S 56 AL 1629/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
56
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 56 AL 1629/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt. 2. Das Verfahren wird gemäß Art. 100 GG dem Bundes- verfassungsgericht vorgelegt, ob § 127 SGB III in der Fassung des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl I Seite 3002) mit Art. 14 GG vereinbar ist.

Gründe:

Der Kläger beantragte am 07. November 2005, ihm mit Wirkung zum 05. November 2005 Arbeitslosengeld zu gewähren. Er war vom 08. Januar 1973 bis 31. März 2005 als Blechschlosser bei der H. Ar/G W ...fabrik GmbH & Co. beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch Aufhebungsvertrag vom 31. August 2004. Über die Firma wurde am 01. März 2005 das Insolvenzverfahren eröffnet. Vom 30. März bis 04. November 2005 bezog der Kläger Krankengeld. Mit Bescheid vom 12. Dezember 2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 05. November 2005 Arbeitslosengeld für 780 Kalendertage. Nachdem die AOK festgestellt hatte, dass der Kläger weiterhin arbeitsunfähig erkrankt war, hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld durch Bescheid vom 11. Januar 2006 ab 05. November 2005 ganz auf. Der Kläger beantragte am 20. Februar 2006, ihm mit Wirkung zum 01. März 2006 Arbeitslosengeld zu gewähren. Er hatte bis 28. Februar 2006 Krankengeld bezogen. Mit Bescheid vom 14. März 2006 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 01. März 2006 Arbeitslosengeld für 360 Leistungstage. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, ihm seien vorher 780 Tage bewilligt worden. Diesen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 11. April 2006 als unbegründet zurück. Innerhalb der Rahmenfrist vom 01. März 2004 bis 28. Februar 2006 habe der Kläger versicherungspflichtige Zeiten von mehr als 12 Monaten nachgewiesen. Entsprechend seines Lebensalters von 54 Jahren sei die Anspruchsdauer gem. § 127 Abs. 2 SGB III zutreffend mit 12 Monaten festgesetzt worden.

Der Kläger hat am 05. Mai 2006 Klage erhoben.

Er beantragt,

die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 14. März 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2006 zu verurteilen, ihm ab 01. März 2006 Arbeitslosengeld für 780 Leistungstage zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Leistungsakte der Beklagten - Kdnr. - hat der Kammer vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Die Kammer setzt das Verfahren gem. Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) aus und legt dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 127 SGB III in der Fassung des Gesetzes zur Reform am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3002) mit Art. 14 GG vereinbar ist.

Die Entscheidung der Beklagten beruht auf § 127 SGB III in der Form des Gesetzes zur Reform am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003. Danach richtet sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld 1. nach der Dauer der Versicherungsverhältnisse innerhalb der um ein Jahr erweiterten Rahmenfrist und 2. dem Lebensalter, das der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hat (§ 127 Abs. 1 SGB III). Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld beträgt gem. § 127 Abs. 2 SGB III.

nach Versicherungspflichtverhältnissen und nach Vollendung des Monate mit einer Dauer von insgesamt mindestens Lebensjahres Monaten 12 6 16 8 20 10 24 12 30 55. 15 36 55. 18

Diese neue Vorschrift hat den "alten" § 127 SGB III gravierend verändert. Nach der Vorgängervorschrift richtete sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um vier Jahre erweiterten Rahmenfrist und dem

Lebensalter, das der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hatte (§ 127 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB III a.F.). Die Dauer des Anspruchs betrug gem. § 127 SGB III a.F.

Nach Versicherungspflichtverhältnissen und nach Vollendung des ...Monate mit einer Dauer von insgesamt ...Lebensjahres mindestens. Monaten 12 6 16 8 20 10 24 12 28 45. 14 32 45. 16 36 45. 18 40 47. 20 44 47. 22 48 52. 24 52 52. 26 56 57. 28 60 57. 30 64 57. 32

Nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 127 SGB III n.F. hat die Beklagte dem Kläger zutreffend ab 01. März 2006 Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage gewährt. Der Kläger hat innerhalb der Rahmenfrist vom 01. März 2003 bis 28. Februar 2006 für mindestens 24 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden. Da er zum Zeitpunkt der Entstehung seines Anspruches 54 Jahre alt war, steht ihm nach der Neufassung des § 127 SGB III nur ein Anspruch auf Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage zu. Nach § 127 SGB III a.F. hätte der Kläger ab 01. März 2006 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld für 780 Kalendertage erworben, weil er mindestens 52 Monate in der auf sieben Jahre erweiterten Rahmenfrist in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte und zum Zeitpunkt der Beantragung des Anspruches auf Arbeitslosengeld 54 Jahre alt war.

Die Klage kann nur Erfolg haben, wenn die neue Regelung des § 127 SGB III verfassungswidrig ist.

Die Kammer hält die neue Regelung für verfassungswidrig, weil sie gegen Art. 14 GG verstößt. Ansprüche aus der Sozialversicherung genießen Eigentumsschutz, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und der Existenzsicherung dienen (vgl. BVerfGE 69, 272, 301, 304; 92, 365, 405). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld unterfällt diesem Schutz, weil er auf Beiträgen des Versicherten beruht und seiner Existenzsicherung für einen gewissen Zeitraum seiner Arbeitslosigkeit dient. Dem Eigentumschutz unterfällt aber nicht nur der bereits erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld, sondern auch das Anwartschaftsrecht auf Arbeitslosengeld (vgl. BVerfGE 74, 203, 213), d.h. zum Erwerb des Anspruches auf Arbeitslosengeld fehlt nur der Eintritt der Arbeitslosigkeit. Hier hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des § 127 SGB III am 24. Dezember 2003 eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld von 22 Monaten erworben. Diese ist dann auf 28 Monate gewachsen, weil der § 127 SGB wegen der Übergangsvorschrift des § 434 j Abs. 3 SGB III erst zum 01. Februar 2006 in Kraft getreten ist. Nach Auffassung der Kammer ist die neue Regelung des § 127 SGB III trotz der Übergangsfrist des § 434 j Abs. 3 SGB III verfassungswidrig. Aus dem vom Gesetzgeber zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt die Notwendigkeit einer schonenden Übergangsregelung (vgl. BVerfGE 53, 336, 351; 58, 300, 351; 71, 71, 137, 144). Ob und in welchem Umfang sie notwendig ist, hängt von der Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für die Allgemeinheit ab (vgl. BVerfGE 70, 101, 114). Gesetzliches Anliegen der Bundesregierung war es, mit der Neuregelung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld der Frühverrentung der Arbeitnehmer entgegen zu wirken. In der Gegenäußerung der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 15/1637, S. 12) zur Stellungnahme des Bundesrates führt sie aus: "Zu der weit verbreiteten Frühverrentungspraxis hat insbesondere die von der früheren Bundes- regierung eingeführte erhöhte Dauer des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 Monaten für ältere Arbeitnehmer beigetragen. Im Hinblick auf den sich in bestimmten Teilarbeitsmärkten bereits abzeichnenden Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung ist mittelfristig ein längerer Verbleib von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Erwerbsleben erforderlich. Mit dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt wird die Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld daher grundsätzlich auf 12 und für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, auf höchstens 18 Monate begrenzt werden."

Dieses gesetzliche Anliegen rechtfertigt aber nicht die drastische Kürzung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes. Stand dem über 57-Jährigen nach dem bis 31. Dezember 2003 geltenden § 127 SGB III ein Alg-Anspruch von maximal 32 Monaten zu, so beträgt nunmehr die maximale Anspruchsdauer 18 Monate. Konnte nach dem früheren § 127 SGB III bereits mit Vollendung des 45. Lebensjahres ein längerer Alg-Anspruch als 12 Monate erworben werden, so ist dies nach dem zum 01. Januar 2004 in Kraft getretenen § 127 Abs. 2 SGB III bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres überhaupt nicht mehr möglich. Für alle Arbeitnehmer unter 55 Lebensjahren beträgt die maximale Alg-Anspruchsdauer 12 Monate. § 434 j Abs. 3 SGB III hat das In-Kraft-Treten dieser Neuregelungen nur bis zum 01. Februar 2006 hinausgeschoben. Diese generelle Übergangsfrist von 25 Monaten reicht nicht aus, um die Eigentumsverletzung zu vermeiden, wie die Bundesregierung in der Begründung ihres Regierungsentwurfs (vgl. BT-Drs. 15/1204 S. 14) meint: "Die Vorschrift gewährt Bestandsschutz zur Neuregelung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes in den Fällen, in denen bereits ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entstanden ist, oder in denen ein Arbeitnehmer eine Anwartschaft für einen Leistungsanspruch und damit eine nach Art. 14 des Grundgesetzes eigentumsgeschützte Rechtsposition erworben hat. Die Regelung berücksichtigt damit sowohl die verfassungsrechtlichen Vorgaben für gravierende Eingriffe in den Anspruch auf Arbeitslosengeld als auch die soziale Situation der Arbeitnehmer, die innerhalb einer Übergangsfrist von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Neuregelung arbeitslos werden. Für sie gelten die bisherigen günstigeren Regelungen zur Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld weiter." Mit Ablauf dieser Frist wird der Eingriff in das Anwartschaftsrecht aber in vollem Umfange wirksam, ohne, dass ein Grund ersichtlich ist, warum dies nötig sein sollte. Diese allgemeine Übergangsfrist stellt gerade keine schonende Übergangsregelung dar. Mit Spellbrink in Eicher/ Schlegel, SGB III, 67. Ergänzung, Stand Juni 2006, § 127, Rdnr. 58, ist für diesen massiven Eingriff in das Arbeitslosengeld "eine großzügige und langfristige Übergangsregelung" erforderlich. Der § 434 j Abs. 3 SGB III erfüllt diesen Anspruch nicht. Eine schonende Übergangsregelung hätte etwa so aussehen können, dass jährlich die maximale Anspruchsdauer (rechte Spalte des § 127 Abs. 2 SGB III a.F.) um einen Monat reduziert worden wäre.
Rechtskraft
Aus
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