L 4 AS 72/18

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 16 AS 1348/17
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 72/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Februar 2018 wird aufgehoben. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 12. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 verpflichtet, den Antrag der Klägerin vom 16. Dezember 2010 auf Überprüfung der Bescheide vom 11. Oktober 2006, 8. Mai 2007, 2. Juni 2007, 28. August 2007, 12. Februar 2008, 2. Juli 2008, 8. Juli 2008, 16. Juli 2008, 29. Juli 2008, 18. September 2008, 16. Oktober 2008, 30. April 2009, 19. Mai 2009, 7. Juni 2009, 13. Juli 2009, 3. September 2009, 3. November 2009, 25. Februar 2010, 23. März 2010, 28. April 2010, 2. Juni 2010 sowie 1. September 2010 hinsichtlich der Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung in der Sache zu prüfen und neu zu bescheiden.
2. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die inhaltliche Überprüfung der ihr gewährten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für Unterkunft und Heizung auch für Zeiträume zwischen 2006 und 2010.

Die 1962 geborene Klägerin bezog seit Januar 2005 in Bedarfsgemeinschaft mit ihren 1995 und 1997 geborenen Kindern (unter der BG-Nummer) laufend (teilweise aufstockend) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts SGB II. Bei der Leistungsberechnung wurden zunächst die der Klägerin entstehenden tatsächlichen Unterkunftskosten berücksichtigt. Nach Durchführung eines Kostensenkungsverfahrens wurden ab dem 1. September 2005 nur noch die vom Beklagten entsprechend der jeweils gültigen Fachanweisung der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration als angemessen anerkannten, niedrigeren, Unterkunftskosten berücksichtigt. In den Zeiträumen von Dezember 2008 bis Februar 2009, von November 2010 bis Mai 2011 und von November 2011 bis Januar 2012 bezog die Klägerin keine Leistungen vom Beklagten.

Am 30. September 2013 erhob die Klägerin, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, beim Sozialgericht Hamburg eine Untätigkeitsklage gegen den Beklagten, mit der sie die Bescheidung ihres Antrags vom 16. Dezember 2010 begehrte (S 26 AS 3086/13). Zur Begründung führte sie aus, sie habe am 16. Dezember 2010 einen Antrag gestellt, der bis heute nicht beschieden worden sei. Beigefügt war ein Schreiben des Bevollmächtigten der Klägerin mit Datum 16. Dezember 2010 an den Beklagten, mit dem "zur Fristwahrung" Anträge gem. § 44 SGB X "sämtliche Leistungsbescheide betreffend gestellt" wurden, "soweit nicht die tatsächlichen Kosten der Unterkunft anerkannt und ausgekehrt wurden". Im Adressfeld hieß es "Nur per Fax: 85", vor der Anrede war die BG-Nummer der Klägerin mit "" angegeben. Der Name der Klägerin wurde nicht genannt. Beigefügt war ferner ein Schreiben an den Beklagten vom 12. September 2013, mit dem – ebenfalls nur per Fax und unter Angabe der BG-Nummer, aber nicht des Namens der Klägerin – an den Antrag vom 16. Dezember 2010 erinnert und eine Bescheidung unter Fristsetzung bis zum 27. September 2013 angemahnt wurde. Bei der Nummer 85 handelte es sich um eine Fax-Nummer des Beklagten.

Der Beklagte nahm zu der Untätigkeitsklage dahingehend Stellung, ein Überprüfungsantrag vom 16. Dezember 2010 sei nicht gestellt worden, da ein Eingang des Schreibens nicht festgestellt werden könne. Der Bevollmächtigte der Klägerin habe zum Zweck der Prüfung eines Antrags nach § 44 SGB X mit Schreiben vom 16. September 2010 Akteneinsicht beantragt, dieses Schreiben sei in die Leistungsakte gelangt. Eine Antragstellung sei dann jedoch nicht erfolgt. Dem Beklagten sei erstmals mit dem Schreiben vom 12. September 2013 der Antrag vom 16. Dezember 2010 übersandt worden.

Der Bevollmächtigte der Klägerin legte daraufhin die beglaubigte Kopie eines Faxberichts vor, nach dem das Antragsschreiben vom 16. Dezember 2010 am selben Tag um 14:14 Uhr gefaxt wurde. Als Nummer ist die 85 angegeben, unter "Komm." heißt es "OK". Vorgelegt wurde ferner eine Kopie aus dem Faxjournal, wonach am 16. Dezember 2010 um 14:14 ein einseitiges Fax an die Nummer +494085 gefaxt wurde.

Auf Nachfrage des Sozialgerichts teilte der Beklagte mit, die an ihn gerichteten Fax-Sendungen gingen in einem virtuellen Postfach ein. Sie würden von dort aus an den zuständigen Sachbearbeiter weitergeleitet und anschließend gelöscht. Der Sachbearbeiter drucke die Fax-Sendungen aus und nehme sie zu den Akten. Ein Nachweis des Eingangs könne nach Jahren nicht mehr geführt werden. Die Wiederherstellung gelöschter Daten sei nicht mehr möglich. Die Speicherkapazitäten ließen eine längere Aufbewahrung der Daten nicht zu. Auch der Umstand, dass sich die Sachakten zum Zeitpunkt des Akteneinsichtsgesuchs im September 2010 in der Rechtsstelle befunden hätten (was aus einem Mitteilungsschreiben an den Bevollmächtigten der Klägerin hervorgehe), spreche nicht dafür, dass der Überprüfungsantrag zwar am 16. Dezember 2010 eingegangen, dann aber nicht zu den Akten gelangt sei. Nach Übersendung der Sachakten an die Rechtsstelle werde im Standort eine Behelfsakte geführt. Die im Standort eingehenden Schriftstücke würden nur dann an die Rechtsstelle weitergeleitet, wenn sie für das Widerspruchsverfahren relevant seien. Das sei hier nicht der Fall gewesen. Die Sachakten seien erst im Juni 2012 an den Standort zurückgesandt worden.

Mit Gerichtsbescheid vom 2. September 2016 gab das Sozialgericht der Untätigkeitsklage statt und verurteilte den Beklagten, den mit Schreiben vom 16. Dezember 2010 gestellten Antrag der Klägerin zu bescheiden. In der Begründung führte das Sozialgericht aus, es könne dahinstehen, wann der Antrag zugegangen sei. Denn jedenfalls sei er dem Beklagten als Anlage zur Klagschrift durch das Gericht weitergeleitet worden. Das genaue Zugangsdatum sei eine Frage der materiellen Wirkung des Antrags und im Rahmen der Untätigkeitsklage nicht von Bedeutung. Der Beklagte habe den Antrag zu bescheiden.

Daraufhin schrieb der Beklagte am 12. September 2016 den Bevollmächtigten der Klägerin an und führte aus, der Überprüfungsantrag sei bei ihm erst mit der Klagschrift am 2. Oktober 2013 eingegangen. Eine rückwirkende Überprüfung der Bescheide komme aufgrund der Frist des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X nur für die Zeit bis zum 1. Januar 2012 in Betracht; eine Überprüfung des Zeitraumes vor dem 1. Januar 2012 werde abgelehnt. Der Zeitraum ab dem 1. Mai 2012 sei bereits im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens geprüft worden, das mit Widerspruchsbescheid vom 9. August 2012 geendet habe. Vom 1. November 2011 bis zum 31. Januar 2012 habe die Klägerin keine Leistungen nach dem SGB II bezogen. Für die Monate Februar bis April 2012 würden nunmehr höhere Leistungen für die Unterkunft bewilligt und nachgezahlt, die Einzelheiten seien dem beigefügten Änderungsbescheid zu entnehmen. Ferner erließ der Beklagte am 13. September 2016 einen Änderungsbescheid, mit dem der Klägerin und ihren Kindern für die Monate Februar und März 2012 jeweils Leistungen in Höhe von 261,31 Euro mehr als bisher bewilligt und für den Monat April 2012 Leistungen in Höhe von 148,21 Euro mehr als bisher bewilligt gewährt wurden.

Am 10. Oktober 2016 erhob der Bevollmächtigte der Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 13. September 2016. Zur Begründung führte er aus, der Bescheid sei rechtswidrig, soweit aufgrund des Überprüfungsantrags nicht die Bescheide vom 11. Oktober 2006, 8. Mai 2007, 2. Juni 2007, 28. August 2007, 12. Februar 2008, 2. Juli 2008, 8. Juli 2008, 16. Juli 2008, 29. Juli 2008, 18. September 2008, 16. Oktober 2008, 30. April 2009, 19. Mai 2009, 7. Juni 2009, 13. Juli 2009, 3. September 2009, 3. November 2009, 25. Februar 2010, 23. März 2010, 28. April 2010, 2. Juni 2010 sowie 1. September 2010 dahin gehend abgeändert worden seien, dass Leistungen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten anerkannt und ausgekehrt würden.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2017 zurück. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Überprüfung der Bewilligungsbescheide betreffend den Zeitraum vor dem 1. Januar 2012. Der Überprüfungsantrag sei erst mit Zustellung der Klageschrift am 2. Oktober 2013 beim Beklagten zugegangen. Die im Rahmen der Untätigkeitsklage vorgelegte Fax-Kopie sei nicht geeignet, den Zugang beim Beklagten zu belegen. Dem in der Kopfzeile aufgedruckten Zeitstempel sei lediglich zu entnehmen, dass das Fax am 16. Dezember 2010 um 12:55 [sic!] von der Faxnummer des Bevollmächtigten versendet worden sei. Eine Bestätigung der angewählten Nummer des Adressaten und die Bestätigung, dass die Übersendung erfolgreich sei, lägen nicht vor. Ein sonst durchaus üblicher "Sendebericht" liege ebenfalls nicht vor.

Am 18. April 2017 hat die Klägerin Klage erhoben. Laut Klagschrift sollte sich diese gegen den Bescheid vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 richten. Zur Begründung nahm die Klägerin Bezug auf den Vortrag im Verfahren der Untätigkeitsklage. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 8. Februar 2018 wurde der Klagantrag dann auf den Bescheid vom 12. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 bezogen.

Mit Urteil vom 8. Februar 2018 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Überprüfung der Bewilligungsbescheide für den Zeitraum 2006 bis 2010. Zur Überzeugung der Kammer sei der Überprüfungsantrag dem Beklagten erst mit Zustellung der Klageschrift im Verfahren S 26 AS 3086/13 am 2. Oktober 2013 zugegangen mit der Folge, dass § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung anwendbar sei und der Prüfzeitraum sich nicht auf die Zeit vor dem 1. Januar 2012 erstrecke. Es könne nicht mit dem erforderlichen Vollbeweis festgestellt werden, dass der Überprüfungsantrag vom 16. Dezember 2010 dem Beklagten bereits zu diesem Zeitpunkt auch zugegangen sei. Der auf dem Sendebericht befindliche "OK-Vermerk" sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lediglich ein Indiz für den tatsächlichen Zugang beim Empfänger, begründe aber nicht den Beweis des ersten Anscheins. Er belege nur das Zustandekommen der Verbindung, nicht aber die erfolgreiche Übermittlung der Signale an das Empfangsgerät. Zwar sei gerichtsbekannt, dass sich in den Verwaltungsakten des Beklagten nicht immer jedes bei diesem eingereichte Dokument auch tatsächlich wiederfinde. Doch sei diese generelle Feststellung nicht geeignet, den Erhalt eines konkreten Dokumentes quasi im Umkehrschluss zu beweisen. Gegen einen tatsächlichen Zugang des Überprüfungsantrags am 16. Dezember 2010 spreche, dass ein per Fax an den Beklagten übersandtes Schreiben des Bevollmächtigten der Klägerin vom 16. September 2010 am selben Tag beim Beklagten angekommen und in die Akte genommen worden sei. Auch ein Schriftsatz der Klägerin vom 28. September 2010 habe den Beklagten offenbar auf postalischem Wege erreicht und sei in die Akte aufgenommen worden, sodass sich eine Unvollständigkeit der Akte oder eine bewusste Zugangsverweigerung des Überprüfungsantrags nicht ergebe.

Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 19. Februar 2018 zugestellt.

Am 19. März 2018 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Zur Begründung der Berufung nimmt sie auf die Ausführungen des SG Neuruppin im Gerichtsbescheid vom 28. Februar 2018 – S 26 AS 754/16 und den Gerichtsbescheid des SG Leipzig vom 1. Oktober 2018 – S 28 AS 3862/17 Bezug. Ergänzend führt sie aus, die Unerweislichkeit einer Tatsache gehe grundsätzlich zu Lasten des Beteiligten, der aus ihr eine ihm günstige Rechtsfolge herleiten wolle. Nach den Regeln über die Verteilung der Beweislast sei der Beklagte verpflichtet gewesen, den Zugang substantiiert, mithin in Form der Vorlage von Faxempfangsprotokollen nachzuweisen bzw. falle dieses in seine Sphäre, sodass von einer Beweislastumkehr auszugehen sei.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Februar 2018 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 zu verpflichten, den Antrag der Klägerin vom 16. Dezember 2010 auf Überprüfung der Bescheide vom 11. Oktober 2006, 8. Mai 2007, 2. Juni 2007, 28. August 2007, 12. Februar 2008, 2. Juli 2008, 8. Juli 2008, 16. Juli 2008, 29. Juli 2008, 18. September 2008, 16. Oktober 2008, 30. April 2009, 19. Mai 2009, 7. Juni 2009, 13. Juli 2009, 3. September 2009, 3. November 2009, 25. Februar 2010, 23. März 2010, 28. April 2010, 2. Juni 2010 sowie 1. September 2010 hinsichtlich der Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung in der Sache zu prüfen und neu zu bescheiden

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf das Sitzungsprotokoll und den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Akte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

I. Der Senat konnte in der Sache entscheiden, obwohl die Klägerin zu dem Verhandlungstermin am 27. Februar 2020 nicht erschienen war. Die Klägerin war zu dem Termin mit Schreiben vom 5. Februar 2020, zugestellt am 6. Februar 2020, geladen und darauf hingewiesen worden, dass auch im Falle ihres Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden könne. Die Klägerin war in dem Termin durch ihren Prozessbevollmächtigten vertreten.

II. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 12. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017. Zwar war im Widerspruch, im Widerspruchsbescheid und in der Klagschrift noch der Änderungsbescheid vom 13. September 2016 als angefochten benannt, doch war dies unter Berücksichtigung des tatsächlichen Anliegens der Klägerin dahingehend auszulegen (§ 123 SGG), dass tatsächlich der Bescheid vom 12. September 2016 angefochten werden sollte. Aus dem gesamten Vorbringen der Klägerin ist klar und eindeutig erkennbar, dass die Klägerin sich gegen die Ablehnung ihres Überprüfungsantrags hinsichtlich der im Widerspruchsschreiben genannten Bescheide aus der Zeit von Oktober 2006 bis September 2010 wenden wollte. Dies war aber Gegenstand des Bescheids vom 12. September 2016, der die Überprüfung der Leistungsbewilligungen für die Zeit vom dem 1. Januar 2012 explizit ablehnte. Im Gesamtzusammenhang konnte das Vorbringen der Klägerin daher nur als Anfechtung dieses Ablehnungsbescheids verstanden werden. Insofern war die Umstellung des Klagantrags in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht auf eine Anfechtung des Bescheids vom 12. September 2016 keine Klageänderung, sondern nur eine Klarstellung dessen, was ohnehin von Anfang an begehrt worden war.

III. Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

IV. Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klage ist zulässig und mit dem in der Berufungsinstanz formulierten Antrag, den Beklagten zu einer inhaltlichen Überprüfung der genannten Bescheide zu verpflichten, auch begründet.

Der Bescheid vom 12. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 ist rechtswidrig. Der Beklagte hat eine Überprüfung der Bescheide aus der Zeit vor Dezember 2010 zu Unrecht mit dem Hinweis auf die Jahresfrist nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung vom 13. Mai 2011 i.V.m. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X abgelehnt. Denn § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der Fassung vom 13. Mai 2011 ist hier nicht anwendbar, da der Überprüfungsantrag bereits vor deren Inkrafttreten gestellt wurde. Bei Gesamtschau aller Umstände ist der Senat nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass der Überprüfungsantrag dem Beklagten bereits am 16. Dezember 2010 zugegangen ist. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat die Kopie eines Faxberichts vorgelegt, auf dessen unteren Bereich das Antragsschreiben vom 16. Dezember 2010 gedruckt ist. Dieser weist als Datum den 16. Dezember 2010 aus, als Rufnummer die dem Beklagten zuzuordnende Faxnummer 85. Er gibt die Seitenzahl mit "1" und die Dauer mit 16 Sekunden an. Unter "KOMM." heißt es "OK". Damit korrespondiert die vorgelegte Kopie aus dem Faxjournal, die für den 16. Dezember 2010 einen Ausgang von einer Seite und 16 Sekunden Dauer an die genannte Faxnummer ausweist, auch hier mit einem OK-Vermerk. Zweifel an der Authentizität der Kopien bestehen nicht, zumal diese im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht im Original vorgelegt wurden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für den Zugang eines per Fax übersandten Schriftsatzes nicht auf den Ausdruck durch das Empfangsgerät an, vielmehr ist entscheidend, ob bzw. wann die gesendeten Signale vom Empfangsgerät vollständig empfangen worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 24.5.2013 – III ZR 289/12). Der OK-Vermerk auf dem Faxprotokoll des Versenders begründet nach dieser Rechtsprechung zwar keinen Anscheinsbeweis, aber doch ein Indiz für den tatsächlichen Zugang beim Empfänger. Der OK-Vermerk belegt das Zustandekommen einer Verbindung mit der im Sendebericht genannten Nummer. In Anbetracht dessen kann sich der Empfänger nicht auf ein bloßes Bestreiten des Zugangs beschränken, sondern hat sich näher dazu zu äußern, welches Empfangsgerät er betreibt, ob die Verbindung im Speicher enthalten sei und in welcher Weise er ein Empfangsjournal führt (vgl. BGH, Urteil vom 19.2.2014 – IV ZR 163/13). Unter Berücksichtigung dieses Vorbringens ist dann die Beweiskraft des im OK-Vermerk liegenden Indizes zu würdigen. Ferner ist zu beachten, dass der Beklagte selbst die Übersendung von Faxen als Übermittlungsweg eröffnet hat. Dann dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden (so BSG, Beschluss vom 7.8.2018 – B 1 KR 15/18 B für die Eröffnung des Faxzugangs durch ein Gericht). Das gilt insbesondere für Störungen im Bereich des Empfangsgeräts des Beklagten. Zudem hat das OLG Karlsruhe (Urteil vom 30.9.2018 – 12 U 65/08; hierauf nimmt das BSG in seinem Beschluss vom 20.10.2009 – B 5 R 84/09 B – Bezug) in einem Fall mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens überprüft, ob es wahrscheinlich ist, dass die Übermittlung der Telefaxnachricht trotz Vorliegen eines Sendeberichts mit OK-Vermerk an Leitungsstörungen, die zum Verbindungsabbruch geführt haben könnten, gescheitert sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehens hat der Sachverständige mit 0 % bewertet.

Ausgehend von diesen Maßgaben steht aufgrund des OK-Vermerks im Sendeprotokoll fest, dass zwischen dem Faxgerät des Prozessbevollmächtigen der Klägerin und dem Empfangsgerät des Beklagten am 16. Dezember 2010 eine Verbindung zustande gekommen ist. Angesichts dessen, dass nach den Angaben des Beklagten dort kein Empfangsjournal geführt und die Fax-Eingänge nach Weiterleitung an den zuständigen Sachbearbeiter aus dem virtuellen Postfach gelöscht werden, ist eine weitere Aufklärung der Vorgänge auf der Empfangsseite nicht weiter möglich. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Indizwirkung des OK-Vermerks aus Sicht des Senats nichts entgegenhalten und ist somit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem Zugang des Antrags bereits am 16. Dezember 2010 auszugehen. Gewisse Restzweifel, die sich naturgemäß nicht ausschließen lassen, sind für die Annahme der Überzeugung im Sinne eines Vollbeweises unschädlich (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 128 Rn. 3b). Dass andere Faxschreiben des Bevollmächtigten der Klägerin sowie Schreiben der Klägerin selbst durchaus in der Leistungsakte abgeheftet wurden, steht der Überzeugungsbildung ebenfalls nicht entgegen. Es ist gerichtsbekannt, dass Akten des Beklagten in einer nicht unerheblichen Anzahl von Fällen mehr oder weniger große Lücken aufweisen.

Ist der Antrag dem Beklagten bereits am 16. Dezember 2010 zugegangen, so gilt – da § 40 Abs. 1 SGB II in der damals geltenden Fassung diesbezüglich noch keine Sonderregelung traf – gem. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X eine Vierjahresfrist für die rückwirkende Erbringung von Leistungen. Da die Frist von Beginn des Jahres der Antragstellung gerechnet wird, ist eine rückwirkende Erbringung von Leistungen bis zum 1. Januar 2006 möglich. Folglich steht die Frist einer Überprüfung der von der Klägerin benannten Bescheide nicht entgegen.

Der Überprüfungsantrag der Klägerin war auch hinreichend konkret, sodass eine inhaltliche Überprüfung nicht unter Hinweis auf die fehlende Bestimmtheit unterbleiben kann. Nach dem Bundessozialgericht (Urteil vom 13. Februar 2014 – B 4 AS 22/13 R, Rn. 13 ff.) kann gem. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nur eine Überprüfung "im Einzelfall" verlangt werden, nicht aber eine solche des Verwaltungshandelns insgesamt. Ein Einzelfall in diesem Sinne setzt voraus, dass entweder eine bestimmte Fragestellung tatsächlicher oder rechtlicher Natur oder eine bzw. mehrere konkrete Verwaltungsentscheidung(en) benannt werden. Dabei reicht es aus, wenn sich der Umfang des Prüfauftrags durch Auslegung des Antrags ermitteln lässt. In zeitlicher Hinsicht ergibt sich eine Grenze durch den Abschluss des Widerspruchsverfahrens. Diese Anforderungen erfüllt der Antrag der Klägerin. Zwar waren in dem ersten Schreiben vom 16. Dezember 2010 noch keine konkreten Verwaltungsentscheidungen benannt (sondern pauschal "sämtliche Leistungsbescheide"). Doch ließ sich bereits eine konkrete rechtliche Fragestellung ermitteln: Die Bescheide sollten überprüft werden "soweit nicht die tatsächlichen Kosten der Unterkunft anerkannt und ausgekehrt wurden" – damit war klar erkennbar die Frage benannt, ob die Höhe der bewilligten Unterkunftskosten rechtmäßig war. Im Übrigen hat auch vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens – nämlich im Widerspruchsschreiben selbst – eine Konkretisierung der zur Überprüfung gestellten Verwaltungsentscheidungen stattgefunden, indem diese mit Datum einzeln benannt wurden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, auf welche "Einzelfälle" der Überprüfungsantrag sich richtete.

V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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