L 6 AS 718/20 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 12 AS 123/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 AS 718/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller zu 1) und zu 2) wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.03.2020 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin zu 2) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von März 2020 bis Juni 2020 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller zu 1) Leistungen für die Mietkaution iHv 1500 EUR als Darlehen zu zahlen. Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller zu 1) und 2) zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin zu 2) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II auszuzahlen. Der Antragsteller zu 1) begehrt die Auszahlung einer Mietkaution.

Der am 00.00.1976 geborene Antragsteller zu 1) ist tunesischer Staatsbürger. Er ist der Vater des am 00.00.2014 geborenen Antragstellers zu 3), der die tunesische und die bulgarische Staatsbürgerschaft besitzt. Der Antragsteller zu 3) lebte vorübergehend in einer Pflegefamilie. Der Aufenthalt seiner leiblichen Mutter, der die elterliche Sorge durch Beschluss des Amtsgerichts E vom 11.12.2019 entzogen wurde, ist unbekannt. Der Antragsteller zu 1) ist seit dem 08.11.2019 mit der am 00.00.1988 geborenen Antragstellerin zu 2) und Beschwerdeführerin verheiratet, die tunesische Staatsbürgerin ist.

Der Antragsteller zu 1) verfügte bis zum 12.01.2020 über eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG, die auf einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG beruhte (eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten). Seit dem 13.01.2020 ist er Inhaber eines Aufenthaltstitels nach § 31 AufenthG. Er ist Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung von 80 und den Merkzeichen "G" und "aG".

Die Antragstellerin zu 2) studierte bis zum 29.02.2020 an der FOM Hochschule und war bis zum 31.03.2020 Inhaberin einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG (Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung). Sie beantragte im Dezember 2019 bei der Stadt E (Amt für Migration und Integration) eine andere Aufenthaltserlaubnis und erhielt einen "Termin zur Erledigung einer aufenthaltsrechtlichen Angelegenheit" am 11.08.2020.

Der Antragsteller zu 3) ist seit dem 13.01.2020 Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG (Aufenthaltstitel für im Bundesgebiet geborene Kinder).

Der Antragsteller zu 1) wohnte bis zum 15.01.2020 in einer 20 m2 großen Wohnung in E und bezog Leistungen vom Jobcenter E. Am 14.11.2019 mietete er für die Zeit ab dem 01.01.2020 gemeinsam mit der Antragstellerin zu 2) die derzeit bewohnte Erdgeschosswohnung in K an. Hierfür ist eine Gesamtmiete iHv 780 EUR zu zahlen. Die Antragsteller zu 1) und 2) verpflichteten sich zur Stellung einer Kaution iHv 1500 EUR. Die Kaution entrichtete der Antragsteller zu 1) in Höhe von 1100 EUR mithilfe eines Darlehens eines Freundes.

Am 19.12.2019 beantragten die Antragsteller bei dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und zogen nach K, wo sie sich am 03.01.2020 anmeldeten. Am 02.01.2020 reichten die Antragsteller zu 1) und 2) die Antragsunterlagen ein und erklärten, die Antragstellerin zu 2) studiere an einer privaten Hochschule in L, lebe von finanziellen Zuwendungen ihrer Familie und befinde sich in einem Urlaubssemester. Sie habe sich als Pflegeperson für die Antragsteller zu 1) und 3) eintragen lassen und ihren Ausbildungsvertrag gekündigt. Der Antragsteller zu 3) werde in den gemeinsamen Haushalt zurückkehren. Bei ihm sei der Pflegegrad 3 anerkannt. Am 09.01.2020 haben die Antragsteller zu 1) und 2) erneut vorgesprochen und erklärt, der Antragsteller zu 1) sei in den Jahren 2003 bis 2006 mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet gewesen und die Antragstellerin zu 2) erhalte seit ihrer Eheschließung keine finanziellen Zuwendungen mehr. Am 16.01.2020 legte die Antragstellerin zu 2) die Immatrikulationsbescheinigung der FOM Hochschule für das Wintersemester 2017/18 und die Kündigungsbestätigung mit Wirkung zum 29.02.2020 vor.

Am 17.01.2020 hat der Antragsteller zu 1) beim Sozialgericht Düsseldorf beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an die Antragsteller zu verpflichten. Er hat vorgetragen, der Antragsteller zu 3) werde am 24.01.2020 in seinen Haushalt zurückkehren. Die Wohnung sei nur spärlich möbliert, er und die Antragstellerin zu 2) schliefen auf Matratzen. Der zur Existenzsicherung notwendige Bedarf sei derzeit nicht gedeckt und es bestünden Mietrückstände. Er befürchte, dass die Rückkehr des Antragstellers zu 3) nicht gestattet werde, wenn er keine Leistungen erhalte.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller zu 1) mit Bescheid vom 20.01.2020 für die Zeit vom 01.01.2020 bis 30.06.2020 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 567,14 EUR (Januar 2020) bzw. 649,00 EUR (hiervon Unterkunftskosten iHv 260 EUR) monatlich bewilligt. Die Antragstellerin zu 2) sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen und hinsichtlich des Antragstellers zu 3) sei nicht geklärt, ob sich dieser im Haushalt des Antragstellers zu 2) aufhalte.

Der Antragsteller zu 1) hat am 28.01.2020 beim Sozialgericht vorgesprochen. Er hat zu Protokoll der Rechtsantragstelle erklärt, sein Antrag umfasse auch die Antragsteller zu 2) und 3). Beide Personen seien jedoch in dem Bewilligungsbescheid nicht berücksichtigt. Die bewilligten Wohnkosten seien viel zu niedrig. Die Antragstellerin zu 2) werde einen Aufenthaltstitel beantragen.

Bei einer weiteren Vorsprache am 17.02.2020 hat der Antragsteller zu 1) erklärt, er habe für die Zahlung der Kaution ein Darlehen erhalten, das er jetzt zurückzahlen müsse.

Der Antragsteller zu 1) hat die Anmeldung sämtlicher Antragsteller unter der Anschrift I-Straße 00 in K und eine Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers zu 3) nachgewiesen. Er hat den Darlehensvertrag bezüglich der Mietkaution sowie Auszüge seines Kontos Nr. xxx bei der Deutschen Bank, das am 07.02.2020 einen Saldo von +2,53 Euro aufwies, und Auszüge des Kontos Nr. xx der Antragstellerin zu 2) bei der Postbank, das am 09.01.2020 einen Saldo von -52,97 Euro aufwies, vorgelegt. Ferner hat er ein Schreiben des Jugendamtes der Stadt E vom 12.02.2020 vorgelegt, nach dem der Antragsteller zu 3) aufgrund von Selbstgefährdung auf eine Wohnung im Erdgeschoss angewiesen ist.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller zu 3) daraufhin mit einem "Änderungsbescheid über vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts" vom 27.02.2020 den Bescheid vom 20.01.2020 geändert und dem Antragsteller zu 3) für den Zeitraum 24.01.2020 bis 30.06.2020 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gewährt. Auch für den Antragsteller zu 3) berücksichtigte der Antragsgegner einen Unterkunftsbedarf iHv monatlich 260 EUR. Gegen die "Ablehnung der Leistungen für die Antragsteller zu 2) und 3)" sei bisher nicht ausdrücklich Widerspruch erhoben worden. Sofern die Äußerung vom 28.01.2020 als solcher verstanden werden solle, bitte er um Mitteilung.

Die Antragsteller zu 1) und 2) haben am 02.03.2020 gegenüber dem Sozialgericht Düsseldorf mitgeteilt, dass das Verfahren nicht erledigt sei, da von den tatsächlichen Unterkunftskosten in Höhe von 780 EUR nur 520 EUR übernommen würden. Sie hätten weiterhin Mietrückstände und ihnen drohe die Kündigung.

Mit Beschluss vom 19.03.2020 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Dieser sei für die Antragsteller zu 1) und 3) nach Erlass des Änderungsbescheides vom 27.02.2020 unzulässig geworden. Es bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis mehr, denn dem Begehren der Antragsteller zu 1) und 3) sei entsprochen worden. Sie erhielten Leistungen in gesetzlicher Höhe. Sofern diese einwendeten, dass die Unterkunftskosten nicht in voller Höhe berücksichtigt seien, stehe das Kopfteil-Prinzip entgegen. Es könnten lediglich die anteiligen Unterkunftskosten je leistungsberechtigtem Empfänger von Leistungen nach dem SGB II gezahlt werden. Im Übrigen bestünden Zweifel, ob der Antragsgegner überhaupt zur Zahlung von Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II verpflichtet sei, denn die Antragsteller seien im vorgelegten Mietvertrag nicht genannt. Es sei nicht erkennbar, dass sie zu Mietzahlungen verpflichtet seien. Für die Antragstellerin zu 2) sei der Antrag aufgrund des bestandskräftigen Ablehnungsbescheides unzulässig. Es fehle ebenfalls an einem Rechtsschutzbedürfnis, denn der Ablehnungsbescheid sei gemäß § 77 SGG zwischen den Beteiligten bindend. In der Niederschrift des Sozialgerichts vom 17.02.2020 sei kein Widerspruch gegen den Bescheid vom 20.01.2020 zu sehen, da der Widerspruch gemäß § 84 Abs. 1 SGG bei der Stelle, die den Bescheid erlassen habe, einzureichen sei. § 84 Abs. 2 SGG sei offensichtlich nicht einschlägig. Der Beschluss ist den Antragstellern am 24.03.2020 zugestellt worden.

Mit Schriftsatz vom 27.03.2020, der einen Wiedervorlage-Stempel des Sozialgerichts vom 02.04.2020 und einen Eingangsstempel des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 08.05.2020 trägt, haben die Antragsteller erläutert, dass sie den Mietvertrag verloren und die Vermieterin um eine Kopie gebeten hätten. Diese habe ihnen den Mietvertrag der Nachbarn C X und N B übersandt und sie hätten diesen ohne nähere Prüfung an das Sozialgericht weitergeleitet. Die Antragsteller haben weiter ausgeführt, sie wollten den Widerspruch weiter durchsetzen. Die Antragstellerin zu 2) habe bei der Ausländerbehörde die Familienzusammenführung beantragt und einen Termin im September erhalten. Sie könnten ohne Leistungen an die Antragstellerin zu 2), ohne die vollständige Berücksichtigung der Unterkunftskosten und ohne die Übernahme der Mietkaution in Höhe von 1500 EUR, die sie mit Hilfe eines Darlehens in Höhe von 1100 EUR teilweise beglichen hätten, nicht existieren. Die Vermieterin und der Darlehensgeber warteten auf ihr Geld und bereiteten ihnen viele Probleme. Die Antragsteller haben nunmehr eine Kopie ihres Mietvertrages vorgelegt.

Das Sozialgericht hat den Antragstellern mitgeteilt, dass es ihren Schriftsatz vom 27.03.2020 an den Antragsgegner weitergeleitet habe, und auf die Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses vom 19.03.2020 hingewiesen. Am 04.05.2020 hat der Antragsteller zu 1) dem Sozialgericht telefonisch mitgeteilt, der Schriftsatz vom 27.03.2020 sei als Beschwerde zu werten.

II.

Die zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Verpflichtung des Antragsgegners, auch ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen, abgelehnt. Zudem ist der Antragsgegner zur Zahlung eines Darlehens für die Mietkaution an den Antragsteller zu 1) zu verpflichten.

Die Beschwerde ist fristgerecht erhoben worden. Gemäß § 173 S. 1, 1. Hs. SGG ist die Beschwerde binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung beim Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Bekanntgabe des Beschlusses des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.03.2020 erfolgte gegenüber den Antragstellern ausweislich der Zustellungsurkunden am 24.03.2020. Der beim Sozialgericht am 02.04.2020 innerhalb der Monatsfrist eingegangene Schriftsatz vom 27.03.2020 ist als Beschwerde der Antragstellerin zu 2) gegen den Beschluss des Sozialgerichts anzusehen. Zwar ist dies dem Schriftsatz nicht ausdrücklich - etwa durch Verwendung des Wortes "Beschwerde" - zu entnehmen und hat die Antragstellerin zu 2), vertreten durch den Antragsteller zu 1), erst am 04.05.2020 ausdrücklich erklärt, dass der Schriftsatz als Beschwerde gemeint ist. Bei der Auslegung prozessualer Erklärungen hat das Gericht jedoch den wirklichen Willen der Beteiligten zu erforschen und ist es an den Wortlaut der gestellten Anträge nicht gebunden (§ 123 SGG). Hierbei sind der gesamte Sachverhalt und die Begründung der gestellten Anträge unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes zu würdigen (BSG Urteil vom 17.02.2005, B 13 RJ 31/04 R; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 21.06.2018, L 7 AS 834/16; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.11.2017, L 7 AS 1956/17 B ER). Prozessuale Erklärungen sind so auszulegen, dass ein Begehren eines Antragstellers bzw. Rechtsmittelführers möglichst weitgehend zum Tragen kommt und gerade nicht eine Unzulässigkeit des Vorgehens die Folge ist (vgl. BSG Urteile vom 02.07.2009, B 14 AS 75/08 R, und vom 23.03.2010, B 14 AS 6/09 R; vgl. zum Klageantrag BSG Urteil vom 07.11.2006, B 7b AS 8/06 R; Zusammenfassung bei BSG Urteil vom 16.05.2012, B 4 AS 166/11 R; LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 03.12.2015, L 7 AS 2005/15 B ER, und vom 29.08.2013, L 19 AS 1343/12 B). Der die Antragstellerin zu 2) gemäß § 73 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGG zulässig vertretende Antragsteller zu 1) hat mit dem Schriftsatz vom 27.03.2020 kurz nach Zustellung des Beschlusses vom 19.03.2020 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Begehren, auch der Antragstellerin zu 2) Leistungen zuzusprechen, weiterverfolgt wird, und hierzu Ausführungen gemacht, die sich inhaltlich auf den Beschluss beziehen, indem er erläutert hat, weshalb der dem Sozialgericht vorgelegte Mietvertrag andere Personen betrifft.

Die Beschwerde richtet sich bei interessengerechter Auslegung auf die Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch an die Antragstellerin zu 2) und zur Zahlung der Mietkaution als Darlehen an den Antragsteller zu 1). Laufende Leistungen im Übrigen für den Antragsteller zu 1) und den Antragsteller zu 3) werden mit der Beschwerde nicht mehr begehrt, nachdem der Antragsgegner diese vorläufig bewilligt hat. Gegenteiliges ist dem Vorbringen der Antragsteller nicht zu entnehmen.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln. Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05; LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 06.09.2019, L 7 AS 1114/19 B ER, und vom 02.10.2019, L 7 AS 1147/19 B ER).

Die Antragstellerin hat hinsichtlich der Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einen Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht. Dem steht - ebenso wenig wie einem Rechtsschutzbedürfnis für das Verfahren und damit abweichend von den Ausführungen des Sozialgerichts - die Bestandkraft eines Ablehnungsbescheides nicht entgegen.

Gegenüber der Antragstellerin zu 2) ist bereits kein Ablehnungsbescheid hinsichtlich der beantragten Leistungen ergangen. Der Bescheid vom 20.01.2020 verhält sich nach seiner ausdrücklichen Überschrift lediglich zu einer "vorläufigen Bewilligung" von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und stellt daher - jedenfalls aus Sicht des Empfängers - keine endgültige Entscheidung über einen Leistungsanspruch dar. Vorläufige Bewilligungen sind gerade keine abschließenden Entscheidungen über das Bestehen des Anspruchs (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. nur Urteil vom 11.07.2019, B 14 AS 44/18 R, mwN). Gleiches gilt für den ausdrücklich als Änderungsbescheid zu dem Bescheid vom 20.0.2020 bezeichneten Bescheid vom 27.02.2020. Selbst wenn aber der Bescheid vom 20.01.2020 als endgültiger Ablehnungsbescheid gegenüber den Antragstellerin zu 2) ergangen wäre, stünde er der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs nicht entgegen. Denn zum einen wäre die Erklärung der Antragsteller gegenüber der Rechtsantragstelle des Sozialgerichts vom 28.01.2020 als Widerspruch gegen die Leistungsablehnung auszulegen. Auch insoweit gilt der Meistbegünstigungsgrundsatz. Die Antragsteller bringen unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie mit einer Beschränkung der Leistungszahlung nur an den Antragsteller zu 1) nicht einverstanden sind. Sie wussten, dass die Niederschrift über die Erklärung im Rahmen des Eilverfahrens an den Antragsgegner weitergeleitet wird und diesem daher zugeht (§ 130 BGB in entsprechender Anwendung). Der Antragsgegner musste aufgrund dieser Erklärung davon ausgehen, dass die Antragsteller mit einer Ablehnung der Leistungen für die Antragsteller zu 2) und zu 3) nicht einverstanden sind und eine entsprechende Bestandkraft daher nicht eintritt. Der Umstand, dass gemäß § 84 Abs. 1 SGG der Widerspruch bei der Verwaltungsbehörde einzulegen ist, steht einer entsprechenden Auslegung nicht entgegen, denn gemäß § 84 Abs. 2 S. 1 SGG kann der Widerspruch fristwahrend auch bei einer anderen inländischen Behörde eingelegt werden, hierzu gehören auch Gerichte (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rn. 6 mwN). Zum anderen stünde selbst eine eingetretene Bestandskraft einem Anordnungsanspruch nicht entgegen. Ein Ablehnungsbescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der Leistungen für einen bestimmten in der Zukunft liegenden Zeitraum ablehnt. Ein Ablehnungsbescheid steht damit einem jederzeit möglichen Neuantrag, gerichtet auf Leistungen für zukünftige Zeiträume, nicht entgegen. Derartige Leistungen können dann im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verfolgt werden, sofern ein Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen ist. Mindestens wäre die Erklärung an die Rechtsantragstelle vom 28.01.2020 daher als Neuantrag zu interpretieren. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, nachdem der Antragsgegner bereits unmittelbar nach Kenntnis der Erklärung zum Ausdruck gebracht hat, eine Leistungszahlung weiterhin zu verweigern (Schriftsatz vom 03.02.2020).

Die Antragstellerin zu 2) hat für den tenorierten Zeitraum einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts glaubhaft gemacht. Nach summarischer Prüfung erfüllt sie die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs.1 S. 1 SGB II. Sie befindet sich in der Altersspanne des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II, ist erwerbsfähig iSd § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II, da ihr nach dem letzten Aufenthaltstitel eine Erwerbstätigkeit iSd § 8 Abs. 2 SGB II gestattet ist (hierzu Sächsisches LSG Beschluss vom 31.03.2015, L 3 AS 148/15 B ER). Die Hilfebedürftigkeit iSd § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II ist ebenso wie bei den Antragstellern zu 1) und zu 3) mit dem Antragsgegner anzunehmen und die Antragstellerin zu 2) hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II).

Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 2) einem Leistungsausschluss unterliegt. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II greift ab dem 01.03.2020 nicht mehr, nachdem die Antragstellerin zu 2) die Aufgabe ihres Studiums nachgewiesen hat. Auch ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist nicht ersichtlich. Weder hält die Antragstellerin zu 2) sich nach Aktenlage unrechtmäßig iSd § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a SGB II im Bundesgebiet auf, noch ergibt sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche iSd § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II oder aus den in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2c SGB II genannten Gründen. Der bis zum 31.03.2020 gültige Aufenthaltstitel gemäß § 16 AufenthG steht einem Aufenthaltstitel allein aus dem Zweck der Arbeitsuche nicht gleich (Sächsisches LSG Beschluss vom 31.03.2015, L 3 AS 148/15 B ER). Nach der Beantragung der Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels gilt der bisherige Aufenthaltstitel bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG).

Die Beschränkung der Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin zu 2) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen, auf den Zeitraum bis Juni 2020 beruht auf § 41 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 SGB II und korrespondiert mit dem Bewilligungsbescheid vom 22.01.2020, geändert durch Bescheid vom 27.02.2020.

Der Antragsteller zu 1) hat einen Anspruch auf Bewilligung seiner Aufwendungen für die Mietkaution gemäß § 22 Abs. 6 S. 1 Hs. 2 SGB II glaubhaft gemacht. Danach können Aufwendungen für eine Mietkaution bei vorheriger Zusicherung durch den am Ort der neuen Unterkunft zuständigen kommunalen Träger als Bedarf anerkannt werden. Dieser Anspruch steht nur dem Antragsteller zu 1), der die Mietkaution entrichtet hat, zu. Das Kopfteil-Prinzip ist auf Leistungen für eine Mietkaution nicht anzuwenden. Vom Kopfteil-Prinzip ist abzuweichen, wenn bei objektiver Betrachtung eine andere Aufteilung angezeigt ist. So kommen bei einer Leistung für Mietschulden (§ 22 Abs. 8 SGB II) in Abweichung vom Kopfteil-Prinzip nur die durch den Mietvertrag zivilrechtlich verpflichteten Personen als Darlehensnehmer in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 18.11. 2014, B 4 AS 3/14 R), weil eine mit der Rückzahlungsverpflichtung nach § 42a Abs. 1 S. 3 SGB II einhergehende faktische Mithaftung der nicht am Mietvertrag Beteiligten, insbesondere auch der Kinder einer Bedarfsgemeinschaft, für unerfüllte Mietvertragsforderungen verhindert werden soll. Dieser Gesichtspunkt ist auf Mietkautionsdarlehen zu erstrecken (LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 18.10.2018, L 5 AS 295/18).

Der Antragsteller hat die Voraussetzungen des § 22 Abs. 6 S. 1, Hs. 2 SGB II durch Vorlage des Mietvertrags und des Darlehensvertrags mit Herrn H I vom 02.11.2019 zur Aufbringung der Kaution glaubhaft gemacht. Die Annahme des Antragsgegners, die Unterkunftskosten für die Wohnung in K seien unangemessen, steht seiner Verpflichtung im summarischen Eilverfahren zur darlehensweisen Kautionsübernahme nicht entgegen. Der Antragsgegner hat die tatsächlichen Unterkunftskosten der Leistungsbewilligung an den Antragsteller zu 1) und den Antragsteller zu 3) zugrunde gelegt. Der Antragsteller zu 1) hat zudem glaubhaft gemacht, dass seine Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Anmietung einer angemessenen Wohnung angesichts der psychischen Problematik seines Sohnes begrenzt sind. Schließlich fällt jedenfalls eine Folgenabwägung zulasten des Antragsgegners aus, da dieser durch die Aufrechnungsmöglichkeit nach § 42a Abs. 2 SGB II hinreichend abgesichert ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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