L 8 AY 4/20 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 10 AY 40/19 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AY 4/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Ausländer ist dazu verpflichtet, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken. Allerdings ist er zuvor in geeigneter Form auf die Mitwirkungspflicht nach § 48 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinzuweisen. Nach der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung ergeben sich keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass der Bedarf eines in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Ausländers geringer sein könnte als in eigenem Wohnraum.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 8. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers dem Grunde nach zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der 1997 geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger von Kamerun. Er reiste am 3. Juni 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde nach seiner Erstaufnahme in Y ... am 7. Juni 2018 von der Landesdirektion Sachsen – Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) übernommen. Diese wies den Antragsteller gemäß § 50 Asylgesetz (AsylG) dem Antragsgegner zu (Bescheid vom 20. September 2018). Auf seinen Asylantrag vom 12. Juli 2018 erhielt der Antragsteller eine Aufenthaltsgestattung. Der Antragsgegner verpflichtete den Antragsteller mit Bescheid vom 20. September 2018 dazu, in einer Gemeinschaftsunterkunft in A ... zu wohnen. Am selben Tag erging der weitere Bescheid über die Bewilligung von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als offensichtlich unbegründet ab. Der daraufhin vor dem Verwaltungsgericht B ... eingelegte Eilantrag wurde ebenfalls abgelehnt (Beschluss vom 5. Dezember 2018 - 3 L 985/18 A). Seit diesem Tag ist die Abschiebungsandrohung vollziehbar. Der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet wird seither geduldet.

Am 2. Juli 2019 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner, ihm die Aufnahme einer Beschäftigung zu erlauben. In diesem Zusammenhang forderte dieser den Antragsteller mit Schreiben vom selben Tag dazu auf, bis zum 2. August 2019 Dokumente vorzulegen, die seine Identität zweifelsfrei belegen würden. Sollte er den Termin verstreichen lassen, entscheide der Antragsgegner nach Aktenlage. Weitere Folgen wurden nicht in Aussicht gestellt. An jenem Tag sprach der Antragsteller beim Antragsgegner vor und teilte mit, nicht im Besitz eines Reisepasses oder einer ID-Card zu sein. Der Antragsgegner lehnte sodann den Antrag auf Aufnahme einer Beschäftigung ab (Bescheid vom 9. August 2019). Der Antragsteller sei vollziehbar ausreisepflichtig und Inhaber der Duldung ausschließlich deshalb, weil die notwendigen Rückreisedokumente fehlten. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen hätten nicht aufgrund dieses tatsächlichen Hindernisses nicht durchgeführt werden können. Zur Passbeschaffung sei der Antragsteller allerdings gesetzlich verpflichtet. Einer konkreten Aufforderung zur Mitwirkung bedürfe es seitens der Ausländerbehörde nicht. Da der Antragsteller auch nicht nachgewiesen habe, sich überhaupt um die Beschaffung eines Passes bemüht zu haben, habe ihm die Erlaubnis zur Aufnahme einer Beschäftigung nicht erteilt werden können (Bezug auf § 60a Abs. 6 Aufenthaltsgesetz [AufenthG]).

Nachdem der Antragsgegner festgestellt hatte, dass der Antragsteller für September 2019 seinen Barscheck nicht abgeholt hatte, stellte er die Leistungen zum 1. September 2019 ohne vorherige Anhörung ein, da er vermutete, der Antragsteller würde entgegen des Beschäftigungsverbots einer bezahlten Arbeit nachgehen. Seinen Bescheid vom 11. September 2019 stützte er auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch mit der nicht näher dargelegten Begründung, dass der Anspruch des Antragstellers zum Ruhen gekommen sei, da dieser gewusst oder grob fahrlässig nicht gewusst habe, dass der Leistungsanspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz bzw. teilweise weggefallen sei. Denn weil der Antragsteller seinen Barscheck nicht abgeholt habe, könne davon ausgegangen werden, dass er nicht mehr hilfebedürftig sei. Daraufhin stellte der Antragsteller am 17. September 2019 erneut einen Antrag auf Asylbewerberleistungen. Die auf die Leistungseinstellung bezogene Anhörung holte der Antragsgegner mit Schreiben vom 5. Dezember 2019 nach.

Mit Bescheid vom 17. September 2019 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für September 2019 anteilig 144,67 Euro. Ohne vorherige Anhörung stellte er im Bescheid vom 18. September 2019 fest, dass dem Antragsteller nur abgesenkte Leistungen in Höhe von 164 Euro monatlich für die Zeit vom 1. Oktober 2019 bis zum 31. März 2020 anstelle der zuvor gewährten 320 Euro monatlich zustünden. Dies folge aus § 1a Abs. 3 AsylbLG, da der Antragsteller an der Passbeschaffung nicht mitgewirkt habe.

Gegen die Bescheide vom 17. Und 18. September 2019 legte der Antragsteller am 18. Oktober 2019 Widerspruch ein. Die Gewährung der abgesenkten Leistungen sei zu Unrecht erfolgt. Der Antragsteller habe seine Pflicht zur Mitwirkung an der Passbeschaffung nicht verletzt, da er dazu nicht nachvollziehbar aufgefordert worden sei. Zudem dürften Leistungen nicht nach der Regelbedarfsstufe 2 bewilligt werden, da nicht ohne Weiteres davon auszugehen sei, dass die in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Ausländer stets gleichsam "aus einem Topf" wirtschafteten und demgemäß Einspareffekte realisiert würden, die den persönlichen Bedarf reduzierten.

Der Antragsteller hat sich sodann am 6. Dezember 2019 mit einem Eilantrag an das Sozialgericht Leipzig gewandt mit dem Ziel, einstweilen um 180 Euro höhere Leistungen monatlich zu erhalten. Als Alleinstehender habe der Antragsteller Anspruch auf Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1. Ferner habe der Antragsgegner bereits nicht die für die erfolgte Leistungsabsenkung notwendige kausale Pflichtverletzung des Antragstellers darzustellen vermocht. § 1a Abs. 3 AsylbLG stehe nicht im Einklang mit den abstrakten Rechtssätzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 (Az.: 1 BvL 7/16). Das Sozialgericht hat den Antragsgegner dazu verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 6. Dezember 2019 bis zum 31. Dezember 2019 weitere Leistungen in Höhe von 150 Euro monatlich, für die Zeit vom 1. Januar 2020 weitere Leistungen in Höhe von 180 Euro monatlich und für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. Juni 2020 Leistungen von 351 Euro monatlich zu gewähren, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache (Beschluss vom 8. Januar 2020). Der Antragsteller habe seine Pflicht, an der Passbeschaffung mitzuwirken, nicht verletzt. Der Antragsgegner habe ihm zuvor nicht aufgegeben, welcher konkreten Mitwirkungshandlung der Antragsteller zumutbar nachzukommen habe. Zudem bestünden erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 1a AsylbLG, der den Leistungsanspruch gegenüber dem Niveau der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) um 48 Prozent gegenüber der Regelbedarfsstufe 2 bzw. um 53 Prozent gegenüber der Regelbedarfsstufe 1 einschränke. Der Regelbedarfsstufe 2 dürften Leistungsberechtigte nur zugeordnet werden, wenn sie in Gemeinschaftsunterkünften nachweisbar Einspareffekte durch eine gemeinsame Haushaltsführung mit anderen dort untergebrachten Ausländern erzielten. Die Sache sei auch eilbedürftig, da der Stand des Kontos des Antragstellers lediglich 19,53 Euro ausweise.

Gegen den ihm am 15. Januar 2020 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit der am 29. Januar 2020 beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Beschwerde. Der Antragsteller sei nach der unmissverständlichen Formulierung des § 3a AsylbLG der Regelbedarfsstufe 2 zuzuordnen, da er allein ohne Elternteil in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sei. Selbst wenn er der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnen wäre, hätte er nach der Ansicht des Antragsgegners keinen Anspruch auf höhere Leistungen, da er nicht beschwert sei. Denn im Rahmen eines Eilverfahrens seien seine monatlichen Bedarfe auf 80 Prozent zu reduzieren.

Der Antragsgegner beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 8. Januar 2020 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Die Landesdirektion Sachsen hat die Widersprüche des Antragstellers gegen die Bescheide vom 17. Und 18. September 2019 zurückgewiesen (Widerspruchsbescheide vom 13. Januar 2020 und 31. Januar 2020). Da der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sei, stünden ihm Leistungen nur nach der Regelbedarfsstufe 2 zu. Der Antragsteller habe zudem gegen seine Pflicht zur Mitwirkung an der Passbeschaffung verstoßen. Er habe am 2. August 2019 lediglich mitgeteilt, kein Identitätspapier zu besitzen und darüber hinaus keine weiteren Bemühungen nachgewiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Nach Zustimmung der Beteiligten entscheidet der Vorsitzende über die Beschwerde als Einzelrichter anstelle des Senats (§ 155 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 SGG) erweist sich als unbegründet. Zutreffend hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung dazu verpflichtet, vorläufig ungekürzte Leistungen nach § 3 AsylbLG zu erbringen, da die Voraussetzungen einer Leistungskürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG offensichtlich nicht vorliegen.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Eine solche Anordnung soll der Veränderung eines bestehenden Zustandes vorbeugen. Sie dient einer Bewahrung des Status quo mit einem Unterlassungsgebot an den zu Verpflichtenden. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner verpflichtet werden soll sowie einen Anordnungsgrund, nämlich die Dringlichkeit des Rechtsschutzes. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (so genannte Sicherungsanordnung). Eine solche Anordnung soll der Veränderung eines bestehenden Zustands vorbeugen. Sie dient der Bewahrung des Status quo mit einem Unterlassungsgebot an den zu Verpflichtenden. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG; sogenannte Regelungsanordnung).

Das Bestehen eines Anordnungsanspruchs und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sind erforderlich. Der Anordnungsanspruch bezieht sich auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Diese allgemeinen Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (Bundesverfassungsgericht [BVerfG]), Beschluss vom 25.10.1999 – 2 BvR 745/88BVerfGE 79, 69).

Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes liegen in der Sicherung der Entscheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheprozess zu ermöglichen. Es will nichts anderes als allein wegen der Zeitdimension der Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwicklungen sichern und irreparable Folgen ausschließen und der Schaffung vollendeter Tatsachen vorbeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung im Nachhinein als rechtswidrig erweist. Hingegen dient das vorläufige Rechtsschutzverfahren nicht dazu, gleichsam unter Umgehung des für die Hauptsache zuständigen Gerichts und unter Abkürzung dieses Verfahrens, geltend gemachte materielle Rechtspositionen vorab zu realisieren.

Bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes sind die Gerichte gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG Beschluss vom 25.10.1999 – 2 BvR 745/88BVerfGE 79, 69, 74; Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91BVerfGE 93, 1, 14). Dies gilt sowohl für die Anfechtungs- als auch für Vornahmesachen. Hierbei dürfen die Entscheidungen der Gerichte grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.

Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht anwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1999 – 2 BvR 745/88BVerfGE 79, 69, 74; Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93 – 94, 166, 216). Die Gerichte, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehenden Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96NVwZ 1997, 479). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009 – 1 BvR 120/09NZS 2009, 674, 675 Rdnr. 11).

Gemessen daran kann sich der Antragsteller sowohl auf einen Anordnungsanspruch als auch auf einen Anordnungsgrund berufen.

Der Antragsteller ist leistungsberechtigt nach dem AsylbLG gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4, da er eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzt. Daneben ergibt sich die Leistungsberechtigung aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG, weil der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig ist (auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist). Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG erhalten gemäß § 3 Abs. 1 AsylbLG Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheit, Pflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts (notwendiger Bedarf). Zusätzlich werden ihnen Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens gewährt (notwendiger persönlicher Bedarf). Leistungen nach § 2 AsylbLG in der bis zum 20. August 2019 gültigen Fassung sind zu gewähren, sofern sich der Betroffene bereits länger als 15 Monate tatsächlich im Bundesgebiet aufhält, ohne die Dauer seines Aufenthalts selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst zu haben.

Unzutreffend geht der Antragsgegner davon aus, dass der Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach dem AsylbLG einzuschränken (gewesen) ist nach § 1a Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 AsylbLG. Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG – zu denen der Antragsteller zählt – erhalten ab dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag nur noch Leistungen nach § 1a Abs. 1 AsylbLG, sofern aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können (§ 1 Abs. 3 Satz 1 AsylbLG). Ihnen werden dem gemäß bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt (vgl. § 1a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG).

Diese Voraussetzungen liegen im Falle des – geduldeten - Antragstellers nach summarischer Prüfung nicht vor. Dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten, da dieser nicht daran mitgewirkt habe, einen Pass, Passersatz oder ein sonstiges Rückreisedokument zu beschaffen, ist nicht ersichtlich. Ansonsten hätte er die Vollziehung der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung (§ 58 AufenthG) verhindert. Darin läge ein Verstoß gegen § 48 Abs. 3 AufenthG. Danach ist der Ausländer dazu verpflichtet, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken. Diese fehlende Mitwirkung stellt ein typisches rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG dar (BSG, Urteil vom 12.05.2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rn. 15).

Nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer dazu verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken, sofern er keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung des AufenthG betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Der Mitwirkungspflicht wird unter anderem dadurch entsprochen, dass eine Mitwirkung an der Feststellung und Sicherung der Identität erfolgt oder die für die Beschaffung von Heimreisedokumenten nötigen Erklärungen abgegeben werden (§ 49 Abs. 2 AufenthG). Identitätspapiere sind auch sämtliche für die Rückreise benötigten Papiere. Der Pflicht wird zunächst durch Beantragung genügt (§ 56 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsverordnung [AufenthV]).

Erfasst sind aber auch alle weiteren Handlungen, die für die Ausstellung des Papiers erforderlich sind und nur von dem Ausländer persönlich vorgenommen werden können. Dazu gehört die Vorlage eines Fotos, die persönliche Vorsprache bei der Auslandsvertretung des Heimatstaates bei Antragstellung bzw. Abholung des Dokuments, wenn dies gefordert wird (OVG Münster, Beschluss vom 9. Februar 2004 – 18 B 811/03 - NVwZ-RR 2004, 689 f), sich eventuell der Mithilfe geeigneter Dritter, z.B. Angehöriger, zu bedienen (BayObLG, Beschluss vom 7. November 2000 – 3Z BR 335/00 - InfAuslR 2001, 176 f), die Abgabe benötigter Fingerabdrücke (OVG Münster, Beschluss vom 12. Oktober 2005, 18 B 1526/05, 18 E 1150/05 - InfAuslR 2006, 136) sowie alle Urkunden und sonstigen Unterlagen, die relevant sein können, der zuständigen Stelle vorzulegen, auszuhändigen, zu überlassen bzw. zu beantragen.

Dabei besteht grundsätzlich ein erhebliches öffentliches Interesse an einer baldigen Aufenthaltsbeendigung der von öffentlichen Mitteln lebenden vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern (OVG Münster, Beschluss vom 12. Oktober 2005 – 18 B 1526/05, 18 E 1150/05InfAuslR 2006, 136). Der BayVGH geht ferner davon aus, dass es dem betroffenen Ausländer neben seiner Mitwirkungspflicht nicht freisteht, "ansonsten völlig untätig und passiv zu bleiben und nur darauf zu warten, welche weiteren Handlungen die Behörde noch von ihm verlangt". Der betroffene Ausländer kann sich demnach – entgegen der Ansicht des Sozialgerichts - nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten stützen, die ihm konkret von der Ausländerbehörde vorgegeben werden. Er ist vielmehr daneben dazu gehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen und die erforderlichen Schritte einzuleiten, um das bestehende Ausreisehindernis zu beseitigen (sog. "Initiativpflicht"). Die Erfüllung der dem Ausländer obliegenden Pflichten – seiner Mitwirkungspflicht, aber auch der Initiativpflicht – hat dieser zu belegen und nachzuweisen. Gelingt ihm dies nicht, spricht vieles für die Annahme, er habe das Ausreisehindernis verschuldet oder zumutbare Anforderungen jedenfalls nicht erfüllt (Beschluss vom 27. Juli 2010 – 10 ZB 10.276 – juris Rn. 12).

§ 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verlangt daher von dem Ausländer, es nicht bei der Einreichung der erforderlichen Unterlagen und bei der Vorsprache bei der Auslandsvertretung seines Heimatstaates zu belassen, sondern darüber hinaus weitere Angaben zu machen, die seine Identifikation ermöglichen (VG Würzburg, Urteil vom 8.Dezember 2014 – W 7 K 14.26). Kommt der Ausländer seiner Pflicht zur Beschaffung von Heimreisedokumenten nicht nach, so hat er das Abschiebungshindernis zu vertreten (vgl. Weichert/Stoppa in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 48 Rn. 18a).

Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Antragsteller seine Mitwirkungspflichten nach § 48 Abs. 3 AufenthG nicht verletzt. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Mitwirkungspflicht nach § 48 Abs. 3 AufenthG obliegt es allein dem Ausländer, sich zur Auslandsvertretung seines Herkunftslandes zu begeben, um dort einen Reisepass, Passersatzpapiere oder einen Antrag auf Nachregistrierung zu stellen, dabei wahrheitsgemäße Angaben zu machen und sich die entsprechenden Vorsprachen bescheinigen zu lassen. Bei der Mitwirkungspflicht aus § 48 Abs. 3 AufenthG handelt es sich um eine Obliegenheit, die den Antragsteller selbst trifft, und zwar ungeachtet aller Möglichkeiten, die den deutschen Ausländerbehörden zur Verfügung stehen könnten. Sofern der Antragsteller Geld für seine Anreise zu den Auslandsvertretungen benötigen sollte, wäre er dazu verpflichtet, den Antragsgegner darüber zu informieren. Keinesfalls darf er sich untätig darauf zurückziehen, nicht über die erforderlichen Mittel zu verfügen und deshalb die geforderten Anstrengungen zur Erfüllung der Mitwirkungspflicht aus § 48 Abs. 3 AufenthG unterlassen.

Allerdings ist es zuvor erforderlich, den Ausländer zunächst darauf hinzuweisen, dass er einer derartigen Verpflichtung unterliegt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner den Antragsteller in geeigneter Form (in einer für den Betroffenen verständlichen Sprache, ggf. in Übersetzung) überhaupt auf die erwähnten Mitwirkungspflichten und deren Reichweite hingewiesen hat. Der Verwaltungsakte ist lediglich zu entnehmen, dass der Antragsgegner auf die Bitte des Antragstellers, eine Beschäftigung aufnehmen zu dürfen, zur Vorlage eines Identitätspapiers aufgefordert hat. Aufgrund dieses Umstands konnte der Antragsteller nur davon ausgehen, dass die Vorlage eines Passes notwendig sei, um eine Beschäftigung aufnehmen zu dürfen, nicht aber – worauf sich der Antragsgegner schließlich durchaus überraschend bezogen hat – um der Passpflicht aus § 13 AufenthG Genüge zu tun. Hier gilt es, auch im Verwaltungsverfahren Fairness walten zu lassen. In diesem Zusammenhang irritiert ferner die Leistungseinstellung wegen angeblicher illegaler Beschäftigung und angenommener fehlender Hilfebedürftigkeit im September 2019 ohne vorherige Anhörung. Der Antragsgegner vermochte seinen zunächst eingenommenen Rechtsstandpunkt tatsächlich nicht zu unterlegen. Gerade im hier relevanten Bereich existenzsichernder Leistungen sind die tatsächlichen Voraussetzungen irgendwie gearteter Kürzungen oder Leistungseinstellungen sorgfältig und unter Wahrung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) zu ermitteln.

Vor diesem Hintergrund hat der Antragsteller das Fehlen eines Passes, Passersatzes oder Rückreisedokuments bzw. die fehlende Nachregistrierung als den Grund, der seine Ausreise hindert, nicht selbst zu vertreten. Erforderlich, aber auch ausreichend hierfür ist, dass die den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen hindernden Gründe in den Verantwortungsbereich des Leistungsberechtigten fallen. Insoweit ist zumindest ein persönliches (eigenes) Fehlverhalten des Leistungsberechtigten zu verlangen, wie dies dem § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG ausdrücklich zu entnehmen ist. Einerseits muss also ein dem Ausländer vorwerfbares Verhalten und andererseits die Ursächlichkeit zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen vorliegen (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 7 AY 7/12 R - BSGE 114, 302 ff Rn. 25).

Wie oben dargestellt, liegt bereits kein vorwerfbares Verhalten des Antragstellers vor. Deshalb ist in diesem Rahmen nicht darüber zu entscheiden, ob § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen könnte. Nachdem daher die Voraussetzungen einer Anspruchseinschränkung nicht vorliegen, hat das Sozialgericht den Antragsgegner zutreffend dazu verpflichtet, einstweilen Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu gewähren; wobei der Antragsgegner von Amts wegen zu beachten haben dürfte, nach einem Aufenthalt des Antragstellers von 18 Monaten sogenannte "Analogleistungen" nach § 2 AsylbLG zu gewähren.

Ebenfalls korrekt hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass es zweifelhaft erscheint, alleinstehende Leistungsberechtigte von Gesetzes wegen (vgl. § 3a AsylbLG) der Regelbedarfsstufe 2 zuzuordnen, sofern sie – wie der Antragsteller – in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich allein aufgrund dieses Umstands ein geringerer Bedarf ergeben könnte. Synergie- und Einspareffekte ergeben sich nach summarischer Prüfung jedenfalls nicht zwangsläufig. Im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes erscheint es daher im Rahmen der Folgenabwägung sachgerecht, den Antragsteller der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnen, um zu vermeiden, dass sein menschenwürdige Existenzminimum aus Art. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 GG unterschritten wird. Im Hauptsacheverfahren wäre allerdings sorgfältig zu prüfen, ob die Annahmen des Gesetzgebers, die er seiner Zuordnung zugrunde gelegt hat, verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen. Denn der Gesetzgeber hat alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf zu bemessen. Das gefundene Ergebnis bedarf einer fortwährenden Überprüfung und Weiterentwicklung, insbesondere, wenn Festbeträge vorgesehen sind (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – juris Rn. 139, 140).

Schließlich besteht auch ein Anordnungsgrund. Die Sache ist eilbedürftig, da dem Antragsteller die Mittel fehlen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Auf die vom Antragsgegner angenommenen 80 Prozent zur Vermeidung der Vorwegnahme der Hauptsache kommt es insoweit nicht an, da vorliegend existenzsichernde Leistungen im Streit stehen und der Bedarf des Antragstellers jedenfalls zu decken ist (s.o.). Das BSG geht davon aus, dass allenfalls monatliche Euro-Beträge im einstelligen Bereich und für einen nur kurzen Zeitraum von längstens sechs Monaten eine allenfalls durchschnittliche Bedeutung für einen Bezieher von Grundsicherungsleistungen haben (Urteil vom 1. Juli 2009 – B 4 AS 21/09 RSozR 4-1935 § 14 Nr. 2). Diese Erwägungen sind auf Leistungen nach dem AsylbLG zu übertragen; zumal diese vom Gesetzgeber zielgerichtet niedriger ausgestaltet worden sind. Nach der Ansicht des BVerfG ist dies nur hinzunehmen, so lange wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts des Betroffenen konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können (Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 u.a. – juris Rn. 74). Der vom Antragsgegner erwähnte Ansatz von 80 Prozent eines von ihm angenommenen Bedarfs zur Vermeidung der Vorwegnahme der Hauptsache würde dieser Vorgabe widersprechen. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG. Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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