L 5 B 21/07 ER AS

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 51 AS 2539/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 5 B 21/07 ER AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt K.-P. W. bewilligt. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Januar 2007 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 12. Januar 2007 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg (SG) vom 8. Januar 2007, der das SG nicht abgeholfen und die es dem Landessozialgericht (LSG) zur Entscheidung vorgelegt hat, ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 SGG) und auch sonst zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Zu Recht hat das SG die Antragsgegnerin mit dem angefochtenen Beschluss im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 18. Dezember 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) ohne Berücksichtigung einer Bedarfsgemeinschaft mit Herrn M. B. zu gewähren.

Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Der durch den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit seiner vorläufigen Sicherung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen. Beides hat das SG zutreffend bejaht.

Zu Unrecht hat die Antragsgegnerin bei der Ermittlung der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin das Einkommen des mit ihr zusammenlebenden Herrn B. als Einkommen eines mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II angerechnet; denn zwischen ihnen besteht eine solche Gemeinschaft jedenfalls gegenwärtig noch nicht. Ihr Bestehen würde voraussetzen, dass die Antragstellerin mit Herrn B. in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB II). Mit dieser Regelung knüpft der Gesetzgeber an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, wonach für die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft die Bindungen der Partner so eng sein müssen, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Dies setzt voraus, dass sie sich füreinander verantwortlich fühlen, zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherzustellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse einsetzen (Urt. vom 17.11.1992 – 1 BvL 8/87BVerfGE 87, S. 234 ff., 265). Das Bestehen einer solchen Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft ist gegenwärtig nicht zu bejahen.

Nach den vorliegenden Unterlagen ist dabei von folgendem Sachverhalt auszugehen. Die Antragstellerin – geb. XX.XXXXXXXX 1981 –, die in Nordrhein-Westfalen wohnte, und Herr B. haben sich im Frühjahr 2006 über das Internet kennen gelernt. Nachdem sie sich einige Male getroffen hatten, mieteten sie zum 1. November 2006 in Hamburg eine 2-Zimmer-Wohnung mit ca. 55 qm. Die Antragstellerin fing am 1. Dezember 2006 mit einer zweijährigen Umschulung zur Kauffrau im Gesundheitswesen an. Eine Besichtigung der Wohnung durch Außendienstmitarbeiter der Antragsgegnerin ergab, dass die Räume der Wohnung nicht separat bewohnt werden. Die Antragstellerin und Herr B. haben getrennte Konten, ohne Vollmacht über das Konto des anderen. Herr B. erklärte, dass er, da sie gerade erst die Beziehung begonnen hätten, nicht bereit sei, für die Antragstellerin aufzukommen. Diese gab an, sich von Herrn B. nicht abhängig machen zu wollen.

Bei dieser Sachlage ist bei verständiger Würdigung kein wechselseitiger Wille anzunehmen, Verantwortung füreinander zutragen und füreinander einzustehen. Nicht ausschlaggebend ist bei Prüfung dieser Voraussetzung, ob ein derartiger Wille tatsächlich vorliegt (SG Reutlingen, Beschl. vom 18.12.2006 – S 2 AS 4271/06 ER – Juris; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II, Stand: November 2006, § 7 Rn. 74). Dementsprechend müssen Erklärungen der Betroffenen, ein solcher Wille sei nicht gegeben, keineswegs zum Ergebnis führen, dass eine Einstehensgemeinschaft nicht existiert. Vielmehr ist zu fragen, ob eine solche unter den konkret vorliegenden Umständen im Lichte der gesellschaftlichen Anschauungen zu erwarten ist. Es ist in der heutigen Zeit nichts Ungewöhnliches, wenn Paare zusammenziehen, ohne verheiratet zu sein. Dies dient regelmäßig dazu zu testen, ob die Beziehung auch hält, wenn man nicht nur die "Schokoladenseiten" des anderen sieht, sondern im Alltag ständig zusammenlebt. Während dieser "Probezeit" ist die Verbindung im Regelfall noch nicht derart gefestigt, dass vom Vorliegen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft ausgegangen werden kann. Die Erklärungen der Antragstellerin und des Herrn B. passen daher durchaus zum Zeitgeist.

Was die Dauer einer zu akzeptierenden "Probezeit" anlangt – die Dauer des Zusammenlebens ist das gewichtigste Indiz für das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft (BVerwG, Urt. vom 17.5.1995 – 5 C 16.93BVerwGE 98, S. 195 ff., 199 f.) –, erscheint es sinnvoll, sich an der gesetzlichen Regelung in § 7 Abs. 3a SGB II zu orientieren. Danach wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung für einander zutragen und füreinander einzustehen, vermutet, wenn Partner, ohne dass sonstige besondere Umstände vorhanden sind, länger als ein Jahr zusammenleben. Der Senat sieht in dieser Regelung nicht nur eine Erleichterung der Missbrauchsbekämpfung, sondern auch eine Bestimmung, bis zu welchem Zeitpunkt regelmäßig noch keine Einstehensgemeinschaft anzunehmen ist. Der Gesetzgeber hat bei der Schaffung der Vermutungsregelung ausdrücklich auf einen Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg (18.1.2006 – L 5 B 1362/05 AS ER) hingewiesen, wonach bei einer Dauer des Zusammenlebens bis zu einem Jahr im Regelfall keine Einstehensgemeinschaft vorliegen werde (BT-Drucks. 16/1410, S. 19 zu Nummer 7 Buchstabe b). Die Festlegung einer solchen Zeitgrenze ist auch im Interesse der Verwaltungspraktikabilität zweckmäßig, weil es schwierig ist, die Bindungsintensität zu belegen oder zu widerlegen. Ebenso wie die Vermutung, dass nach einem Jahr eine Einstehensgemeinschaft besteht, widerlegt werden kann, ist es möglich, bereits in der Jahresfrist eine Einstehensgemeinschaft zu bejahen (SG Hamburg, Beschl. vom 1.11.2006 – S 53 AS 2143/06 ER). Dafür müssen dann allerdings entsprechende Anhaltspunkte vorhanden sein, was hier nicht der Fall ist. Insbesondere ist entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin das Bestehen einer wirtschaftlichen Verflechtung infolge der gemeinsamen wirtschaftlichen Verpflichtung der Antragstellerin und des Herrn B. aus dem Mietvertrag kein Indiz für das Vorhandensein einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zwischen ihnen. Beide Mietparteien konnten nämlich davon ausgehen, dass jede ihren eigenen Anteil an der Miete werde aufbringen können – die Antragstellerin infolge ihres Anspruchs auf Übernahme der Kosten der Unterkunft durch die Antragsgegnerin. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Sie trägt nach billigem Ermessen dem Ausgang des Verfahrens Rechnung. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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