S 7 SO 10/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 7 SO 10/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.10.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2007 verurteilt, der Klägerin einen Betrag in Höhe von 126,20 EUR zu erstatten. Der Beklagte trägt die notwendige außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist die Erstattung von Kosten für den Erwerb eines Mittels zur Empfängnisverhütung (3-Monats-Spritze).

Bei der am 17.04.1966 geborenen Klägerin liegt eine geistige Behinderung mit Aphasie bei Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma vor. Im Hinblick darauf ist bereits seit längerer Zeit eine Betreuung eingerichtet, die sich auf den Bereich der Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögensangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf Rente und Sozialhilfe sowie von Beträgen aus der Pflegeversicherung erstreckt. Im Bereich der Vermögensangelegenheiten bedürfen Willenserklärungen der Klägerin der Einwilligung der Betreuerin. Die Klägerin ist Mitglied der Gesetzlichen Krankenversicherung und erhält laufend Leistungen nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII). Sie übt eine Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte aus und wohnt gemeinsam mit ihrer Mutter und weiteren Familienangehörigen in einer Haushaltsgemeinschaft. Dazu gehört insbesondere ein inzwischen 15-jähriger Sohn der Klägerin, der von ihrer Mutter erzogen wird. Ein Lebenspartner der Klägerin wohnt nicht in dem Haushalt.

Im Juni und September 2006 erwarb die Klägerin auf entsprechende (privatärztliche) Verordnung ihres behandelnden Gynäkologen Herrn H. zur Empfängnisverhütung je eine Ampulle "Noristerat" (3-Monats-Spritze) zu einem Preis von jeweils 24,60 EUR. Anschließend beantragte die gesetzliche Vertreterin der Klägerin unter Vorlage der beiden Rezepte und einer ärztlichen Notwendigkeitsbescheinigung des Herrn H. bei der Beklagten die Kostenübernahme für die 3-Monats-Spritze im Rahmen der Eingliederungshilfe. Der Beklagte verwies zunächst an den Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung, der jedoch eine Kostenübernahme bzw. -erstattung jedoch gegenüber der Klägerin ablehnte. Mit Bescheid vom 20.10.2006 weigerte sich dann auch der Beklagte die Kosten für den Erwerb der 3-Monats-Spritze zu übernehmen. Zur Begründung führte er aus, ds neue Sozialhilferecht enthalte keine Regelung mehr, nach der die Übernahme empfängnisverhütender Mittel möglich wäre. Auch nach dem SGB XII könnten inzwischen nur noch Leistungen entsprechend dem Umfang des Leistungskataloges des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) erbracht werden. Nach diesen Regelungen bestehe aber für die Klägerin kein Leistungsanspruch. Auch stellten empfängnisverhütende Mittel keine Leistungen der Eingliederungshilfe dar, so dass sie darauf verwiesen werden müsse, die Kosten aus der Regelleistung zu bestreiten. Mit ihrem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, nach § 49 SGB XII sei ein Leistungsanspruch allein von dem Vorliegen einer ärztlichen Verordnung abhängig. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt. Außerdem sei es auch in wirtschaftlicher Hinsicht absurd, dass zwar ein Schwangerschaftsabbruch oder die Versorgung möglicherweise von der Klägerin zur Welt gebrachter Kinder in Pflegefamilien finanziert werde, aber nicht die präventive Empfängnisverhütung.

Nachdem der Beklagte diesem Widerspruch nicht abgeholfen hatte, wies die Widerspruchsbehörde den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.03.2007 zurück. Ergänzend zu den Ausführungen des Beklagten führte die Widerspruchsbehörde aus, nach der Regelung des § 24 a Abs. 2 SGB V bestehe ein Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln als Kassenleistung grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres. Nach § 52 Abs. 1 SGB XII entsprächen die Leistungen nach den §§ 47 bis 51 SGB XII dem Leistungskatalog des SGB V. Da die Klägerin Mitglied der Gesetzlichen Krankenversicherung sei, komme daher allenfalls ein Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, nicht aber gegenüber dem Träger der Leistungen nach dem SGB XII in Betracht.

Am 27.04.2007 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt.

Zur Begründung vertritt sie die Auffassung, dass, selbst wenn die gesetzlichen Regelungen einen Anspruch nicht begründeten, eine Regelungslücke vorliege, die geschlossen werden müsse. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in einer Entscheidung vom 24.01.1995 (Az: 3 RK 18/88) bereits entschieden, dass hormonelle Kontrateptiva auch bei über 20-jährigen Versicherten nicht generell als verschreibungsfähige Arzneimittel ausschieden, sofern deren Einnahme krankheitsbedingt erforderlich sei, wobei eine mittelbare Einwirkung auf die Krankheit ausreiche. Dies müsse im hier fraglichen Zusammenhang so verstanden werden, dass das Vermeiden anderweitiger Krankheitsfolgen durch die Medikation für eine Leistungspflicht des Beklagten ausreiche. Ein solcher Fall liege vor, weil die Klägerin behinderungsbedingt nicht in der Lage sein würde, für ein Kind zu sorgen. Auch würden die psychische Belastung und die sonstigen Umstände, die mit einer Schwangerschaft verbunden wären, das Krankheitsbild der Klägerin erheblich verschlechtern. Unter zusätzlicher Berücksichtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes und des Schutzes des ungeborenen Lebens müsse sich daher die Möglichkeit zur Gewährung von Mitteln der Empfängnisverhütung zu einem Anspruch verdichten. In dem Zeitraum nach Antragstellung bei dem Beklagten bis zum Termin zur mündlichen Verhandlung erwarb die Klägerin das vorstehend benannte Verhütungsmittel noch an fünf weiteren Terminen, nämlich am 08.03.2007, am 05.06.2007, am 06.09.2007, am 13.12.2007 und am 13.03.2008, wofür sie jeweils ebenfalls einen Betrag in Höhe von 25,24 EUR aufwendete. Im Hinblick darauf hat sie ihr Klagebegehren insoweit konkretisiert, als sie nunmehr die Erstattung dieser Kosten in einer Gesamthöhe von 126,20 EUR geltend macht.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20.10.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2007 zu verurteilen, ihr einen Betrag in Höhe von 126,20 EUR zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht er sich im Wesentlichen auf die Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid. Ergänzend macht er geltend, wenn es um die krankheitsbedingte Verordnung von Kontrazeptiva gehe, könne der Vertragsarzt eine vertragsärztliche Verordnung ausstellen und damit die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung begründen.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 20.10.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2007 ist rechtswidrig und die Klägerin deswegen beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Beklagte war auf der Grundlage der Vorschrift des § 49 SGB XII, jedenfalls für den hier nur noch streitgegenständlichen Zeitraum ab Antragstellung am 21.09.2006, verpflichtet, die Kosten für die Beschaffung des Verhütungsmittels "Noristerat" zu übernehmen. Die gesetzlichen Voraussetzungen nach dem Wortlaut des § 49 Satz 2 SGB XII liegen vor. Denn danach ist, wie die Klägerbevollmächtigte zu Recht ausgeführt hat, die Kostenübernahme allein von dem Vorliegen einer ärztlichen Verordnung abhängig. Dies ist hier für alle in der Zeit nach dem 21.09.2006 erworbenen Einheiten des Verhütungsmittels der Fall.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 52 Abs. 1 SGB XII (früher § 38 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -), wonach auch die Leistungen gemäß § 49 SGB XII denen der Gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen sollen. (Vgl. Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.03.2004, Az: 2 L 575/04; Lippert in: Mergeler/Zink, SGB XII, § 49 SGB XII Randziffer 20; Ottersbach in: Haufe, SGB XII, § 49 Randziffer 8; a. A.: Bieritz-Harder/Birk in: LPK-SGB XII, 8. Auflage 2008, § 49 Randziffer 4; Hauck/Haines, SGB XII, § 49 Randziffer 9; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 49 Randziffer 6; Schellhorn in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Auflage 2006, § 49 Randziffer 8). Zwar enthält § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nicht mehr wie früher § 38 Abs. 1 Satz 1 BSHG a. F. einen ausdrücklichen Hinweis auf anderslautende Anordnungen. Wenn Gesetzgeber aber eine Einschränkung der bisherigen Leistungen gewollt hätte, hätte er dies durch eine entsprechende Änderung des Wortlauts deutlich gemacht. Dies ist beispielsweise im Rahmen von § 51 SGB XII im Hinblick auf die entsprechende Einschränkung der Vorschrift des § 24b SGB V auch geschehen. Zudem ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 15/1514 S. 62), dass § 49 SGB XII ohne inhaltliche Änderung aus dem alten Recht (§ 36 BSHG) übernommen wurde. Demnach trägt § 49 Satz 2 SGB XII (weiterhin) dem Individualitätsgrundsatz Rechnung, weil er Leistungen der Sozialhilfe für den Fall ermöglicht, dass Empfängnisverhütung nach den Besonderheiten des Einzelfalles zwingend geboten und die Aufbringung der dafür erforderlichen Mittel nicht möglich ist (vgl. Lippert a.a.O.). Vor diesem Hintergrund geht die Kammer davon aus, dass der Gesetzgeber, wenn er entsprechend der Regelung des § 24a Abs. 2 SGB V eine grundsätzliche altersmäßige Beschränkung auf die Vollendung des 20. Lebensjahres für die Versorgung von Personen mit empfängnisverhütenden Mitteln gewollt hätte, dies durch eine entsprechende Anpassung des Gesetzeswortlautes getan hätte. Im Übrigen stellt sich auch die Frage, weswegen der Gesetzgeber sonst überhaupt die Regelungen der Krankenhilfe als Inhalt der Leistungen nach dem SGB XII hat bestehen lassen, wenn sie inhaltlich vollständig deckungsgleich mit den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind. In einem solchen Fall hätte es nahe gelegen, die Vorschriften ganz aus dem Regelungsbestand des SGB XII herauszunehmen und lediglich in § 52 Abs. 1 SGB XII einen entsprechenden Verweis auf bestimmte Vorschriften aus dem Leistungskatalog des SGB V vorzusehen.

Eine Einschränkung der Leistungsverpflichtung des Beklagten ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des § 24a SGB V bzw. dem Grundsatz der Subsidiarität der Leistungen nach dem SGB XII. Denn ein Leistungsanspruch der Klägerin nach dem § 24 a SGB V gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung besteht nicht. Die Beschränkung auf den Personenkreis von Frauen, die das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, greift hier ein, da die Verordnung nicht erfolgte, um Gefahren einer schwerwiegenden gesundheitlichen Schädigung abzuwenden bzw. eine bestimmte Krankheit zu therapieren. Auch wenn eine mögliche Schwangerschaft der Klägerin in der Tat möglicherweise nicht unerhebliche Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand haben würde, steht bei der Verordnung jedoch nicht die Erkrankung der Klägerin im Vordergrund, sondern lediglich der ursprüngliche Zweck des Mittels, nämlich die Empfängnisverhütung. Auch wird das Verhütungsmittel nicht in Ergänzung zu einem anderen therapeutischen Arzneimittel zur Anwendung gebracht (vgl. insoweit Sommer in: Haufe, SGB V, § 24a SGB V Randziffer 10 m.w.N.).

Da der Beklagte insoweit den Antrag der Klägerin zu Unrecht abgelehnt hatte und der Klägerin deswegen Kosten entstanden sind, hat er diese nachträglich zu übernehmen, d.h. der Klägerin zu erstatten (vgl. dazu auch Grube in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, Einl. Rz. 148). Der Höhe nach ist der Betrag ausreichend belegt und zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Der Klage war damit in vollem Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Im Hinblick auf die vorstehend dargestellten unterschiedlichen Rechtsauffassungen und die Tatsache, dass zu der streitentscheidenden Frage - soweit ersichtlich - weder ober- noch höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, hat die Kammer der Sache grundsätzliche Bedeutung zugemessen und daher die Berufung gemäß § 144 Abs. 2 SGG zugelassen. Rechtsmittelbelehrung:
Rechtskraft
Aus
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