S 12 SO 3012/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SO 3012/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 838/20
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Nach knapp 40 Ehejahren trägt selbst ein in Bezug auf seine Ehefrau vollständiger Libido-Verlust eines 77-jährigen Ehemannes nicht die Schlussfolgerung, dass sich der Ehemann dauerhaft von seiner Ehefrau trennen möchte.
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 01.08.2019 bis 30.06.2020 streitig.

Die 1948 in Algerien geborene Klägerin heiratete ihren 1942 ebenfalls in Algerien geborenen Ehemann vor ca. 39 Jahren und wanderte noch im selben Jahr in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Beklagte gewährt der Klägerin seit dem 01.09.2013 laufend Grundsicherungsleistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 unter leistungsmindernder Anrechnung des Altersrenteneinkommens ihres Ehemannes. Diesen bevollmächtigte die Klägerin bereits am 19.11.2013 zum Schriftverkehr mit der Beklagten. Obgleich sie bereits zuvor gegenüber der Beklagten behauptet hatten, voneinander getrennt zu leben, zogen beide Eheleute zum 01.04.2019 gemeinsam in ihre derzeit bewohnte und von der gemeinsamen Tochter angemietete Unterkunft um. Der Ehemann erledigte auch den sonstigen Schriftverkehr der Klägerin, übernahm die Kosten der gemeinsamen Hausrat- und Haftpflichtversicherungen, die Strom- und Nebenkostenabrechnungen und ließ auch seine Rentenleistungen auf das gemeinsame Ehekonto auszahlen, von dem die gemeinsamen Mietschulden laufend bedient werden.

Mit dem hier nicht streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid vom 27.05.2019 wies die Beklagte zwei Widersprüche der Klägerin gegen zwei Bescheide der Beklagten vom 14.03.2019 bzw. 03.05.2019 zurück, nachdem die Beklagte aufgrund von zwei Hausbesuchen in der Wohnung der Eheleute vom 26.03.2019 und 14.05.2019 zur Einschätzung gelangt war, dass die Klägerin entgegen ihres Widerspruchsvorbringens mit ihrem Ehemann nicht in der gemeinsamen Wohnung getrennt lebt(e).

Nachdem die Klägerin bei einem weiteren Hausbesuch vom 18.06.2019 der Sachbearbeitung des Beklagten am 18.06.2019 das Bett im Schlafzimmer der weiterhin gemeinsam bewohnten Wohnung ausdrücklich als "unser Ehebett" gezeigt und der Beklagte aufgrund der sonstigen Inaugenscheinnahme der Unterkunft den – schriftlich näher geschilderten – Eindruck gewonnen hatte, dass die Klägerin und ihr Ehemann gemeinsam miteinander wirtschafteten, bewilligte sie mit Bescheid vom 10.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 der Klägerin für die Zeit vom 01.07.2019 bis 30.06.2019 die vorläufig bewilligten Grundsicherungsleistungen erneut nur unter leistungsmindernder Anrechnung des Ehegatteneinkommens in Gestalt einer Altersrente der Deutschen Rentenversicherung Rheinland-Pfalz sowie nach der Regelbedarfsstufe 2.

Anlässlich der Nachreichung aktueller Nachweise über die Kosten einer von den Eheleuten gemeinsam abgeschlossenen Hausrat- und Haftpflichtversicherung gewährte die Beklagte der Klägerin mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 21.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2019 unter Aufhebung des letzten "Grundsicherungsbescheides vom 16.08.2019" (offenkundig gemeint stattdessen: "Grundsicherungsbescheides vom 10.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019) vorläufig höhere Leistungen unter unveränderter Anrechnung des Renteneinkommens des Ehemanns des Klägers.

Hiergegen hat die durch ihren Ehemann vertretene Klägerin am 12.09.2019 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Sie trägt erneut vor, dass sie mit ihrem Ehemann getrennt lebe und "leider" keine "intime Beziehung" mehr führe. Sie sei froh, dass Ihr Ehemann bereit sei, die selbe Wohnung gemeinsam im Rahmen einer Wohngemeinschaft ("WG") zu nutzen, weil die Miete teuer sei. Sie wohnten allerdings nur aus finanziellen Motiven zusammen. Allein könne sie die Miete nicht zahlen. Deswegen helfe er mit allen Kosten (Miete, Telefon, Strom). Sie sei eine deutsche Bürgerin und denke, in Deutschland würden die Menschenrechte gelten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 21.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2019 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 10.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 höhere Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches für den Bewilligungszeitraum 01.08.2019 bis 30.06.2020 ohne leistungsmindernde Anrechnung des Einkommens ihres Ehemannes sowie nach der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, sie habe im Rahmen der Widerspruchsbescheide vom 20.08.2019 und 03.09.2019 zur Sach- und Rechtslage hinreichend Stellung genommen.

Das Gericht hat die Beteiligten auf seine Absicht hingewiesen, ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.

Wegen des weiteren Vorbringens und Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakte und den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage hat in der Sache keinen Erfolg, weil der Klägerin gegen die Beklagte kein Anspruch auf höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII für die Zeit vom 01.08.2019 bis 30.06.2020 zusteht.

Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbs-gemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 SGB XII bestreiten können, auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten. Einkommen und Vermögen des nicht getrenntlebenden Ehegatten oder Lebenspartners, die dessen notwendigen Lebensunterhalt nach § 27a SGB XII übersteigen, sind gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB XII zu berücksichtigen. Personen, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft leben, dürfen hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfangs der Sozialhilfe nicht bessergestellt werden als Ehegatten (§ 20 SGB XII); § 39 Satz 1 SGB XII ist nicht anzuwenden (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB XII).

Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfassen u. a. die Regelsätze nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 SGB XII (§ 42 Nr. 1 SGB XII). Nach § 27a Abs. 3 SGB XII sind zur Deckung der Regelbedarfe, die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 SGB XII ergeben, monatliche Regelsätze zu gewähren (Satz 1). Der Regelsatz stellt einen monatlichen Pauschalbetrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen (Satz 2). Der Regelbedarfsstufe 1 sind erwachsene leistungsberechtigte Personen, die als alleinstehende oder alleinerziehende Personen einen eigenen Haushalt führen, zuzuordnen. Regelbedarfsstufe 2 gilt für jeweils zwei erwachsene Leistungsberechtigte, die als Ehegatten, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen.

Gemessen hieran hat die Klägerin keinen Anspruch auf höhere als die vom Beklagten bewilligten Leistungen. Sie hat zwar die Altersgrenze erreicht und ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Sie kann auch ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht vollständig aus eigenem Einkommen und Vermögen bestreiten. Jedoch muss sie sich das Renteneinkommen ihres Ehemannes in der von der Beklagten herangezogenen Höhe auf ihr Einkommen leistungsmindernd anrechnen lassen und kann auch die Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 nicht (sondern nur die Regelbedarfsstufe 2) verlangen, da die Klägerin mit ihrem Ehemann nicht "getrennt" lebt.

Ob Ehepaare und Lebenspartner dauernd getrennt leben, bestimmt sich nicht nach § 1567 Abs. 1 BGB, sondern im Rahmen einer funktionsdifferenten Auslegung eigenständig nach Sinn und Zweck sozialhilferechtlicher Vorschriften und Maßstäbe. Ein Getrenntleben liegt danach vor, wenn sich aus den die Beziehung der Ehegatten zueinander kennzeichnenden Gesamtumständen ergibt, dass mindestens einer von ihnen den Willen hat, sich vom anderen Ehegatten unter Aufgabe der bisherigen Lebensgemeinschaft auf Dauer zu trennen. Die Annahme eines derartigen Trennungswillens setzt nicht voraus, dass die Eheleute keinerlei Kontakt mehr zueinander haben. Maßgebend ist deshalb, ob die Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft der Ehe- oder Lebenspartner nach den tatsächlichen Verhältnissen nicht nur vorübergehend aufgehoben ist und der Wille, füreinander einzustehen, nicht mehr besteht (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 27 SGB XII, Rn. 14).

Das LSG Baden-Württemberg v. 01.10.2015 (L 7 SO 118/14 - juris Rn. 56) hält die bloße Erklärung, die Partnerschaft aufgelöst zu haben, dabei nicht für ausreichend. Eine eheähnliche Lebensgemeinschaft könne zwar jederzeit ohne ein rechtlich geregeltes Verfahren aufgelöst werden. Eine hinreichend sichere Feststellung sei jedoch nur dann möglich, wenn die Entscheidung zur Beendigung durch äußere Umstände hinreichend klar dokumentiert werde.

Dabei genügt es, wenn sich aus den die Beziehung der Eheleute zueinander kennzeichnenden Umständen ergibt, dass mindestens einer der Ehegatten den Willen hat, sich vom anderen Ehegatten unter Aufgabe der bisherigen Lebensgemeinschaft auf Dauer zu trennen und dies durch äußere Umstände hinreichend klar dokumentiert ist (LSG Baden-Württemberg v. 19.04.2018 - L 7 SO 4981/14). Trotz unterschiedlicher Zielrichtung werden sich die Begriffe des Getrenntlebens im Sinne des § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB XII und des § 1567 Abs. 1 BGB aber im Wesentlichen decken. Ein Getrenntleben ist z.B. auch innerhalb der Ehewohnung möglich. Eine (vorübergehende) örtliche Trennung – etwa aus beruflichen Gründen – führt andererseits nicht zum Getrenntleben und damit zur Aufhebung der Einsatzgemeinschaft.

Unter Zugrundelegung dieser Beurteilungsgrundsätze ist die Klage hier abzuweisen, weil die Klägerin und ihr Ehemann nicht getrennt voneinander leben, sondern in der gemeinsamen Wohnung gemeinsam wohnen und wirtschaften. Die Kammer stützt ihre volle Überzeugung hiervon auf die Protokolle der drei aktenkundigen Hausbesuche des Außendienstes der Beklagten, die sie im Wege des Urkundenbeweises verwertet. Die Kammer hat keine vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin und ihr Ehemann Tisch und Bett teilen. Soweit die Klägerin dies seit Jahren bestreitet, liegt zur tatrichterlichen Überzeugung ein gesteigertes Vorbringen in Gestalt einer unglaubhaften Schutzbehauptung vor. Die fehlende Glaubhaftigkeit der Angaben beruht maßgeblich darauf, dass sich die Klägerin und ihr bevollmächtigter Ehemann bereits in der Vergangenheit mehrfach als unglaubwürdig erwiesen haben, soweit sie zur Durchsetzung höherer Grundsicherungsleistungen ein Getrenntleben behauptet haben, obgleich sie weiterhin vom selben Konto wirtschafteten, aus Kostengründen gemeinsam in eine andere Wohnung umzogen und sich auch nach den unbestrittenen Einlassungen der Klägerin dort ein gemeinsames Ehebett teilten.

Gegen diese Beweiswürdigung spricht auch nicht, dass die Eheleute im fortgeschrittenen Lebensalter von 72 bzw. 77 Lebensjahren nach eigenen Angaben nicht mehr die Intimität früherer Jahre miteinander teilen. Nach knapp vier Jahrzehnten Ehe muss dies kein Ausdruck aufgehobener partnerschaftlicher Verbundenheit sein, zumal die Klägerin diesen Umstand sogar ausdrücklich bedauert ("leider"). Nach knapp 40 Ehejahren trägt selbst ein in Bezug auf seine Ehefrau vollständiger Libido-Verlust eines 77-jährigen Ehemannes nicht die Schlussfolgerung, dass sich der Ehemann dauerhaft von seiner Ehefrau trennen möchte.

Zur weiteren Begründung nimmt die Kammer nach § 136 Abs. 3 SGG auf die Begründung der angefochtenen Bescheide Bezug, weil sie diesen folgt.

Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus § 193 SGG und dem vollständigen Unterliegen der Klägerin.
Rechtskraft
Aus
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