewähren ist, je nachdem, ob das übrige (unstreitige) Einkommen aus Erwerbstätigkeit den Betrag von 1000,00 EUR überschreitet oder nicht.

Der Begriff "Einkommen aus Erwerbstätigkeit" ist nicht gleichzusetzen mit dem Begriff des Arbeitsentgelts gemäß § 14 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Diese Vorschrift gilt nach dem sachlichen Geltungsbereich des SGB IV (§ 1 SGB IV) nicht für die Grundsicherung für Arbeitssuchende. Auch das Bundessozialgericht (BSG) konstatiert, dass das SGB II eine Definition des Tatbestandsmerkmals "Einkommen aus Erwerbstätigkeit" selbst nicht biete. Es könne insoweit auch nicht – auch nicht als Indiz – auf § 14 Abs. 1 SGB IV zurückgegriffen werden (BSG, Urteil vom 14.03.2012, B 14 AS 18/11 R, juris, Rn 13).

Vielmehr ist gemäß § 2 Abs. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (ALG II-VO) bei der Berechnung des Einkommens aus nichtselbständiger Arbeit von den Bruttoeinnahmen auszugehen und gemäß § 2 Abs. 6 ALG II-VO sonstige Einnahmen in Geldeswert mit ihrem Verkehrswert als Einkommen anzusetzen. Der Verweis des Verordnungsgebers in § 2 Abs. 1 ALG II-VO auf § 14 SGB IV kann nur so verstanden werden, als er einen Anhalt für die Einordnung einer Arbeit als nichtselbständig (in Abgrenzung zu einer selbständigen Tätigkeit im Sinne des § 15 SGB IV bzw. § 3 ALG II-VO) bieten soll.

Danach kann den Ausführungen des Beklagten im Widerspruchsbescheid weder im Ansatz, noch im Ergebnis gefolgt werden. Zu Unrecht prüft der Beklagte – losgelöst vom Begriff "Einkommen aus Erwerbstätigkeit" – allein, ob die Fehlgeldentschädigung Arbeitsentgelt im Sinne des § 14 SGB IV darstellt. Weil dies aufgrund der gemäß § 17 SGB IV erlassenen SvEV iVm mit der LStR zu verneinen sei, sei die Fehlgeldentschädigung nicht dem Grundgehalt zuzurechnen und entsprechend keine Erwerbstätigenfreibeträge daraus zu ermitteln. Dem folgt die Kammer nicht.

Ob die Einnahme sozialversicherungspflichtig ist und/oder der (Einkommens-)Steuerpflicht unterliegt, ist gerade unerheblich (vgl. Schmidt, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 11b, Rn 34). Dies hat der Beklagte hinsichtlich der vom Arbeitgeber gewährten weder steuerpflichtigen noch sozialversicherungspflichtigen Zulagen gemäß § 3b EStG auch beachtet. Soweit der Beklagte – dazu im Widerspruch – bei der Einordnung der Fehlgeldentschädigung als Erwerbs- oder sonstiges Einkommen über § 1 SvEV iVm der LStR auf die Lohnsteuerpflichtigkeit abstellt, überzeugt dies die Kammer nicht, zumal sich das Ergebnis nach einer steuerrechtlichen Vorschrift und danach richten soll, ob die Fehlgeldentschädigung den Betrag von 16,00 EUR übersteigt (dann lohnsteuerpflichtig und mithin Erwerbseinkommen) oder nicht (dann nicht lohnsteuerpflichtig und kein Erwerbseinkommen.

Wie bereits ausgeführt, gilt § 14 SGB IV gemäß § 1 SGB IV nicht für das Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende. § 17 SGB IV ermächtigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gesetzgeberisch tätig zu werden "zur Wahrung der Belange der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung, zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung oder zur Vereinfachung des Beitragseinzugs". Hierunter fällt die Bestimmung, was als Erwerbseinkommen im Sinne des § 11b SGB II zu gelten hat, offensichtlich nicht. Vielmehr ist das BMAS in § 13 SGB II u. a. ermächtigt worden zu bestimmen, wie Einkommen (im Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende) zu berechnen ist. Nach der insoweit erlassenen ALG II-VO ist gemäß ihres § 2 Abs. 1 zur Bestimmung von Einkommen aus nichtselbständiger Tätigkeit – unstreitig eine Erwerbstätigkeit wie sie der Kläger zu 1) im streitigen Zeitraum ausübte – von den Bruttoeinnahmen "auszugehen". Bereits diese Formulierung macht deutlich, dass weitere, neben die Bruttoeinnahmen tretenden, Einnahmen als Einkommen aus nichtselbständiger Tätigkeit gelten (können). Wenn § 2 Abs. 5 und 6 SGB II sogar den Wert der vom Arbeitgeber bereitgestellten Verpflegung und auch sonstige Einnahmen in Geldeswert als Einkommen aus der nichtselbständigen Arbeit deklariert, dann gilt dies erst Recht für eine vom Arbeitgeber in Geld gewährte Fehlgeldentschädigung.

Im Ergebnis ist für die Einordnung einer Einnahme als Einkommen aus Erwerbstätigkeit allein entscheidend, dass sie dem Leistungsberechtigten von seinem Arbeitgeber im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses gewährt worden ist. Dies ist bei der hier streitigen Fehlgeldentschädigung der Fall.

Da das übrige (unstreitige) Erwerbseinkommen des Klägers zu 1) im März 2015 den Betrag von 1000,00 EUR nicht überschreitet und auch mit der Fehlgeldentschädigung diesen Betrag nicht erreicht, ergibt sich für März 2015 gemäß § 11b Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II ein um 3,20 EUR höherer Freibetrag (20% von 16,00 EUR) und damit auch ein um 3,20 höherer Leistungsanspruch der Kläger. Demgegenüber kann der Kläger zu 1) für die Monate April und Mai 2015 gemäß § 11b Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB II nur einen weiteren Freibetrag von jeweils 1,60 EUR beanspruchen (10% von 16,00 EUR), da sein übriges, bereits um Freibeträge bereinigtes Einkommen über 1000,00 EUR (aber unter 1.200,00 EUR bzw. 1.500 EUR) liegt. Die Kläger haben daher in den Monaten April und Mai 2015 einen um jeweils 1,60 EUR höheren Leistungsanspruch.

Da die Kläger endgültig einen um 6,40 EUR höheren Leistungsanspruch haben, fällt die Erstattungsforderung gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II aF iVm § 328 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) entsprechend geringer aus, als vom Beklagten verfügt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und folgt dem Ergebnis in der Sache.

Nach Auffassung der Kammer war die Berufung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Die Rechtsfrage der Einordung einer Fehlgeldentschädigung als Erwerbs- oder sonstiges Einkommen im Rahmen von Beschäftigungsverhältnissen im Kassen- und Zähldienst – wie hier einer Taxifahrertätigkeit – betrifft eine Vielzahl von Fällen. Hierzu liegen bisher (ober-)gerichtliche Entscheidungen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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