S 37 AS 4462/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 4462/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
1. Die Einrichtung einer EGVP-Adresse zur Kommunikation des SGB II-Trägers mit den Gerichten ist keine Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs zur Erhebung von Widersprüchen. Der Annahme einer konkludenten Widmung stehen die ausdrücklichen Hinweise zum Widerspruchsverfahren in Schriftform oder zur Niederschrift in den Merkblättern und im Internetauftritt der Jobcenter entgegen.

2. Weder § 84 SGG in der seit 1.1.2018 geltenden Fassung noch § 2 EGovG bzw. § 4 EGovG Berlin machen eine vom Willen der Behörde getragene Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs für Widersprüche entbehrlich.

3. Die vom Wortlaut des § 84 SGG abweichende Rechtsbehelfsbelehrung ist daher nicht unrichtig mit der Folge, dass die Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe gilt.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Zusammenhang mit einem Antrag auf Gewährung eines Einstiegsgeldes zur Förderung einer aufgenommenen Beschäftigung ist streitig ist, ob der Kläger fristgemäß Widerspruch gegen einen Überprüfungs-Ablehnungsbescheid erhoben hat.

Der Kläger wurde zum 1.9.2017 als "english speaker" gegen ein Entgelt von 1260 EUR brutto in einem Kinderhaus eingestellt.

Auf einen Förderantrag von 2.10.2017 war ihm mit Bescheid vom 6.11.2017 Einstiegsgeld in Höhe von 250 EUR monatlich für die Dauer von 6 Monaten (bis zum 28.2.2018) bewilligt worden.

Mit Fax vom 28.2.2018 hatte der Kläger erneut Einstiegsgeld beantragt. Eine weitere Förderung war mit Bescheid vom 29.3.2018 abgelehnt worden; die Förderentscheidung werde nur einmal getroffen in Zusammenhang mit der Aufnahme einer Beschäftigung.

Einen Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 6.11.2017 und vorsorglich des Bescheides vom 29.3.2018 wies der Beklagte als unbegründet zurück (Bescheid vom 14.12.2018).

In der Rechtsbehelfsbelehrung dieses Bescheides wird lediglich darüber belehrt, dass der Widerspruch "schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle" einzule-gen ist.

Zu der im Briefkopf des Bescheides genannten Stelle, dem Jobcenter Spandau, findet sich u.a. die Angabe einer E-Mail-Adresse: "Jobcenter-Spandau-Team921@jobcenter.de"

Der Bescheid wurde am 17.12.2018 zur Post gegeben.

Den mit Schreiben vom 19.2.2019 erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.12 ...2018 wies der Beklagte als verfristet zurück (Widerspruchsbescheid vom 4.4.2019).

Am 6.Mai hat der Kläger Klage auf ermessensgerechte Bescheidung seines Förderantrags erhoben. Der Bescheid vom 6.11.2017 lasse die Gesichtspunkte für die nur sechsmonatige Förderung nicht erkennen.

Der Widerspruch vom 19.2.2019 sei fristgemäß erhoben worden, weil die 1jährige Frist nach § 66 Abs. 2 SGG gelte. Denn gegen die seit 1.1.2018 maßgebende Fassung von § 84 SGG habe der Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht darauf hingewiesen, dass auch in elektronischer Form nach § 36a SGB I Widerspruch erhoben werden könne.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt demgemäß,

den Widerspruchsbescheid vom 4.4.2019 sowie den Bescheid vom 14.12.2018 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 6.11.2017 zu verurteilen, den Antrag auf Einstiegsgeld nach sachgerechtem Ermessen zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.12.2018 sei verfristet erhoben worden. Die Rechtsbehelfsbelehrung habe zutreffend auf die bestehenden Zugangswege für einen Wider-spruch belehrt. Es habe keine Verpflichtung bestanden, auf den elektronischen Rechtsverkehr hinzuweisen.

Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten gewech-selten Schriftsätze und die beigezogene Leistungsakte verwiesen.

Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung mit Gerichtbescheid nach § 105 SGG angehört worden.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig; auch mit der Verwerfung eines Widerspruchs als unzulässig ist das für die Bescheidungsklage nötige Vorverfahren durchgeführt worden.

Die Klage ist aber nicht begründet. Der Beklagte verweist zu Recht auf die Bestandskraft bzw. Bindungswirkung des Bescheides vom 14.12.2018, da der Widerspruch nicht fristgemäß erhoben wurde und Wiedereinsetzungsgründe nicht vorliegen.

Nach einhelliger Auffassung ist eine Rechtsbehelfsbelehrung auch dann unrichtig - mit der Folge der Eröffnung der einjährigen Widerspruchsfrist nach § 66 Abs. 2 SGG -, wenn sie unvollständig verfasst wird.

Unvollständig im genannten Sinn wäre die hier zu beurteilende Rechtsbehelfsbelehrung, wenn der Beklagte den nach § 84 SGG in der seit 1.1.2018 geltenden Fassung möglichen, elektronischen Zugangsweg nach § 36a Abs. 2 SGB I eröffnet hätte, ohne hierüber zu belehren (insoweit zutreffend SG Berlin vom 25.10.2018 - S 121 AS 10417/18 ER; LSG Schleswig-Holstein vom 20.12.2018 - L 6 AS 202/18 B ER).

Es kommt mithin darauf an, ob der Beklagte die elektronische Form der Widerspruchserhebung i.S.v. § 36a SGB I eröffnet hatte. Denn weder aus § 2 EGoVG, den entsprechenden Landesregelungen – hier § 4 EGovG Berlin-, noch § 84 SGG folgt unmittelbar der Zugang zum Widerspruch mit verschlüsselter E-Mail oder per DE-Mail-Postfach.

Auch das bloße Vorhandensein der technischen Einrichtungen zum Empfang gesicherter elektronischer Post ist keine Zugangseröffnung i.S.v. § 36a SGB I.

Denn eine Zugangseröffnung setzt voraus, dass neben der technischen Einrichtung für elektronische Kommunikation, die den Anforderungen für einen gesicherten Datenaustausch entspricht, auch nach dem Willen der Behörde die Nutzung dieser Kommunikationswege für allgemeine oder spezielle Zwecke freigegeben ist. Dazu bedarf es noch eines besonderen Widmungsaktes der den Willen zur Zugangseröffnung bekundet (Steinbach in: Hauck/Noftz, SGB,I § 36a Rn 5; Denkhaus/Richter/Bostelmann, § 2 EGovG, Rn. 26 ff).

Der Beklagte hat die Möglichkeit geschaffen, gesicherte elektronische Post zu empfangen und hat auch eine EGVP-Adresse gelistet, um mit den Gerichten zu kommunizieren.

Ob daraus folgt, dass Bürgern der Zugang für einen elektronischen Widerspruch nach § 36a SGB I eröffnet ist, muss nach überzeugender Rechtsprechung des BVerwG zu der § 36a SGB I gleichlautenden Regelung des § 3a VwVfG (BVerwG vom 7.12.2016 - 6 C 12/15) unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung ermittelt werden.

Insoweit wird die Auffassung vertreten, dass bereits eine geschaffene, technische Zugangsmöglichkeit, z. B. eine EGVP-Adresse, eine konkludente Widmung für die Eröffnung elektronischer Kommunikation mit den Leistungsberechtigten beinhalte, die sich auch auf Rechtsbehelfe beziehe, sofern auf den Bescheiden oder in der Rechtsbehelfsbelehrung keine entgegenstehenden Hinweise gegeben werden (SG Berlin vom 25.10.2018 - S 121 AS 10417/18 ER; LSG Schleswig-Holstein vom 20.12.2018 - L 6 AS 202/18 B ER und jüngst SG Berlin vom 21.1.2020 – S 179 AS 4920/19 ER).

Dem kann nach Auffassung der Kammer nicht gefolgt werden. Denn mangels einer unstreitig fehlenden, ausdrücklichen Zugangseröffnung, wie sie beispielsweise die Sozialämter Berlins mit exakter Bezeichnung einer E-Mail-Adresse für Widersprüche verlautbaren, könnte im vorliegenden Fall allenfalls die E-Mail-Adresse im Briefkopf des Bescheides als konkludente Widmung gewertet werden. Dieser Wertung steht aber entgegen, dass der Beklagte mit der auf analoge Zugangswege beschränkten Rechtsbehelfsbelehrung zumindest ebenso konkludent dokumentiert, dass er die Widerspruchseinlegung durch elektronische Dokumente (noch) nicht eröffnet hat.

Das BVerwG hat in seiner nach wie vor wegweisenden Entscheidung vom 7.12.2016 – 6 C 49/15 die konkludente Widmung darin gesehen, dass in der Rechtsbehelfsbelehrung auf den Widerspruch in elektronischer Form hingewiesen wurde und auch der Internetauftritt der Behörde Informationen zur Kommunikation in der nötigen gesicherten Form gegeben hatte (s. dazu auch VG Neustadt vom 22.9.2011 – 4 K 540/11.NW: Homepage mit genauer Erläuterung zu sicherer elektronischer Kommunikation mit Angabe einer dafür zu nutzenden Email-Adresse).

Dagegen informiert sowohl der Beklagte in seinem Internettauftritt als auch die BA mit dem eingerichteten Bürger-Portal für Auskünfte und Merkblätter zum SGB II ausdrücklich darüber, dass ein Widerspruch schriftlich oder zur Niederschrift bei der Behörde zu erheben ist.

Aus diesem Grund genügt weder die bloße Angabe einer E-Mail-Adresse im Briefkopf des angefochtenen Bescheides, um auf eine konkludente Widmung zu schließen, die auch die Bereitschaft zur Entgegennahme von Widersprüchen in elektronischer Form umfasst (so auch VG Freiburg vom 30.1.2018 - 13 K 881/16), erst recht kann der Behörde die erforderliche Widmung, ein Willensentschluss, nicht über den rein technisch möglichen Empfang verschlüsselter Post aufgezwungen werden; letztlich liefe dies auf eine bloße Widmungsfiktion hinaus, um die verzögerte Umsetzung der Verpflichtung aus § 2 EGovG bzw. § 4 EGovG Berlin zu sanktionieren.

Es ist auch nicht stimmig, die konkludente Widmung auf ein bestehendes technisches Equipment zu stützen und die im Internet gegebenen Informationen zum Widerspruchsverfahren auszublenden oder für unbeachtlich zu erklären.

Wenn LSG Schleswig-Holstein vom 20.12.2018 - L 6 AS 202/18 B ER das Argument der Behörde, die EGVP-Adresse diene nur der Kommunikation mit den Gerichten, mit Verweis auf die Verpflichtung zur Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs beiseite wischt, ersetzt es den Widmungsakt durch den Normbefehl, den Zugang für Widersprüche in der § 36a SGB I entsprechenden Form zu eröffnen. M.a.W.: das Gericht schreibt der Behörde vor, den Zugang zu eröffnen, um daraus dann die Unvollständigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung herzuleiten, eine klassische petitio principii, die überdies verkennt, dass sich die Rechtsbehelfsbelehrung nicht an geschäftliche Nutzer und Rechtsanwälte richtet, sondern an die Bescheidadressaten, für die die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs noch nicht gleichermaßen selbstverständlich ist wie der Postweg (s. dazu OVG Sachsen vom 17.3.2020 – 5 E 108/19).

Die Rechtsbehelfsbelehrung dient dazu, den Beteiligten, vornehmlich den betroffenen Bürgern, ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur Wahrung ihrer Rechte zu ermöglichen. Das BSG vom 9.4.2014 – B 14 AS 46/13 R spricht treffend von der "Wegweiserfunktion" der Rechtsbehelfsbelehrung: Sie muss einerseits über die Zulässigkeit des Widerspruchs, die einzuhaltende Frist, die Form und den Sitz der zuständigen Behörde belehren; andererseits sollte sie nicht mit weiteren Informationen überfrachtet sein. Wenn zusätzlich belehrt wird, muss dies richtig und vollständig erfolgen, darf aber keine Verwirrung stiften oder den Eindruck erwecken, die Rechtsverfolgung sei schwieriger als sie in Wirklichkeit ist.

Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Rechtsbehelfsbelehrung erst dann unrichtig, wenn sie in wesentlichen Aussagen unzutreffend oder derart unvollständig oder missverständlich gefasst ist, dass hierdurch -bei objektiver Betrachtung- die Möglichkeit zur Fristwahrung gefährdet erscheint. Davon kann hier keine Rede sein; vielmehr wäre der Hinweis auf eine Widerspruchserhebung in elektronischer Form nach § 36a SGB I irreführend, weil der Beklagte diese Möglichkeit noch nicht eröffnet hat.

Es bleibt somit festzustellen, dass hier die reguläre Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheides gilt, die unstreitig nicht gewahrt wurde.

Wiedereinsetzungsgründe liegen nicht vor, insbesondere hat der Beklagte nicht den Eindruck erweckt, dass ein Widerspruch auch elektronisch erhoben werden könne. Auch insoweit gilt, dass der im Briefkopf aufgeführten E-Mail-Adresse kraft der vollständigen und eindeutigen Rechtsbehelfsbelehrung keine irreführende Wirkung beigemessen werden kann.

Die Klage muss daher abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Haupt- sache.
Rechtskraft
Aus
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