S 9 AS 834/05

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Schleswig (SHS)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 9 AS 834/05
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Sozialhilfe entwickelte Grundsatz eines Individualanspruchs gilt auch im Leistungssystem des SGB II.
2. Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide wegen zu Unrecht gewährten Leistungen nach dem SGB II müssen eindeutig erkennen lassen, welches Mitglied der Bedarfsgemeinschaft in welcher Höhe Leistungen zu Unrecht erhalten hat und welcher Betrag von welcher Person zurückgefordert wird, um dem Bestimmtheitsgrundsatz des § 33 Abs. 1 SGB X zu genügen.
3. Für die Annahme einer gesamtschuldnerischen Haftung der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage im SGB II.
Der Bescheid vom 7.6.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.9.2005 wird aufgehoben. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides. Der Kläger steht gemeinsam mit seiner Ehefrau seit dem 01. Januar 2005 im Leistungsbezug der Beklagten. Mit Bewilligungsbescheid vom 30. November 2004 gewährte die Beklagte dem Kläger und seiner Ehefrau Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 01. Januar 2005 bis 30. April 2005 in Höhe von monatlich 755,79 Euro. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus der Regelleistung jeweils in Höhe von 311,00 Euro sowie den Kosten für Unterkunft und Heizung für das selbstbewohnte Eigenheim in Höhe von 133,79 Euro. Der Bewilligungsbescheid vom 30. November 2004 ist an den Kläger adressiert und beginnt mit dem Einleitungssatz: "Sehr geehrter Herr , für Sie und die mit Ihnen in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Person werden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01. Januar 2005 bis 30. April 2005 in folgender Höhe bewilligt: Höhe der monatlich zustehenden Leistungen 755,79 Euro". Ferner heißt es in dem Bescheid: "Bei der Festsetzung der Höhe der Leistungen wurden nachstehend aufgeführte Personen (Bedarfsgemeinschaft) berücksichtigt: [Ehefrau des Klägers]. Folgende Änderungen sind eingetreten: am 29. November 2005 teilten Sie uns telefonisch mit, dass die Beschäftigung von Frau saisonbedingt zum 31. Dezember 2004 endet und der Arbeitgeber von Frau voraussichtlich zum 01. Mai 2005 wieder einstellen wird. Die Neuberechnung dieser Ansprüche wurde ohne Berücksichtigung auf eventuelle Ansprüche auf Arbeitslosengeld durchgeführt. Im Falle der Gewährung auf Arbeitslosengeld, bitte diesen Umstand uns umgehend mitteilen, damit von unserer Seite eine Neuberechnung Ihrer Ansprüche auf Arbeitslosengeld II stattfinden kann." Auf den dem Bescheid anliegenden Berechnungsbogen der Beklagten wird Bezug genommen. Am 02. März 2005 stellte ein Arbeitsvermittler der Beklagten fest, dass die Ehefrau des Klägers seit dem 01. Januar 2005 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich 513,00 Euro hatte. Am 29. März 2005 teilte die Ehefrau des Klägers der Beklagten mit, zum 01. April 2005 bei der Firma in B. ein Arbeitsverhältnis aufzunehmen. Da das erste Gehalt erst im Monat Mai 2005 ausgezahlt wurde, rechnete die Beklagte von dem Nettoeinkommen der Ehefrau in Höhe von 1256,80 Euro bei der Bedarfsberechnung 979,84 Euro als Erwerbseinkommen an. Am 28. April 2005 erfolgte noch eine Überweisung an die Bedarfsgemeinschaft des Klägers in Höhe von 755,79 Euro, die die Beklagte als Leistung für den Monat Mai wertete. Am 07. Juni 2005 erließ die Beklagte einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid an den Kläger. Wörtlich heißt es darin: "Sehr geehrter Herr , die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II wird für die Zeit ab 01. Januar 2005 bis 30. April 2005 teilweise aufgehoben. Die im Zeitraum 01. Januar 2005 bis 30. April 2005 zu Unrecht gezahlten Leistungen sowie die ohne Rechtsgrund im Mai 2005 gezahlten Leistungen sind von Ihnen zu erstatten. ( ) Frau hat in der Zeit vom 01. Januar bis 30. März 2005 Arbeitslosengeld I und ab dem 01. Mai 2005 Erwerbseinkommen (erster Zufluss im Mai 2005). ( ) Frau hat nach Antragstellung oder Erlass der Entscheidung Einkommen oder Vermögen erzielt, dass zum Wegfall oder Minderung Ihres Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SBG X). In der Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 und 01.05.2005 bis 31.05.2005 wurden Ihnen Arbeitslosengeld II in Höhe von 2204,79 Euro zu Unrecht gezahlt. Dieser Betrag ist von Ihnen zu erstatten (§ 50 Abs. 1 SGB X)." Auf den weiteren Inhalt des Bescheides wird Bezug genommen. Hiergegen erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 22. Juni 2005 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, der Kläger und seine Ehefrau hätten in den Monaten November 2004 bis einschließlich Mai 2005 mehrfach darauf hingewiesen, dass die ihnen erteilten Bescheide fehlerhaft seien. Dies ergebe sich auch aus einem Nachweis der Telefongesellschaft, wonach der Kläger und seine Ehefrau mit der Bundesanstalt für Arbeit 38 Telefonate geführt hätten. Ferner müsste für den Kläger ein Vertrauensschutz gelten, da er all seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen sei. Am 15. September 2005 erging der ablehnende Widerspruchsbescheid der Beklagten. Zur Begründung führte sie aus, die Bewilligung des Arbeitslosengeld I ab Januar 2005 für die Ehefrau des Klägers sei erst am 18. Januar 2005 ausgesprochen worden. Dies habe der Kläger nicht mitgeteilt. Der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 30. November 2004 sei demnach gemäß § 48 SGB X aufzuheben, so dass Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes keine Rolle spielten. Von den 513,00 Euro Arbeitslosengeld I sei allerdings noch die Versicherungspauschale in Höhe von monatlich 30,00 Euro abzuziehen. Der Aufhebungs- und Rückforderungsbetrag mindere sich daher auf 2204,79 Euro. Dieser Betrag sei daher "vom Ehepaar / " zu erstatten.

Am 07. Oktober 2005 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers beim Sozialgericht Schleswig Klage erhoben. Zur Begründung führt er in der mündlichen Verhandlung am 13. Juni 2006 aus, die Beklagte habe bei der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheidung ihr Ermessen nicht hinreichend ausgeübt. Hinsichtlich des ausgezahlten Betrages vom 28. April 2005 sei ferner unklar, für welchen Monat diese Leistung erfolgt sei. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

Den Bescheid vom 07. Juni 2005 in Gestallt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

Die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt die Beklagte auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren Bezug und führt ferner aus, dass eine Rückforderung der Leistungen von dem Kläger durch die Vertretungsregelung des § 38 SGB II gedeckt sei.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Anfechtungsklage statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet.

Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 07. Juni 2005 in Gestallt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Beklagten ist zwar in soweit zuzustimmen, als dass die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 30. November 2004 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu erfolgen hat. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1. Satz 2 Nr. 3 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Im Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides vom 30. November 2004 war jedoch noch nicht bekannt, ob und in welcher Höhe der Ehefrau des Klägers ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I zusteht. Eine Bewilligung erfolgte erst im Januar 2005. Der in der "soll" – Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ohnehin nur eingeschränkte Vertrauensschutz wird durch den Verweis in § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II auf § 330 Abs. 3 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGG III) dahingehend noch weiter eingeschränkt, als dass auch in atypischen Fällen eine Ermessensausübung ausscheidet und eine gebundene Entscheidung des Leistungsträgers zu erfolgen hat.

Sowohl die Entscheidung über die Aufhebung als auch über die Rückforderung ist jedoch mangels hinreichender Bestimmtheit rechtswidrig. Gemäß § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Diesen Anforderungen genügt der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 07. Juni 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.09.2005 nicht. Zu dieser Überzeugung gelangt die Kammer vor dem Hintergrund, dass der Aufhebungsbescheid und der die Rückforderung stützende Erstattungsbescheid die Umkehr (das Spiegelbild) des Leistungsverhältnisses sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 1992, Az.: 5 C 29/88; Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 12. Juli 1999, Az.: 8 K 2907/98, jeweils zitiert nach Juris).

Auch nach dem neuen Leistungs- und Bedarfssystem des SGB II für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist vom Grundsatz des Individualanspruches des einzelnen Hilfebedürftigen auszugehen. Die ständige Rechtssprechung der Verwaltungsgerichte hat diesen Grundsatz im Rahmen der Sozialhilfeleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ausgeformt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt (Urteil vom 15. Dezember 1977, Az.: V C 35/77, zitiert nach Juris), dass jeder Hilfebedürftige einen eigenständigen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt habe. Hieran ändere der Umstand nichts, dass bei Zusammenleben von mehreren Personen in einem Haushalt – die aus Eltern und Kindern bestehende Familie ist hierfür der typische Fall – die Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe des § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (Regelsatzverordnung) vom 20. Juli 1962 abgestuft festgesetzt werde (Gedanke der Bedarfsgemeinschaft, der auch in § 16 Satz 1 und in § 90 Abs. 1 Satz 2 BSHG Ausdruck gefunden habe). Damit werde der Erfahrung des täglichen Lebens Rechnung getragen, dass eine Familie "aus einem Topf wirtschafte". Umgekehrt sei dem Bedarf der Familie - ungeachtet der Eigenständigkeit der Ansprüche der einzelnen Familienmitglieder auf Sozialhilfe – das (anrechenbare) Einkommen gegenüberzustellen, das einzelnen Familienmitgliedern zufließe.

In einer Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz führt das Bundesverwaltungsgericht aus (Beschluss vom 28. September 2001, Az.: 5 B 94/00, zitiert nach Juris), dass nach seiner ständigen Rechtssprechung kein allgemeiner Anspruch aller Familienangehöriger auf familieneinheitliche Leistungsgewährung existiere. Aus der Individualität des Sozialhilfeanspruchs folgerte das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 22. Oktober 1992, Az.: 5 C 65/88, zitiert nach Juris), dass der Hilfeempfänger selbst hilfebedürftig sein, der sozialhilferechtliche Bedarf bei ihm persönlich bestehen müsse. Diese Sichtweise entspricht ferner auch dem von dem Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 25. September 1992, Az.: 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. November 1998, Az.: 5 C 37/1997, zitiert nach Juris) vorgegebenen, auf das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) zurückzuführende Verbot, einen Einsatzpflichtigen durch Entzug der für seinen eigenen Lebensunterhalt notwendigen Mittel selbst sozialhilfebedürftig zu machen. Eine solche Auslegung würde gegen das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verstoßen, weil sie denjenigen der sich selbst helfen könne, verpflichtete, seine Mittel für andere einzusetzen, mit der Folge, dass er dadurch selbst mittellos werde und dadurch auf staatliche Hilfe angewiesen sei.

Diese zum sozialhilferechtlichen Anspruch geformten Grundsätze finden nach Auffassung der Kammer auch im Rahmen der Leistungsgewährung von Arbeitslosengeld II Anwendung. Auch hier steht es jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft frei, einen eigenen Anspruch auf Leistungen gegen den Träger der Grundsicherung geltend zu machen (vgl. Conradis, in: LPK-SGB II, 1. Auflage 2005, § 40 Rd.Nr. 14; Schoch, in: Rothkegel, Sozialhilferecht, 1. Auflage 2005, Seite 310, der im Hinblick auf die zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes eine verfassungskonforme Auslegung des § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II fordert; wohl auch Radüge, in: jurispk SGB II, § 9 Rn. 52; a.A. Hänlein, in: Gagel, SGB II, § 9 Rn. 26a). Dem Individualisierungsgrundsatz auch im Leistungssystem des SGB II stehen nicht die §§ 9 Abs. 1 und 38 SGB II entgegen. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht 1.) durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, 2.) aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig, wenn in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist. Nach Auffassung der Kammer dient die Vorschrift des § 9 SGB II vorrangig als Berechungsgrundlage für den jeweiligen Einzelanspruch des Hilfebedürftigen in der Bedarfsgemeinschaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1977, Az.: V C 35/77 zu § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG). Zwar spricht die Gesetzesbegründung zu § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II (BT-Drs 15/1516, S. 53) davon, dass jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf an der Hilfebedürftigkeit beteiligt "ist". Im Gesetzeswortlaut dieser Vorschrift findet sich jedoch mit dem Wort "gilt" nur eine fiktive Annahme der Hilfebedürftigkeit wieder. Eine andere Interpretation würde nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 25. September 1992, Az.: 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, zitiert nach Juris) zu einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG führen.

Auch § 38 SGB II steht dem Individualisierungsgrundsatz im SGB II nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift wird vermutet, dass der erwerbsfähige Bedürftige bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit Anhaltspunkte nicht entgegenstehen. Leben mehrere erwerbsfähige Hilfebedürftige in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zu Gunsten desjenigen, der die Leistungen beantragt. Diese Vertretungsregelung soll vorrangig der Verwaltungspraktikabilität und der Verwaltungsökonomie Rechnung tragen. Es soll im Regelfall verhindert werden, dass der Agentur für Arbeit eine Vielzahl von Ansprechpartnern einer Bedarfsgemeinschaft gegenübersteht und überflüssiger Verwaltungsaufwand anfällt (BT-Drs 15/1516, S. 63). Entsprechend konnte auch der Kläger Leistungen für seine Ehefrau mit beantragen. Der an den Kläger gerichtete Bewilligungsbescheid vom 30. Dezember 2004 beinhaltet daher auch die Leistungen, die dem Kläger und seiner Ehefrau zustehen. Allerdings ist anzumerken, dass dem Bewilligungsbescheid nicht zu entnehmen ist, wie hoch der individuelle Einzelanspruch des Klägers und seiner Ehefrau ist. Dies wird auch nicht aus dem Berechnungsbogen der Beklagten – zumindest nicht ohne eigenen rechnerischen Zwischenschritt - eindeutig erkennbar, da lediglich am Ende ein Gesamtbetrag aufgeführt ist. Auch wenn letztlich der individuelle Einzelanspruch des jeweiligen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft nicht aus dem Bewilligungsbescheid hervorgeht, ist dennoch davon auszugehen, dass die Bewilligung in dem an den Kläger adressierten Bewilligungsbescheid eine Zuwendungsbestimmung enthält, den Einzelanspruch jedes Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft zu befriedigen. Denn Empfänger der Hilfe ist derjenige, der sachlich-rechtlich Inhaber der Forderung gegen den Leistungsträger ist, also der Hilfesuchende, dem die Leistung selbst zugedacht ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 1992, Az.: 5 C 29/88, zitiert nach Juris). Vielmehr lässt sich aus § 38 SGB II ableiten, dass ein individueller Leistungsanspruch besteht. § 38 SGB II ist eine widerlegliche Vermutungsregelung. Wenn das Gesetz selbst eine Vermutungsregelung nur hinsichtlich der Vertretung der Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft vorsieht, so ist dem zu entnehmen, dass eine Antragstellung für jeden einzelnen Angehörigen bzw. Leistungsberechtigten erfolgt.

Gilt der Individualisierungsgrundsatz danach aber auch im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitssuchende und ist ferner der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid Spiegelbild des Bewilligungsbescheides, so gilt der Individualisierungsgrundsatz auch im Rahmen von Entscheidungen über Aufhebung und Rückforderung von Leistungen. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten genügt diesem Individualisierungsgrundsatz und damit der hinreichenden Bestimmtheit des Verwaltungsaktes nicht. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 24. April 2003, Az.: 12 LA 85/03, zitiert nach Juris) hat eine gesamtschuldnerische Haftung der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft ausgeschlossen und entschieden, dass ein Rücknahme- und Rückforderungsbescheid bei Erstattung zu Unrecht gewährter Sozialhilfe nicht gemäß § 33 Abs. 1 SGB X hinreichend bestimmt sei, wenn im Tenor des Bescheides ein Gesamtbetrag von der Bedarfsgemeinschaft gefordert werde. Es reiche auch nicht aus, wenn in der Begründung des Widerspruchsbescheides die Rückforderungssumme zwischen den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft aufgeteilt werde, ohne dass eindeutig aus dem Bescheid hervorginge, welcher Betrag von welchem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zurückgefordert werde. Der Individualanspruch hat entsprechend dem allgemeinen Grundsatz, dass der die Rückforderung stützende Erstattungsanspruch nichts anderes als die Umkehr (das Spiegelbild) des Leistungsverhältnisses ist, zur rechtlichen Konsequenz, dass jedenfalls bei der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nur das der jeweiligen Person Zugewandte und zwar von dieser allein, zurückzufordern ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Juli 1999, Az.: 8 K 2907/98, zitiert nach Juris). Diese gegenüber dem jeweiligen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft isoliert geltend zu machende Aufhebung und Rückforderung der zu Unrecht zugewandten Leistungen gilt auch im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. auch Conradis, in: LPK-SGB II 1. Auflage 2005, § 40 Rd.-Nr. 14; Brühl, in: LPK-SGB II. 1. Auflage 2005, § 7 Rd.-Nr. 33).

Eine gebotene Individualisierung einer Entscheidung über die Aufhebung und Rückforderung einer Leistungsbewilligung ergibt sich auch vor dem Hintergrund systematischer Erwägungen. So kann zum Beispiel eine Aufrechnung nach § 43 SGB II nur mit der Regelleistung desjenigen erfolgen, der zu Unrecht Leistungen erhalten hat (vgl. Eicher, in: Eicher/Spellbrink, SGB II-Kommentar, 1. Auflage 2005, § 43 Rn. 8 mit dem Hinweis auf die ansonsten fehlende Gegenseitigkeit der Forderungen). Auch die Vorschrift des § 38 SGB II steht dieser Auffassung nicht entgegen, da sie zum einen, wie dargestellt, dem Individualisierungsgrundsatz nicht entgegensteht, und zum anderen, weil von ihr lediglich die Beantragung und Entgegennahme von Leistungen erfasst werden. Auch die Zuordnung des Kindergeldes in § 11 Abs. 1 SGB II stellt auf den Bedarf der Kinder ab, ob diese das Kindergeld für ihren Lebensunterhalt benötigen. Bei den Vermögensfreibeträgen findet ebenfalls eine individuelle Betrachtung statt. Der Freibetrag ist für jeden einzelnen Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft zu ermitteln. Einen fiktiven Vermögensübertrag von ungeschontem Vermögen auf nicht verbrauchte Freibeträge anderer Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft sieht das Gesetz nicht vor. Gleiches gilt für den Anspruch auf Regelleistung und sämtliche Mehrbedarfe nach § 20 sowie § 21 SGB II. Sehr deutlich wird dies zudem bei dem Anspruch auf den befristeten Zuschlag nach § 24 SGB II. Anspruchsberechtigt ist der erwerbsfähige Hilfebedürftige, der innerhalb der letzten zwei Jahre Arbeitslosengeld bezogen hat. Obwohl der Anspruch auf den befristeten Zuschlag durch die Differenzbetrachtung zum zuvor bezogenen Arbeitslosengeld sowie Wohngeld gegenüber dem Anspruch auf Arbeitslosengeld II der gesamten Bedarfsgemeinschaft ermittelt wird, weist der Gesetzgeber den Anspruch demjenigen zu, der zuletzt das Arbeitslosengeld I bezogen hat.

Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 07. Juni 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2005 genügt den vorgenannten Anforderungen der individuellen Bestimmtheit nicht. Weder aus dem Ausgangsbescheid noch aus dem Widerspruchsbescheid wird ersichtlich, in welchem Umfang der ursprüngliche Bewilligungsbescheid für das jeweilige Mitglied der Bedarfsgemeinschaft aufgehoben und welcher konkrete Betrag jeweils zurückgefordert wird. Vielmehr erfolgt eine Aufhebung in Höhe von 1204,97 Euro und eine Gesamtrückforderung dieses Betrages von dem Kläger. Während der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 07. Juni 2005 lediglich den Kläger in Anspruch nimmt ("die gezahlten Leistungen sind von Ihnen zu erstatten") wird aus der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2005 aufgeführt, dass die Gesamtrückforderung vom "Ehepaar / " zu erstatten sei. Diese Formulierung könnte dahingehend verstanden werden, dass die Beklagte von einer Gesamtschuld der Bedarfsgemeinschaft ausgeht. Für eine derartige Annahme fehlt es jedoch an einer rechtlichen Grundlage. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger selbst in dem Zeitraum von Januar bis einschließlich Mai 2005 zumindest anteilig tatsächlich hilfebedürftig war. Seine Hilfebedürftigkeit bestand in dem Umfang, in dem das Einkommen der Ehefrau über ihre eigene Bedarfsdeckung hinaus nicht auch den Bedarf des Klägers getragen hat. Die Ehefrau des Klägers konnte jedoch zumindest in den Monaten Januar bis März und Mai 2005 ihren Bedarf aus dem eigenen Einkommen selbst decken, so dass eine vorrangige Rückforderung von der Ehefrau des Klägers mangels der Anspruchsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit zurückzufordern wäre. Eine dem einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft des Klägers zugeordnete Aufhebung und Rückforderung der Leistung ergibt sich auch nicht aus Auslegung des Bescheides. Auch der Bewilligungsbescheid vom 30. November 2004 hilft hier nicht weiter, da dieser bereits keine eindeutige Festsetzung enthält, wie hoch der Leistungsanspruch des einzelnen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft ist. Auch aus dem anliegenden Berechnungsbogen wird dies nicht eindeutig erkenntlich.

Die Notwendigkeit einer dem einzelnen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zugeordneten Aufhebung und Rückforderung wird jedoch auch vor dem Hintergrund deutlich, dass in dem vorliegenden Fall mit Eintritt der Bestandskraft des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides ein vollstreckbarer Titel der Beklagten gegen den Kläger vorliegt. Dieser könnte alleine in Anspruch genommen werden, obwohl er nur zum Teil zu Unrecht Leistungen bezogen hat, nämlich in der Höhe, in der das Einkommen seiner Ehefrau auch seinen Bedarf decken konnte. Diese Konsequenz scheint insbesondere in den Konstellationen als untragbar, in denen die Bedarfsgemeinschaft, zum Beispiel durch Scheidung oder durch Eintritt der Volljährigkeit von Kindern in einer bislang bestehenden Bedarfsgemeinschaft, auseinander bricht.

Auch wenn der Kammer bekannt ist, dass eine personenbezogene Berechnung des Anspruchs bzw. der Aufhebung und Rückforderung auf praktische Schwierigkeiten bei der Beklagten im Hinblick auf die Anwendung des zur Verfügung stehenden Software-Programms mit sich bringen wird, kann dies nicht zu einer Befreiung von den gebotenen hinreichend bestimmten Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden führen. Da diese Anforderungen vorliegend nach alledem nicht erfüllt waren, war der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 07. Juni 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2005 rechtswidrig und damit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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