S 37 AS 11335/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 37 AS 11335/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Im Rahmen der Prüfung einer Sanktion, die auf die Verletzung einer per Eingliederungs-VA auferlegten Pflicht zurückgeht, ist ungeachtet der Bestandskraft des Eingliederungs-VA´s zu beurteilen, ob der Betreffende wirksam und rechtmäßig den im Eingliederungs-VA festgelegten Pflichten unterworfen war.

2. Eine vor dem 5.11.2019 festgesetzte, nicht bestandskräftige Sanktion nach § 31 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die Zeiträume nach dem 5.11.2019 erfasst, verpflichtet nur dann zur (mündlichen) Anhörung und zum Hinweis auf eine Verkürzung bei Bekundung zukünftiger Pflichterfüllung, wenn eine reale Chance auf eine ernsthafte Erklärung zur Mitwirkungsbereitschaft besteht.

3. Minderungen über 30% durch Überschneidung von Sanktionszeiträumen sind nicht per se verfassungswidrig; ggfs. erfordert eine daraus resultierende Härte Korrekturen.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Sanktionsbescheides nach § 31 Abs. 1 SGB II.

Der Kläger bezieht seit 2017 Alg II. Er geht einer Nebentätigkeit als Fahrer auf 165 EUR-Basis nach.

Wegen versäumter Meldetermine waren Sanktionen nach § 32 SGB II verfügt worden, die den Zeitraum September bis November 2019 bzw. Oktober bis Dezember 2019 erfassten (Bescheid vom 8.8.2019 zum Meldetermin 16.5.2019, sowie Bescheid vom 29.8.2019 zum Meldetermin 23.7.2019).

Außerdem hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10.10.2019 eine Sanktion nach § 31 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II verfügt, der die Ablehnung eines zusammen mit einem Eingliederungs-Verwaltungsakt vom 23.7.2019 zugesandten Angebots einer Eingliederungsmaßnahme nach § 16 SGB II i.V.m. § 45 SGB III zugrunde liegt (Coaching für erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit Einkommen).

Die im Hinblick auf die Tätigkeit des Klägers in Teilzeit angebotene Maßnahme, die vom 29.7. bis zum 28.10.2019 laufen sollte, hatte der Kläger im Anhörungsverfahren zur Prüfung einer Sanktion mit den Worten zurückgewiesen, er habe die Maßnahme erst mit Schreiben vom 29.7.2019 zur Kenntnis nehmen können; das Erfordernis einer beruflichen Eingliederung sehe er angesichts der ausgeübten Tätigkeit im Fahrdienst nicht.

Den gegen die Sanktion erhobenen Widerspruch, in dem der Kläger die Maßnahme als "absoluten Witz" bezeichnete, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5.11.2019 als unbegründet zurück; der Kläger habe keinen wichtigen Grund für die Ablehnung der mit Rechtsfolgenbelehrung extra für berufstätige Leistungsbezieher konzipierten Maßnahme dargelegt.

Hiergegen richtet sich die am 9. Dezember 2019 beim Sozialgericht Berlin erhobene Klage.

Der Kläger macht geltend, die Sanktion sei im Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 aufzuheben; er habe die Maßnahme als freiwilliges Angebot gewertet; überdies überschnitten sich im November und Dezember 2019 die Sanktionsfolgen mit einer Gesamtkürzung der Leistungen von 50%. Dies sei trotz der im Bescheid vom 10.10.2019 angebotenen Gutscheine für ergänzende Sachleistungen verfassungswidrig.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid vom 10.10.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.11.2019 aufzuheben

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Sanktion mit Bescheid vom 29.8.2019 sei aufgehoben worden. Eine Überschneidung geben es nur im Monat November mit insgesamt 40% Leistungsminderung, bedingt durch den bestandskräftigen Sanktionsbescheid vom 8.8.2019.

Ergänzend wird zum übrigen Sach- und Streitstand auf die zwischen den Beteiligten gewech- selten Schriftsätze sowie die in Auszügen vorliegende Leistungsakte verwiesen.

Den mit Postzustellungsurkunde bekannt gegebenen Eingliederungs-VA hat der Kläger nicht angefochten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Sanktion ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts ist im Rahmen der Prüfung einer Sanktion, die auf die Verletzung einer per Eingliederungs-VA auferlegten Pflicht zurückgeht, wie hier, ungeachtet der Bestandskraft des Eingliederungs-VA´s zu beurteilen, ob der Betreffende wirksam und rechtmäßig den im Eingliederungs-VA festgelegten Pflichten unterworfen war.

Dies folgt aus den strengen Anforderungen, die das BVerfG im Urteil vom 5.11.2019 für die Berechtigung zur Kürzung der Regelbedarfsleistungen vorgegeben hat (so auch schon früher LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.1.2019 – L 11 AS 877/18; s. auch LSG NRW vom 23.5.2019 – L 7 AS 1790/18).

Der hier einschlägige Eingliederungs-VA ist mit Postzustellungsurkunde bekannt gegeben worden und insoweit auch wirksam (§ 39 SGB X). Er erfüllt die nötige Ausgeglichenheit des Forderns und Förderns gemäß BSG vom 23.6.2016 – B 14 AS 30/15 R, insbesondere sind Leistungen für Fahrkosten zur Maßnahmeteilnahme verbindlich zugesagt worden (Ziffer 6. Eingliederungs-VA).

Dass die Geltungsdauer bis "auf weiteres" offen gelassen war, ist unschädlich, weil Ziffer 8. eine Fortschreibung des VA spätestens nach Ablauf von 6 Monaten vorschreibt. Das genügt nach BSG vom 21.3.2019 – B 14 AS 28/18 R.

Die Teilnahme an der Maßnahme, die mit korrekter Rechtsfolgenbelehrung (nach dem Stand vor dem BVerfG-Urteil) angeboten wurde, war dem Kläger zumutbar. Will man ihm keine Arbeitsverweigerung unterstellen, indiziert die langjährige Arbeitslosigkeit mit einem sehr geringfügigen Minijob, dass der Kläger Hilfe zur Erlangung einer Vollzeitbeschäftigung benötigte.

Dazu war die angebotene Maßnahme laut Leistungsbeschreibung geeignet, vor allem richtete sie sich an erwerbstätige Personen, so dass der im Widerspruchsschreiben mitschwingende Vorwurf, einer Maßnahme für arbeitsmarktferne Menschen beiwohnen zu sollen, ins Leere geht.

Auch sonst gehen die Einwände des Klägers gegen die Maßnahme nicht über Allgemeinplätze hinaus. Ein wichtiger Grund für die verweigerte Teilnahme ist darin nicht zu erkennen.

Obwohl die Sanktion auch Zeiträume nach dem BVerfG-Urteil umfasst, war der Beklagte nicht gehalten, die strengen Anforderungen, die das BVerfG an die Anhörung vor Festsetzung der Sanktion stellt, im Wege einer Einladung zur mündlichen Anhörung nachzuholen. Schon deshalb nicht, weil dies nur dem Zweck dienen könnte, eine "Nachholung" der Maßnahme anzubieten, um die Sanktion mit Beginn der Teilnahme zu beenden.

Darauf, dass er die Maßnahme dann angetreten hätte, kann sich der Kläger aber nicht berufen. Sein Widerspruch und die Klage zeigen deutlich, was er von der Maßnahme hält.

Der Vortrag, er hätte die Maßnahme im November oder Dezember begonnen, wäre ihm das nur angeboten werden, ginge über eine am Ausgang des Klageverfahrens zweckorientierte Äußerung nicht hinaus. Das erkennende Gericht hatte daher keinen Anlass, die Sache zu vertagen, um den näher nachzugehen.

Schließlich schadet auch die Überschneidung der § 31 Abs. 1 Sanktion mit den Meldesanktionen nach § 32 SGB II nicht. Das BVerfG ist im Urteil vom 5.11.2020 weder auf die Meldesanktionen eingegangen, noch auf die Frage, ob eine 30%-Sanktion mit einer Melde-Sanktion zusammentreffen darf. Dem Urteil kann somit nicht entnommen werden, dass kumulierte und mit Bekundung tätiger Reue abkürzbare Leistungsminderungen über 30% das Gebot der Sicherstellung des Existenzminimums verletzen.

Sollte die Kumulierung zu einer Härte führen, kann ggf. nachgesteuert werden. Im vorliegenden Fall hatte der Beklagte die Sanktion vom Oktober bis Dezember (Meldeversäumnis vom 23.7.2019) am 12.11.2019 aufgehoben. Die Sanktion auf das Meldeversäumnis vom 16.5.2019 bewirkt im Monat November eine zusätzlich Leistungskürzung von 42,40 EUR, was nicht zu einer Härte i.S. des BVerfG-Urteils führt.

Die Klage musste daher abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der nach dem Streitwert ausgeschlossenen Berufung liegen nicht vor. Die Grundsätze zur Vereinbarkeit von Sanktionen mit Art. 1, 2 GG sind mit dem Urteil vom 5.11.2019 geklärt worden.
Rechtskraft
Aus
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