S 56 AL 2259/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
56
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 56 AL 2259/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt. 2. Das Verfahren wird gemäß Art. 100 GG dem Bundes- verfassungsgericht vorgelegt, ob § 127 SGB III in der Fassung des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl I Seite 3002) mit Art. 14 GG vereinbar ist.

Gründe:

Der am 12. Mai 1954 geborene Kläger beantragte am 31. Januar 2006, ihm mit Wirkung zum 01. Februar 2006 Arbeitslosengeld zu gewähren. Er war vom 01. Juli 1994 bis 30. November 2005 als Verkaufsbeauftragter der B und S ...geräte GmbH beschäftigt. Vom 10. November 2004 bis 31. Januar 2006 bezog er Krankengeld. Mit Bescheid vom 15. Februar 2006 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 01. Februar 2006 Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, auf der Bewilli- gungsstelle sei ihm beim Termin am 13. Februar 2006 gesagt worden, er wäre einen Tag zu lange krankgeschrieben gewesen und würde nun nach neuem Recht behandelt. Das bedeutet für ihn, dass er nun nicht mehr für 22 Monate Arbeitslosengeld, sondern nur für 12 Monate erhalte. Wenn ihm dies im ersten Anlauf mitgeteilt worden wäre, hätte er sein Erscheinen mit Sicherheit vorverlegt. Das sehe er als Versäumnis der Rechtsbelehrung an. Diesen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2006 als unbegründet zurück. Der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld sei erst am 01. Februar 2006 entstanden, weil er noch bis 31. Januar 2006 Krankengeld bezogen habe. Es bestehe da- her nur ein Anspruch mit einer Dauer von 12 Monaten. Ein Beratungsfehler zu Lasten des Klä- gers sei nicht erkennbar. Es sei weder für den Mitarbeiter der Beklagten noch für den Kläger selbst vorhersehbar gewesen, bis zu welchem Zeitpunkt seine Erkrankung dauern würde.

Der Kläger hat am 04. Juli 2006 Klage erhoben.

Er beantragt,

die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 15. Februar 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2006 zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld für 360 Tage zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Leistungsakte der Beklagten - Kdnr ... - hat der Kammer vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Die Kammer setzt das Verfahren gem. Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) aus und legt dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 127 SGB III in der Fas-sung des Gesetzes zur Reform am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3002) mit Art. 14 GG vereinbar ist.

Die Entscheidung der Beklagten beruht auf § 127 SGB III in der Form des Gesetzes zur Re-form am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003. Danach richtet sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld 1. nach der Dauer der Versicherungsverhältnisse innerhalb der um ein Jahr erweiterten Rahmenfrist und 2. dem Lebensalter, das der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hat (§ 127 Abs. 1 SGB III). Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld beträgt gem. § 127 Abs. 2 SGB III.

nach Versicherungspflichtverhältnissen und nach Vollendung des Monate mit einer Dauer von insgesamt mindestens Lebensjahres Monaten 12 6 16 8 20 10 24 12 30 55. 15 36 55. 18

Diese neue Vorschrift hat den "alten" § 127 SGB III gravierend verändert. Nach der Vorgän-gervorschrift richtete sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um vier Jahre erweiterten Rahmenfrist und dem

Lebensalter, das der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hatte (§ 127 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB III a.F.). Die Dauer des Anspruchs betrug gem. § 127 SGB III a.F.

Nach Versicherungspflichtverhältnissen und nach Vollendung des ...Monate mit einer Dauer von insgesamt ...Lebensjahres mindestens. Monaten 12 6 16 8 20 10 24 12 28 45. 14 32 45. 16 36 45. 18 40 47. 20 44 47. 22 48 52. 24 52 52. 26 56 57. 28 60 57. 30 64 57. 32

Nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 127 SGB III n.F. hat die Beklagte dem Kläger zutref-fend am 01. Februar 2006 Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage gewährt. Der Kläger hat innerhalb der Rahmenfrist vom 01. Februar 2003 bis 31. Januar 2006 für mindestens 24 Mo-nate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden. Da er zum Zeitpunkt der Entstehung seines Anspruches 51 Jahre alt war, steht ihm nach der Neufassung des § 127 SGB III nur ein Anspruch auf Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage zu. Nach § 127 SGB III a.F. hätte der Kläger ab 01. März 2006 einen Anspruch auf Arbeitslosen-geld für 660 Kalendertage erworben, weil er mindestens 52 Monate in der auf sieben Jahre erweiterten Rahmenfrist in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte und zum Zeitpunkt der Beantragung des Anspruches auf Arbeitslosengeld 51 Jahre alt war.

Die Klage kann nur Erfolg haben, wenn die neue Regelung des § 127 SGB III verfassungswid-rig ist. Die Kammer hält die neue Regelung für verfassungswidrig, weil sie gegen Art. 14 GG ver-stößt.

Ansprüche aus der Sozialversicherung genießen Eigentumsschutz, wenn sie auf nicht unerheb-lichen Eigenleistungen beruhen und der Existenzsicherung dienen (vgl. BVerfGE 69, 272, 301, 304; 92, 365, 405). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld unterfällt diesem Schutz, weil er auf Beiträgen des Versicherten beruht und seiner Existenzsicherung für einen gewissen Zeitraum seiner Arbeitslosigkeit dient. Dem Eigentumschutz unterfällt aber nicht nur der bereits erworbene Anspruch auf Arbeitslo-sengeld, sondern auch das Anwartschaftsrecht auf Arbeitslosengeld (vgl. BVerfGE 74, 203, 213), d.h. zum Erwerb des Anspruches auf Arbeitslosengeld fehlt nur der Eintritt der Arbeitslo-sigkeit. Hier hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des § 127 SGB III am 24. Dezember 2003 eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld von 22 Monaten erworben. Diese ist dann auf 28 Monate gewachsen, weil der § 127 SGB wegen der Übergangsvorschrift des § 434 j Abs. 3 SGB III erst zum 01. Februar 2006 in Kraft getreten ist. Nach Auffassung der Kammer ist die neue Regelung des § 127 SGB III trotz der Übergangs-frist des § 434 j Abs. 3 SGB III verfassungswidrig. Aus dem vom Gesetzgeber zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt die Notwen-digkeit einer schonenden Übergangsregelung (vgl. BVerfGE 53, 336, 351; 58, 300, 351; 71, 71, 137, 144). Ob und in welchem Umfang sie notwendig ist, hängt von der Abwägung zwi-schen dem Ausmaß des Vertrauensschadens und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für die Allgemeinheit ab (vgl. BVerfGE 70, 101, 114). Gesetzliches Anliegen der Bundesregierung war es, mit der Neuregelung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld der Frühverrentung der Arbeitnehmer entgegen zu wirken. In der Gegenäuße-rung der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 15/1637, S. 12) zur Stellungnahme des Bundesrates führt sie aus: "Zu der weit verbreiteten Frühverrentungspraxis hat insbesondere die von der früheren Bundes- regierung eingeführte erhöhte Dauer des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 Monaten für ältere Arbeitnehmer beigetragen. Im Hinblick auf den sich in bestimmten Teilarbeitsmärkten bereits abzeichnenden Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung ist mittelfristig ein län-gerer Verbleib von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Erwerbsleben erforderlich. Mit dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt wird die Dauer des Anspruches auf Arbeitslo-sengeld daher grundsätzlich auf 12 und für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, auf höchstens 18 Monate begrenzt werden."

Dieses gesetzliche Anliegen rechtfertigt aber nicht die drastische Kürzung der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes. Stand dem über 57-Jährigen nach dem bis 31. Dezember 2003 gelten-den § 127 SGB III ein Alg-Anspruch von maximal 32 Monaten zu, so beträgt nunmehr die maximale Anspruchsdauer 18 Monate. Konnte nach dem früheren § 127 SGB III bereits mit Vollendung des 45. Lebensjahres ein längerer Alg-Anspruch als 12 Monate erworben werden, so ist dies nach dem zum 01. Januar 2004 in Kraft getretenen § 127 Abs. 2 SGB III bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres überhaupt nicht mehr möglich. Für alle Arbeitnehmer unter 55 Lebensjahren beträgt die maximale Alg-Anspruchsdauer 12 Monate. § 434 j Abs. 3 SGB III hat das In-Kraft-Treten dieser Neuregelungen nur bis zum 01. Februar 2006 hinausgeschoben. Diese generelle Übergangsfrist von 25 Monaten reicht nicht aus, um die Eigentumsverletzung zu vermeiden, wie die Bundesregierung in der Begründung ihres Regierungsentwurfs (vgl. BT-Drs. 15/1204 S. 14) meint: "Die Vorschrift gewährt Bestandsschutz zur Neuregelung der Anspruchsdauer des Arbeitslo-sengeldes in den Fällen, in denen bereits ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entstanden ist, oder in denen ein Arbeitnehmer eine Anwartschaft für einen Leistungsanspruch und damit eine nach Art. 14 des Grundgesetzes eigentumsgeschützte Rechtsposition erworben hat. Die Regelung berücksichtigt damit sowohl die verfassungsrechtlichen Vorgaben für gravierende Eingrif-fe in den Anspruch auf Arbeitslosengeld als auch die soziale Situation der Arbeitnehmer, die innerhalb einer Übergangsfrist von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Neuregelung arbeitslos werden. Für sie gelten die bisherigen günstigeren Regelungen zur Dauer des Anspruches auf Arbeitslosengeld weiter." Mit Ablauf dieser Frist wird der Eingriff in das Anwartschaftsrecht aber in vollem Umfange wirksam, ohne, dass ein Grund ersichtlich ist, warum dies nötig sein sollte. Diese allgemeine Übergangsfrist stellt gerade keine schonende Übergangsregelung dar. Mit Spellbrink in Eicher/ Schlegel, SGB III, 67. Ergänzung, Stand Juni 2006, § 127, Rdnr. 58, ist für diesen massiven Eingriff in das Arbeitslosengeld "eine großzügige und langfristige Übergangsregelung" erfor-derlich. Der § 434 j Abs. 3 SGB III erfüllt diesen Anspruch nicht. Eine schonende Übergangs-regelung hätte etwa so aussehen können, dass jährlich die maximale Anspruchsdauer (rechte Spalte des § 127 Abs. 2 SGB III a.F.) um einen Monat reduziert worden wäre.
Rechtskraft
Aus
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