L 1 Kr 95/91

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 9 Kr 827/90
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Kr 95/91
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. November 1990 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat auch die dem Kläger zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen des Berufungsverfahrens zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kürzung von Krankengeld.

Der Kläger ist als Schreiner bei der D.-Werke AG in M. beschäftigt und bei der Beklagten krankenversichert. Zwischen 1984 und 1989 war er wegen Kreislaufstörungen, reaktiver Depression, Gastritis bei Alkoholentzug, psychosomatischer Beschwerden bei Abstinenz, HWS-Syndrom, Kontusion der Kleinzehe, Erschöpfungszustand nach Alkoholabusus arbeitsunfähig erkrankt und erhielt Krankengeld.

Im Schreiben vom 29. August 1989 stellte die Beklagte fest, daß die in der Vergangenheit – zuletzt vom 12. Mai bis 24. Juli 1989 – eingetretenen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zum überwiegenden Teil auf Alkoholmißbrauch zurückzuführen seien. Der Kläger sei im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten gehalten, eine bestehende Arbeitsunfähigkeit nicht durch gesundheitswidriges Verhalten zu beeinflussen oder zu verursachen. Sollte eine erneute Arbeitsunfähigkeit wegen Alkoholmißbrauch eintreten, werde überprüft, ob und inwieweit Krankengeld versagt werde.

Am 20. September 1989 wurde der Kläger stationär im Bundeswehrkrankenhaus in G. wegen chronischem Alkoholabusus mit alkoholtoxischem Leberschaden aufgenommen.

Daraufhin teilte die Beklagte mit Bescheid vom 13. November 1989 mit, daß dem Kläger das zustehende Krankengeld für die Zeit der erneuten Arbeitsunfähigkeit nach eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der Nichtbeachtung seiner Mitwirkungspflicht um 25 % gekürzt werde.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. März 1990 zurück. Die vorgenommene Kürzung sei rechtmäßig, da die Erkrankung auf mangelnde Mitwirkung – erneuter Alkoholmißbrauch – zurückzuführen sei.

Am 22. Mai 1990 hat der Kläger beim Sozialgericht Gießen Klage erhoben und ausgeführt, daß die vorgenommene Kürzung unzulässig sei.

Durch Urteil vom 23. November 1990 hat das Sozialgericht Gießen den Bescheid vom 13. November 1989 und den Widerspruchsbescheid vom 27. März 1990 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, "die vorgenommene Kürzung des Krankengeldes um 25 % aufzuheben”. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß der Bescheid der Beklagten wegen fehlender Anhörung des Klägers vor der Kürzung bereits formell rechtswidrig sei. Im übrigen käme die Kürzung von Sozialleistungen nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen in Betracht, die aber hier nicht vorlägen. Der Kläger habe in diesem Sinne keine Mitwirkungspflichten verletzt. Eine Pflicht des Versicherten zur Gesunderhaltung gäbe es nicht. Auch vorsätzlich habe er sich seine Krankheit nicht zugezogen.

Gegen dieses der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 7. Januar 1991 zugestellte Urteil richtet sich die mit Schriftsatz vom 21. Januar 1991 – eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt am 28. Januar 1991 – eingelegte Berufung, mit der sich die Beklagte gegen die getroffene Entscheidung des Sozialgerichts wendet. Sie vertritt nunmehr die Auffassung, daß der Kläger nach dem Verlauf seiner Krankheitsgeschichte die vom 20. September 1989 bis 22. Dezember 1989 andauernde Arbeitsunfähigkeit bedingt vorsätzlich herbeigeführt habe. Bei der Entscheidung sei insbesondere der Grad des Verschuldens, die Höhe der Aufwendungen der Kasse, die finanzielle Leistungsfähigkeit des Versicherten und seine Unterhaltsverpflichtungen berücksichtigt worden.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. November 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend und bezieht sich zur Begründung auf die Entscheidungsgründe und sein bisheriges Vorbringen. Für die Annahme einer vorsätzlich zugezogenen Erkrankung fehle jeder Anhaltspunkt. Gerade bei Suchterkrankungen müsse immer wieder mit Ausfällen gerechnet werden.

Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 26. November 1991 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten über die Berufung der Beklagten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–). Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 SGG).

Die Berufung ist aber sachlich nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Gießen ist zu Recht ergangen, denn die vorgenommene Kürzung des Krankengeldes für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit vom 20. September 1989 bis 22. Dezember 1989 ist rechtswidrig.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht.

Diese Voraussetzungen lagen im Falle des Klägers im hier streitigen Zeitraum vor. Hingegen fehlt es an der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen für die von der Beklagten vorgenommene Leistungskürzung um 25 %.

Haben sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenem Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen, kann die Krankenkasse sie gemäß § 52 SGB V an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit versagen und zurückfordern.

Anhaltspunkte für ein erstmals im Berufungsverfahren behauptetes, bedingt vorsätzliches Verhalten des Klägers sind für den Senat nicht erkennbar. Aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakte ergibt sich im Gegenteil, daß hiervon gerade nicht ausgegangen werden kann. Der Vertrauensarzt erwähnt in seinem Gutachten vom 7. Juli 1989, daß der Kläger trotz mehrmaliger Rückfälle krankheitseinsichtig wirkt und eine Gruppe der anonymen Alkoholiker in G. besucht. Das hat der Kläger nochmals schriftlich gegenüber der Beklagten am 29. März 1990 erklärt und sich hierbei auf das Zeugnis von zwei Teilnehmern der Gruppe, die die Erklärung unterschrieben haben, bezogen. Ferner notierte Dr. K. anläßlich der vertrauensärztlichen Untersuchung am 18. Dezember 1989: "Hatte leider wieder einen Rückfall erlitten ”. Ein Ausdruck des Bedauerns wäre sicher nicht bei einem Patienten mit fehlender Krankheitseinsicht geäußert worden. Weiter erwähnt Dr. K. neben der Alkoholkrankheit ein Lumbalsyndrom bei Fehlhaltung der Wirbelsäule ("Rückenmuskulatur ist bretthart verspannt”). Hierbei ist nicht erkennbar, welche Bedeutung dieser Befund im Hinblick auf die festgestellte Arbeitsunfähigkeit des Klägers hatte. Die Beklagte hat hierzu im Verwaltungsverfahren keine Ermittlungen aufgenommen und sich auch nicht damit befaßt, daß der Kläger offenbar eigene Bemühungen zur Beherrschung seiner Suchtkrankheit unternimmt.

Letztlich kann aber dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 52 SGB V vorliegen, denn daraus folgende Leistungseinschränkungen stehen im Ermessen der Beklagten. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann die Krankenkasse unter anderem Krankengeld teilweise versagen. Die hiernach geforderte Ermessensentscheidung hat die Beklagte aber nach dem Inhalt der angefochtenen Bescheide gerade nicht getroffen. Abgesehen davon, daß sie ihre Entscheidung ursprünglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt hat, genügt der pauschale Hinweis auf die "eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage” (Bescheid vom 13. November 1989) nicht. Sofern eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, besteht auf dessen pflichtgemäße Ausübung ein Anspruch (§ 39 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – SGB I). Dabei müssen nach § 35 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) die Gesichtspunkte dargelegt werden, von der die Beklagte bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist und welche Gründe für die Entscheidung auch unter Berücksichtigung der persönlichen Auswirkungen für den Betroffenen maßgeblich waren. Hierzu gehören unter anderem solche Erwägungen, wie sie die Beklagte im Berufungsverfahren erstmals erwähnt hat. Da die angefochtenen Bescheide aber jede Interessenabwägung vermissen lassen, sind sie wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig. Eine Nachholung im Gerichtsverfahren ist ausgeschlossen.

Die vorgenommene Kürzung des Krankengeldes kann auch nicht auf die Verletzung von Mitwirkungspflichten gestützt werden.

Kommt derjenige, der eine Sozialleistung wegen Arbeitsunfähigkeit, wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit oder wegen Arbeitslosigkeit beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 62 bis 65 nicht nach und ist unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß deshalb Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird, kann der Leistungsträger die Leistung gemäß § 66 Abs. 2 SGB I bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen.

Bereits das Sozialgericht hat zutreffend ausgeführt, daß der Kläger die in §§ 62 bis 65 normierten Pflichten (Teilnahme an Untersuchungen, Heilbehandlungsmaßnahmen und berufsfördernden Maßnahmen) nicht verletzt hat. Die gesetzlichen Bestimmungen sind insoweit abschließend und können nicht von der Beklagten willkürlich erweitert werden (vgl. hierzu: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung – SGB V –, Stand: Juli 1991, § 66 SGB I, Rdnr. 2). Eine allgemeine Pflicht zur Gesunderhaltung – so die treffende Formulierung des Sozialgerichts – kennt das Gesetz nicht und kann deshalb auch derzeit nicht von der Beklagten erzwungen werden. Deren Anliegen muß sich an den Gesetzgeber richten, der bisher andere Wertungen vorgenommen hat. Im übrigen gilt auch hier, daß es die Beklagte versäumt hat, von dem ihr eingeräumten Ermessen (Krauskopf, a.a.O., Rdnrn. 7, 13) Gebrauch zu machen. Schließlich ist das Schreiben der Beklagten vom 29. August 1989 auch nicht der gemäß § 66 Abs. 3 SGB I (insoweit lex specialis zu § 24 SGB X) geforderte vorherige schriftliche Hinweis an den Versicherten. Auch dieser kann sich nur auf die im Gesetz vorgesehenen Mitwirkungspflichten beziehen und muß sie deshalb und, um dem Versicherten die Möglichkeit der Erfüllung seiner Pflichten zu geben, konkret benennen. Das aber ist vorliegend – wie ausgeführt – nicht möglich.

Insgesamt war die von der Beklagten vorgenommene Kürzung des Krankengeldes im streitigen Zeitraum unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zulässig. Eines ausdrücklichen Ausspruchs über die Aufhebung der Kürzung bedurfte es hingegen im Tenor des sozialgerichtlichen Urteils nicht. Dem Begehren des Klägers war bereits durch reine Anfechtungsklage und die demgemäß erfolgte Aufhebung der ergangenen Bescheide zu entsprechen. Die Berufung der Beklagten mußte somit erfolglos bleiben und zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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